BLOCKADE – Tragödie oder Feiertag

BLOCKADE – Tragödie oder Feiertag

Ich hatte es nicht eilig, zu schreiben. Ich wartete ab, bis sich die Debatte um den 75. Jahrestag der Befreiung Leningrads von der Blockade beruhigte. Sie hat sich bereits beruhigt. Aber die Frage blieb ungelöst: Wie müsste man diesen Jahrestag begehen? Als Tragödie oder als Feier?

Ich erinnere daran, dass die militärische Blockade von Leningrad, die von deutschen und finnischen Truppen unter Beteiligung der spanischen Blauen Division, der italienischen Marine sowie von Freiwilligen aus anderen Ländern in Europa und Nordafrika organisiert wurde, vom 8. September 1941 bis zum 18. Januar 1944 dauerte. Also fast 900 Tage. Sie führte zu massenhaftem Hunger, der Hunderttausende von Todesopfern forderte.

Natürlich haben die Organisatoren der Gedenkveranstaltungen wie immer übertrieben. Nein, der Vortrag der Blockadegedichte von Olga Bergholz und Dmitri Schostakowitschs berühmter Symphonie, die im belagerten Leningrad uraufgeführt wurde, waren absolut angemessen. Selbst das festliche Feuerwerk und die Parade von zweitausend Soldaten in Kriegsuniformen verursachten keinen ästhetischen und ethischen Protest. Den größten Protest verursachte das so genannte „Street of Life“-Projekt, bei dem die Autoren versuchten, die damaligen Realitäten nachzuahmen. Ich denke, das war schon zu viel. Weil die Nachahmung des Völkermords an sich schon lästerlich ist. Und Völkermord, der in ein Feierprogramm eingebaut wird, umso mehr.

Aber noch mehr Empörung erregte der Artikel von Silke Bigalke in der Süddeutschen Zeitung. Aus irgendeinem Grund beschloss die deutsche Journalistin, den Russen beizubringen, wie man diesen Tag zu begehen hätte. „Die russischen Behörden“, schrieb sie, „präsentieren die Überlebenden der Belagerung als Helden, die sich tapfer den Deutschen widersetzten… Die Tatsache, dass die Menschen vor Hunger, Klebstoff und Katzen kaum auf den Beinen standen und einige für Kannibalismus bestraft wurden, wurde erst in den 90er Jahren bekannt.“ Leider merkt die junge Journalistin aus Deutschland offenbar nicht, dass Predigten von Journalisten aus dem Land, das die Blockade verhängt hat, unpassend sind. Sie versteht die wahren Gefühle der Leningrader nicht. Außerdem war alles, was damals in Leningrad geschah, immer bekannt. Es wurde von den Überlebenden der Stadt erzählt. Das einzige Wort, das von Silke Bigalke richtig ausgesprochen wird, ist das Wort „Völkermord“.

Aber ich würde gerne über etwas anderes nachdenken. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Blockade von Leningrad, die fast 900 Tage und Nächte dauerte, ein Völkermord an dem sowjetischen Volk war. Die Kontroverse ist eine andere: Ist der 27. Januar ein Tag der Tragödie oder ein Tag der Feier?

Während des jüdischen  Passa-Festes habe ich noch nie runzelnde, tragische Gesichter gesehen. Nun, warum ist das so? Es wäre eine Tragödie für die Juden gewesen, in Ägypten zu bleiben. Aber schon während des Exodus aus Ägypten starben eine große Anzahl von Menschen. Doch jeder denkt, dass es ein Feiertag ist. Ein Fest der Befreiung. Das christliche Osterfest ist auch ein Feiertag. Warum? Gab es doch vor der Auferstehung Folter und Hinrichtung. Aber es ist auch eine Feier. Es ist ein Tag der Freude. Alles, was während der Blockade in Leningrad geschah, war eine Tragödie. Aber die Aufhebung der Blockade ist ein Fest. Erlösungstag, Befreiungstag. Sind Leningrader Opfer oder Helden? Ich sage: Sowohl Opfer als auch Helden. Es ist eine Tatsache, dass Tragödien und Feiertage in unserem Leben so miteinander verflochten sind, dass es für die Nachkommen schwer zu verstehen ist, welchen Tag sie feiern.

Leider ist unsere wahnsinnige Welt so aufgebaut, dass sie von Zeit zu Zeit Katastrophen verursachen muss. Und es ist der Weg, den die Menschheit geht, der bewertet werden sollte, nicht die Art und Weise, wie Nationen Gedenktage feiern.

Efim Bershin

Übersetzung: Kai Ehlers

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COMMENTS

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    Horst Beger 5 Jahren

    Mit dem Hinweis auf päpstliche Autorität offenbart Herr Werner den Hintergrund seiner jesuitistischen Argumentationen.

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    Für den ungeheuerlichen Artikel von Silke Bigalke und das Fehlen jeglichen Anstandsgefühls der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, einen derartig unreife Unverschämtheit abzudrucken, kann ich als Deutsche nur bei den Bürgern der Stadt Leningrad und bei allen Russen, die in kriegstraumatisierten Familien aufgewachsen sind, um Entschuldigung bitten.

    Leider lässt sich die Frage eines würdigen Begehens um das Ende des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs, in Russland wie im Rest Europas, kaum noch ungefiltert von der gegenwärtigen geopolitisch ageheizten Situation begehen – und die Gründe dafür sind tief mit der fehlenden gemeinsamen europäischen Aufarbeitung dieser schrecklichen Vergangenheit verwoben. Das, was schief gegangen ist, liegt viel weiter zurück als die Zuspitzung des Konflikts um die Ukraine ab 2014.

    Und eine Hauptverantwortung für diese Entwicklung liegt in den westdeutschen Eliten, deren „Geschichtsbewältigung“ offensichtlich nicht zu der freien Anerkennung einer moralischen Schuld des nazistischen Deutschlands dahingehend heranreifte, dass sie erkannt hätten, dass die Hybris der Erhebung der eigenen Nation zu einer Instanz, die sich anmaßen dürfe, über Leben und Tod anderer Menschen zu entscheiden, bestanden hätte, sondern dass die nationalsozialistische Usurpation unter einem falschen Label, einem völkisch-nationalistischen stattgefunden hätte. Ihre „Geschichtsbewältigung“ bestand lediglich in der Selbstunterwerfung unter einem neuen US-geführten Hegemonialanspruch, dem sie meinten, als Musterschüler des US-Imperialismus, nun auch Russland zuführen zu müssen. Selbst darin wurden sie jedoch von den USA zurückgehalten, die ein um die russische Föderation erweitertes Europa für unkomensurable hielten und ihre Hegemonie über Europa dadurch gefährdet sahen.

    Für die tiefenpsychologische Einschätzung des Selbstverständnisses westdeutscher Eliten nach 1989 ist der folgende Text eines ostdeutschen Pensionärs äußerst aufschlussreich:

    Er trägt den Titel „Einige Gedanken zur gegenwärtigen Mediendarstellung und öffentlichen Wahrnehmung der Entwicklung in Russland“ und stammt aus dem Jahr 2001. Der ehemalige NVA-Offizier Frank Preiß schreibt auf den Seiten der Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheits e.V. (DSS):

    „Es sind nun zehn Jahre vergangen, seit die UdSSR aufgehört hat zu bestehen. Mit ihr ging ein Staat unter, der in gravierender Weise die politische Landschaft des vergangenen Jahrhunderts prägte.

    Selbst diejenigen Sozialwissenschaftler, die sich in erster Linie mit der Sowjetunion beschäftigten, waren von der Dynamik und Tiefe der vor sich gehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen überrascht, ganz zu schweigen von den Politikern oder den zahllosen westlichen Geheimdiensten, die enorme Mittel aufgewendet hatten, um ein genaues Bild vom vermeintlichen oder tatsächlichen Gegner zu erhalten.

    Dabei war spätestens seit der Politik der Glasnost und Perestroika in den achtziger Jahren augenscheinlich geworden, dass das sowjetische Modell des Sozialismus vor tiefgreifenden Veränderungen stand.

    Das implosionsartige Ende der UdSSR zeigte aber, dass die politisch handelnden Akteure im Lande selbst mit ihrer Strategie der „Heilung von Symptomen“ keine den aktuellen Herausforderungen und dem Zustand der Gesellschaft entsprechenden Antworten fanden und vielleicht auch nicht finden konnten, da „gesteuerte Großprojekte immer Risiken und Brüche beinhalten und die ursprüngliche Intention der Akteure sich meist nicht oder nur partiell realisieren.“1

    So setzte ein Vorgang ein, der wohl treffend als postsozialistische Transformation bezeichnet wird und den man sich im Westen in Bezug auf Russland vornehmlich und alternativlos als Transformation vom zentralplanwirtschaftlichen Staatssozialismus zur marktwirtschaftlichen kapitalistischen Demokratie denkt und wünscht — ein Vorgang, der bisher keine historischen Analogien kennt, der in allen postsozialistischen europäischen Staaten abläuft, jedoch in seinem konkreten Verlauf und in seinen Inhalten neben Gemeinsamkeiten von Land zu Land auch starke Differenzen aufweist.

    Dieser Wandlungsprozess hat Russland in den letzten Jahren gravierend verändert. Die Wahrnehmung dieser Veränderungen in Deutschland ist jedoch aus meiner Sicht in zweierlei Hinsicht verstellt:

    Erstens existiert eine „objektive Verstellung“, die aus dem Gegenstand der Betrachtung resultiert.

    Hier ist auf die Größe des Landes, die Vielzahl wirtschaftlich, sozial-kulturell, national und religiös unterschiedlich geprägter Regionen zu verweisen, die nunmehr entweder Teil der russischen Föderation oder einer der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind und sich wechselseitig stark beeinflussen. Es ist in der Praxis äußerst schwierig, wesentliche, die weitere Entwicklung wirklich bestimmende Vorgänge zu erfassen, zu untersuchen und zu verallgemeinern.

    Weiterhin erweist sich die historisch traditionelle „Westorientierung“ deutscher Politik, Wirtschaft und Wissenschaft als Hindernis bei einer unvoreingenommenen Analyse der in Russland vor sich gehenden Prozesse. Das in der DDR vorhandene und durchaus nutzbare Potential von Sach- und nicht zuletzt auch Sprachkundigen wurde und wird im Zuge des Austausches der Funktionseliten der DDR nach 1990 nicht oder nur unzureichend genutzt.

    Letztendlich war die Situation in der Russischen Föderation selbst, in einer „Dekade konfuser Reformpolitik unter Boris Jelzin, die teilweise von Zusammenbruch und Anarchie gekennzeichnet war“ 2, in der die Opposition vom Präsidenten 1993 mit Panzern bekämpft wurde, ein äußerst fragiles Fundament für gegenseitiges Kennen- und Verstehen lernen.

    Ob mit dem Wechsel des Präsidenten nunmehr nachhaltig bessere Bedingungen entstehen werden, ist schwer abzuschätzen und wird sich in der Praxis zeigen. Den Tendenzen der weiteren Demokratisierung und Öffnung stehen durchaus auch Versuche gegenüber, zumindest teilweise zu einer geschlossenen Gesellschaft zurückzukehren.3
    Zweitens gibt es m.E. auch eine „subjektive Verstellung“, die sich aus der Art der Betrachtung des Gegenstandes ergibt.

    Hier scheint mir das in der Bundesrepublik vorherrschende Russlandbild wichtig, das offensichtlich in wesentlichen Zügen nicht nur immer noch vom Kalten Krieg geprägt ist, sondern teilweise auch bis auf die Zeit der Hitlerdiktatur zurückgeht. Es ist zu hinterfragen, ob nicht auch unbewältigte nationale Komplexe wirken. Der aufmerksame Beobachter kann sich jedenfalls manchmal des Eindruckes nicht erwehren, dass der Untergang der UdSSR als späte Genugtuung für die Niederlage Deutschlands in 2. Weltkrieg empfunden wird. Auf die hier von mir vermuteten Unterschiede zwischen den „neuen“ und „alten“ Bundesländern soll nicht näher eingegangen werden. Untersuchenswert ist aber, ob es besonders gravierende antirussische, respektive antislawische Intentionen in der deutschen Bevölkerung gibt und, wenn ja, wodurch sie erzeugt und reproduziert werden.

    Medien sollten vor allem auch als Vermittler von Kenntnissen fungieren. In zunehmendem Maße steht aber nicht mehr dieser objektive Informationsauftrag im Mittelpunkt, sondern die kommerzielle Verwertbarkeit, ausgedrückt durch Auflagen, Einschaltquoten etc. Hinzu kommt eine offensichtliche Inkompetenz in Fachfragen und speziellen Sachgebieten. Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass die vorhandenen Defizite lediglich auf handwerklichen Fehlgriffen beruhen und auf Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit zurückzuführen sind. Beschäftigt man sich mit der Sprache der modernen Massenmedien, so wird deutlich, dass irreführende Darstellungen keineswegs zufällig sind. 4

    Politik, Medien und Wissenschaft haben und bedienen immer auch einen gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Auftrag. Die Bundesrepublik ist Teil einer spezifischen Macht -und Interessenstruktur. „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika, noch für die europäischen Nationen.“ 5

    Die oftmals beschworene neue Sicherheitsarchitektur nach Ende des kalten Krieges ist (noch?) nicht entstanden. Das Denken und Handeln in den Kategorien der militärischen Gewalt bestimmen über weite Strecken nach wie vor den politischen Alltag.

    Neue Ansätze oder auch nur der Versuch, herkömmliche Lösungswege in Frage zu stellen, werden oftmals nicht nur abgelehnt, sondern als Angriff auf die einzig mögliche, vernünftige und machbare Ordnungsstruktur bekämpft. Dabei wird oft mit allgemeinen Begriffen wie Verteidigung von Freiheit, Recht und Demokratie operiert, ohne diese inhaltlich genau zu bestimmen. Die dahinterstehenden partiellen Interessen und ihre Protagonisten bleiben unscharf.

    Die weitere Entwicklung der Russischen Föderation und die Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, einen eigenständigen Beitrag zur Ausgestaltung der Beziehungen zu Russland zu leisten, wird die politische Landschaft Europas in den kommenden Jahren wesentlich prägen. Die dabei zu überwindenden Vorurteile, Vorbehalte und Schwierigkeiten sind allerdings auf beiden Seiten nicht gering. 6
    Wenn es jedoch gelänge, nach den tragischen Ereignissen in der Geschichte der Beziehungen von Deutschen und Russen zu einer historischen Aussöhnung und einer Neubestimmung der gemeinsamen Zukunft zu gelangen, dann rechtfertigte dies alle Mühen und Anstrengungen, die vor beiden Seiten stehen.

    FP, im März 2001

    1   R. Reißig, Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft, K. Dietz Verlag Berlin 2000, S. 23.
    2   „GUS-Barometer“ der Körber-Arbeitsstelle, Nr. 26 – März 2001 (www.dgap.org).
    3   Siehe hierzu: „Jelzin hätte die Doktrin über Informationssicherheit niemals unterschrieben“, Interview mit S. N. Juschenkow (Stellvertreter des Vorsitzenden der Duma-Kommission für Sicherheit) mit dem Radiosender „Echo Moskaus“ v. 24.09.2000 (www.duma-sps.ru/article/327683.html).
    4   Siehe E. Woit, Irritierende Begriffe als Denkblockaden auf dem Wege zu einer globalen Friedensordnung, in: DSS-Arbeitspapiere Heft 57-2001, Dresden, S.4-15.
    5   Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer Verlag, 3. Auflage, Frankfurt am Main 2000, S. 92.
    6   Siehe hierzu: Abdul-Wached Nijasow, Eurasischer Konterglobalismus – die Zukunft Russlands. Dem Diktat der Atlantischen Union kann man nur mit adäquaten Mitteln begegnen, in: Nesawisimaja Gaseta, Moskau, Nr.19 (2329) v. 03.02.2001 (www.ng.ru).

    http://www.sicherheitspolitik-dss.de/autoren/preisz/fp103300.htm

    Es ist leider zu konstatieren, dass sich in den westlichen Funktionseliten das strukturell in den unter US-Bestatzung geschaffenen Institutionen ein Geschichtsverständnis geschaffen hat, das nicht nur in der Unterordnung unter den globalen Hegemonieanspruch der USA die „Lösung“ für die „deutsche Frage“gefunden zu haben glaubt, sondern das in dieses Verständnis nahtlos einen unverändert pejorativen Blick auf das deutsch-russische Verhältnis integriert hat. In diesem Selbst- und Russlandbild wird die freiwillige Selbstdemütigung durch den US-Hegemon euphorisch erhöht – und wird kollektivpsychologisch dadurch kompensiert, dass die Demütigung durch den berchtigten sowjetischen Sieg in einem Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Bevölkerung durch eine entscheidende deutsche Rolle bei der Unterwerfung Russlands unter ebendieselbe Hegemonialkonstruktion in einen Triumph umgebogen werden soll.

    Demnach bestand der „Fehler“ der Deutschen nicht in der mörderischen Selbsterhebung über Slawen und darunter vor allem gegen sowjetische Menschen, sondern nur in dem Glauben an das falsche System. Diesen hat der Sieg der USA „korrigiert“. Die Russen aber hätten ihrerseits im „falschen System“ gesteckt, seien somit nicht besser gewesen als die Deutschen – nur dass sie diesen, anders als die Musterschüler der Gschichtsbewältigung in der Bundesrepublik, noch nicht korrigiert hätten. Da dies aber die Deutschen als ‚geduldige Oberlehrer‘ ihnen in den fast drei Jahrzehnten nicht hätten austreiben können, müssten sie nun – leider=leider – hinter den USA bewaffnet Stellung einnehmen, die dies wieder einmal nur mit der Keule korrigieren könnten.

    In Wirklichkeit haben unsere Funktionsdarsteller in Berlin GAR NICHTS über die Katastrophe des Nazismus begriffen. Sie haben nicht begriffen, dass das entscheidend verbrecherische des Nazismus nicht in dem zweifellos auch existierenden geopolitischen Konflikt mit Westmächten, sondern in der mörderischen Anmaßung gegenüber allen Osteuropäern, vor allem aber den Russen bestand. In ihrer Sicht Russlands lebt ungebrochen das Bild der zurückgebliebenen Russen fort, die sich unterwürfig und zurückgeblieben unter der Knute stumpfe despotischer Macht ducken und sich von ihr jederzeit in tumbe Gewalttäter umformen lassen.

    Das Bild des „russischen Untermenschen“ ist lediglich opportun in ein neues identitär-libertäres Design überführt worden, ohne dass die entscheidende Lektion, die in Artikel 1 des Grundgesetzes ausgedrückt wird, verinnerlicht wäre: „Die Würde des Menschen (damit auch der Russen) ist unantastbar.“

    Der deutsche Untertan ist in der deutschen politischen Klasse nie ausgestorben Er hat leider nur sein Kostüm gewechselt.

    Dies zeigt der Artikel von Silke Bigalke, der in seiner Phraseologie und ideologischen Grundstruktur nur zwahllosen weiteren Beiträgen bis zur Ununterscheidbarkeit gleicht.

    Die deutsche Bevölkerung ist hierfür zu genau jenen Teilen, die zum Glück eine leider nur stille (weil medial zurechtgeknüppelte) Mehrheit ausmacht, zu entschuldigen, welche sich von unserer Regierung nicht mehr vertreten fühlt. (ergo: die 56% die anders und die 20% die gar nicht mehr wählen.)

    Liebe Russen – vergesst die Deutschen, bis sie jener transatlantischen Konstruktion ledig geworden sind, die keinen Frieden will, weil sie nicht bereit ist, die Bürger Russlands in ihrer Menschenwürde anzuerkennen – unter welcher Regierung auch immer.  

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      Frank Werner 5 Jahren

      Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb der differenzierte Artikel von Frau Silke Bigalke bei Ihnen zu Hyperventilation führt. Man kann auf unterschiedliche Art und Weise gedenken – Panzer gehören nicht zwingend dazu.

      Mit Recht weist Frau Bigalke darauf hin, dass die Blockade Leningrads und deren Opfer in Deutschland zu wenig im Bewusstsein der Gesellschaft verankert und der Umfang der Verbrechen in der Gesellschaft nicht ausreichend reflektiert werden.

      Ein Hinweis auf einen offensichtlichen Widerspruch ist sicher angebracht. Gerade die Organisationen und deren Politiker aus Deutschland werden vom Kreml hofiert und unterstützt, welche dass alles als „Fliegenschiss“ bezeichnen, ebenso wie FPÖ oder die Front National, welche rechten revanchistischen Ideologien anhängen. Wo bleibt da ihre Empörung?

      Ihr Blick auf das transatlantische Bündnis und dessen Geschichte ist von ihrem reinen Antiamerikanismus stark getrübt. Sie streben wohl eher nach einem Westeuropa als Protektorat Russlands, wie es sich der Kremlideologe Alexander Dugin mit seiner neofaschistischen Ideologie erträumt.

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        Es entspricht den zahlreichen geschichtsrevisionistischen Kommentaren des obigen Foristen („Frank Werner“), so zu tun, als ob der an Unreife, mangelnder Geschichtskenntnisse und spätpubertärer Dreistigkeit kaum zu überbietende und in Russland wie Deutschland scharf kritisierte Artikels Silke Bigalkes als angemessen und ausgewogen darzustellen, obwohl er deutlich rassistische Züge aufweist.

        Es genügt eine einfache Probe, um nachzuweisen, dass Leute wie Frank Werner auf der Grundlage rassistischer Stereotype argumentieren: Für einen jeden Menschen, der auf der Basis von Artikel 1 des Grundgesetzes ruht, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Würde des Menschen unantastbar ist – und dies in jeder Weise für jeden Menschen gilt. Als Gedankenspiel stelle man sich einen dem Artikel Bigalkes entsprechenden Text über Israel vor, indem das nationale Begehen des Holocausttags von einem Nachfahren des Täterkollektivs in ähnlich usurpatorischer und näselnd-oberlehrerhafter Weise abgekanzelt wird: Die Bigalkes und Werners dieser Welt würden prompt die verletzte „Würde des Menschen“ verletzen und laut „Nagelt sie fest, die Antisemiten!“ schreien. Denn dass der Judenhass und die Verbreitung rassistischer Stereotype über Juden sich nicht gehört, dass haben ihnen ihre US-amerikanischen Meister gut eingeprügelt. Denn ein durchaus nicht mit Empathie mit dem Leiden jüdischer Nazismusopfer, sehr wohl aber um die Anerkennung des US-Hegemons heischender Anti-Antisemitismus ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, ganz der gleichfalls widerwärtig opportunen Begründung Konrad Adenauers für das selektive Erinnerungsvermögen gegenüber der jüdischen Teilmenge des Nazi-Vernichtungskriegs in dem treuherzig verlautbarten Statement: „In den USA gibt es 200 einflussreiche Familien. Mit denen müssen wir uns gut stellen.“ Tja – und die fanden den deutschen Judenhass despektierlich.

        Eine obsessive Ignoranz gegenüber dem Leid slawischer, vor allem aber russischer Opfer störte die US-amerikanischen Kalten Krieger jedoch nicht. Und deshalb stört es Leute wie Frank Werner auch wenig, so offen geschichtsrevisionistisch daherzukommen, dass es an einen Verstoß gegen § 130 StGB (3) und (4), nämlich der Verhöhnung von Nazi-Opfern und der Verharmlosung des Mordes an ihnen heranreicht.

        Dass Frank Werner in seinem Russlandhass selbst vor einer blanken Lüge nicht zurückschreckt, zeigen seine weiteren Ausführungen: Es ist schon an Dreistigkeit nicht zu überbieten, den seit seiner Entlassung als Professor aus dem Universitätsdienst in Moskau völlig marginalisierten Alexander Dugin, über den in Regierungskreisen geäußert wird, er sei nur in einer sich auf Comic-Niveau bewegenden Universitätslandschaft tragbar, nicht aber an einer, der es ernsthaft um Wissenschaft gehe, als Chefideologe des Kremls bezeichnet wird. Hier wird zum Zweck der Dämonisierung eines Volkes glatt gelogen. Wenn aber ein Deutscher zu einer solchen auf Lügen beruhenden Dämonisierung in einem historischen Kontext ausholt, indem es um das von Deutschen begangene Verbechen des Völkermords an zivilen Russen, nämlich einer Millionen Bewohner der Stadt Leningrad geht, dann bewegt er sich moralisch auf einer Ebene mit Holocaustleugnern.

        Sich dieses Rassismus im Stillen bewusst seiend, setzt dann dieser moralisch verkommene Forist noch einen drauf: Selbst als sich moralisch erhebender „Herrenmensch“ über diese vermeintlich in ‚rückständigem‘ Militarismus sich befangene ‚russiche Untermenschen‘ erhebend, kehrt er völlig aus der Luft gegriffen den Vorwurf um und versucht mit dem Propagandabegriff des „Antiamerkanismus“, der an sich schon so tut, als sei eine Kritik an der Politik der Vereinigten Staaten eine rassistische Äußerung über US-Amerikaner, das eigene Denkmuster auf Jefim Bershin zu übertragen. Offensichtlich nicht wissend, dass dieser Autor aus Transnistrien stammt, also noch nicht einmal Russe ist, wird ihm hier „Antiamerkanismus“ vorgeworfen – dabei kommen in seinem Aritkel die USA noch nicht einmal vor!

        Ich frage mich, ob es sich bei gewissen Gestalten in deutschen Foren, die besessen zu Russland betreffenden Themen ihren Senf gegen müssen, obgleich sie ganz offensichtlich weder irgendetwas über das Land wissen und das Gegenteil von Vertretern der Völkerverständigung sind, überhaupt um reale Biographien handelt – oder vielmehr um professionelle Kräfte, die den Anschein erwecken sollen, als hätte das organisierte Narrativ der 24 Nato-Exzellenzzentren und der beiden East-Stratcom-Taskforces, mit deren Newslettern täglich Chefredaktionen aller deutschen Zeitungen bedacht werden, um darauf eingestimmt zu werden, welche Sichtweise auf die Politik im Sinne der Nato sei (vgl. die Publikationen der JAPCC-Homepage der letzten drei Jahre), irgendeien nennenswerten Rückhalt in der deutschen Bevölkerung.

        Es sind solche Foristen wie Frank Werner, die beweisen, dass das moralische Fundament der Bundesrepublik von vor 1989 einem auf Krieg und Hegemonialpolitik eingeschworenen Propagandakurs gewichen ist, der mit der Rechtsbasis des Grundgesetzes nicht vereinbar ist.

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          Frank Werner 5 Jahren

          Liebe Frau Böttcher,

          Chapeau! Hilde Benjamin hätte Tatsachen nicht besser verdrehen und daraus eine nicht auf Recht, sondern kruder Ideologie und Fantasie basierende Anklageschrift verfassen können.

          Ihre hanebüchenen Anschuldigungen (die mein Beitrag nicht im Mindesten hergibt) werden auch nicht durch häufiges zitieren des Grundgesetzes wahrer, sondern zeugen nur von einem wirren bzw. fehlenden Geschichts-, Rechts- und Demokratieverständnis ihrerseits.

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            Horst Beger 5 Jahren

            Diejenigen, die Hilde Benjamin beklagen sind die gleichen, deren geistige Väter 1933 Hitler an die Macht gebracht und eine Hilde Benjamin erst möglich gemacht haben.

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            Das ist die Gesinnung, die ein Nachkomme der Völkermörder, der sich mit Bigalke erdreistet, den Opfern des Völkermordes vorzuschreiben, wie sie ihrer Toten gedenken dürfen, in volksverhetzender Weise verharmlost, indem er die Schuld der Mörder freudianisch auf die Opfer schiebt:

            Adolf Hitler im Führerbunker, 1941:

            „Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen, damit unsere Söhne und Enkel es noch schwerer haben mit ihnen. Wenn mir einer kommt und sagt: „Ich kann mit den Kindern oder den Frauen den Panzergraben nicht bauen. Das ist unmenschlich, denn dann sterben sie daran“, – dann muß ich sagen: „Du bist ein Mörder an Deinem eigenen Blut, denn, wenn der Panzergraben nicht gebaut wird, dann sterben deutsche Soldaten, und das sind Söhne deutscher Mütter. Das ist unser Blut.“ Das ist das, was ich dieser SS einimpfen möchte und – wie ich glaube – eingeimpft habe, als eines der heiligsten Gesetze der Zukunft: Unsere Sorge, unsere Pflicht, ist unser Volk und unser Blut; Dafür haben wir zu sorgen und zu denken, zu arbeiten und zu kämpfen, und für nichts anderes. Alles andere kann uns gleichgültig sein. Ich wünsche, daß die SS mit dieser Einstellung dem Problem aller fremden, nicht germanischen Völker gegenübertritt, vor allem den Russen. Alles andere ist Seifenschaum, ist Betrug an unserem eigenen Volk und ist ein Hemmnis zu einer früheren Gewinnung des Krieges.“

            „Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden; er macht Europa zum blockadefestesten Ort der Welt. Es sind das wirtschaftliche Perspektiven, die den liberalsten westlichen Demokraten der neuen Ordnung geneigt machen werden. Jetzt müssen wir es durchbeißen. Das übrige ist eine Frage der Organisation.
            Man braucht diese Urwelt lediglich zu sehen und weiß, daß hier nichts geschieht, wenn man den Menschen die Arbeit nicht zumißt. Der Slawe ist eine geborene Sklaven-Masse, die nach dem Herrn schreit; es fragt sich nur, wer der Herr ist.“

            „Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren. Es wäre verfehlt, den Eingeborenen erziehen zu wollen. Was wir erreichen würden, ist ein Halbwissen, das zur Revolution führt. Es ist kein Zufall, daß der Erfinder des Anarchismus ein Russe war.
            Wäre die russische Menschheit nicht durch andere, angefangen von den Warägern, zum Staat organisiert worden, so wären sie Kaninchen geblieben. Man kann Kaninchen nicht zum Leben der Bienen oder Ameisen erziehen. Diese haben die Fähigkeit, Staaten zu bilden, Hasen haben sie nicht. Sich selbst überlassen, würde der Slawe nie über den engsten Familienkreis hinausgekommen sein.
            Die slawischen Völker sind zu einem eigenen Leben nicht bestimmt. Das wissen sie, und wir dürfen ihnen nicht einreden, sie könnten das auch. … Wir bringen ihnen das Lesen besser nicht bei. Sie lieben uns gar nicht, wenn wir sie mit Schulen quälen.“

            „Dagegen ist der Angriffsgeist, mit dem der Russe vorwärts geht, für uns nichts Neues; das war im Weltkrieg nicht anders als heute; es erklärt sich aus ihrer Stupidität.“

            „Die Eingeborenen? Wir werden dazu übergehen, sie zu sieben. Den destruktiven Juden setzen wir ganz hinaus. Der Eindruck, den ich im weißrussischen Gebiet hatte, war besser als der in der Ukraine. In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben.
            Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse zu machen. Wir leben uns nicht in die Rolle des Kindermädchens hinein, wir haben überhaupt keine Verpflichtung den Leuten gegenüber. Das Wohnhaus reformieren, die Läuse fangen, deutsche Lehrer, Zeitungen? Nein] Lieber richten wir einen Rundfunk ein, der von uns abhängig ist, und im übrigen sollen sie nur die Verkehrszeichen kennen, damit sie uns nicht in die Wagen laufen]

            Unter Freiheit verstehen diese Leute, daß sie sich nur alle Festtage zu waschen brauchen. Wenn wir mit der Schmierseife kommen, erben wir keine Sympathien. Man muß da ganz umlernen. Es gibt nur eine Aufgabe: eine Germanisierung durch Hereinnahme der Deutschen vorzunehmen und die Ureinwohner als Indianer zu betrachten.“

            Und das ist, was verhöhnte Opfer erlitten haben:

            Daniil Granin im deutschen Bundestag:

            „Die Stadt konnte nicht mehr versorgt werden. Nach und nach brach alles zusammen: Wasser, Kanalisation, Verkehr, auch die Straßenbahn, Licht und Heizung. Die Frontlinie rückte unmittelbar bis an die Stadt heran. Zu den Schützengräben konnte man mit der Straßenbahn fahren, von der Hauptkampflinie bis zum Armeestab war es nur ein Fußweg. Der Winter stand vor der Tür, zu allem Unglück ein furchtbar eisiger mit Frösten unter 30 bis 35 Grad. Schritt um Schritt setzten alle Systeme aus, die die Großstadt Leningrad zum Leben brauchte. Sie wurde jeden Tag gnadenlos bombardiert und mit Artilleriefeuer eingedeckt. Die Geschosse flogen über unseren Köpfen hinweg. Wir hörten nicht nur die Detonationen, sondern spürten auch, wie der Boden erzitterte. Häuser brannten lichterloh. Sie konnten nicht gelöscht werden, weil die Wasserleitungen nicht mehr funktionierten, und so brannten sie tagelang. Ende November – Anfang Dezember hatte es die Straßen und Plätze zugeschneit. Es gab nur wenige Durchfahrten für Militärfahrzeuge. Die Denkmäler waren in Sandsäcke gepackt, die Schaufenster der Geschäfte vernagelt. Vor den Bäckereien und anderen Läden bildeten sich schon nachts riesige Schlangen. Nur die Rüstungsfabriken und Armeebäckereien waren in Betrieb. Und es gab Tage, an denen sogar die Großbäckereien stillstanden.

            Nachts gab es kein Licht auf den Straßen. Patrouillen und Passanten waren mit Leuchtzeichen unterwegs. „Glühwürmchen“ nannte man sie… Die Menschen wurden vor Hunger immer schwächer, aber sie machten weiter, produzierten Munition und Minen und setzten Panzer instand.

            Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbaren Hunger leidet. Sie wussten es durch ihre Aufklärung und von Überläufern. Der Feind hätte einmarschieren können, aber er wusste, dass die Stadt und die Soldaten buchstäblich bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werden.

            Hitler sagte ständig, dass seine Truppen nicht in die Stadt vorrücken dürfen, weil die Straßenkämpfe zu verlustreich gewesen wären. Man meinte, dass die Leningrader bei dieser Ernährung nicht lange durchhalten und sich dann schon ergeben werden. Und sollte sie der Hunger dazu nicht zwingen, umso besser, dann verrecken sie und müssen nicht mehr durchgefüttert werden.

            Von Leebs 18. Armee vereitelte alle Versuche, die Blockade zu durchbrechen. Im Grunde warteten die deutschen Truppen in aller Ruhe und ohne besondere Anstrengungen darauf, dass der Hunger die Menschen in Leningrad in die Knie zwingt. Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff. Die Deutschen hatten das wichtigste Lebensmittellager der Stadt, die Badajewskije sklady, und damit alle Vorräte vernichtet.

            Die Generale vergaßen ihre Soldatenehre und gingen dazu über, die Großstadt Leningrad auszuhungern. Es war die Leningrader Front, wo der Krieg zu einem Krieg gegen die Einwohner einer Stadt wurde, indem man anstelle von Soldaten den Hunger einmarschieren ließ.

            Schon im Oktober begann die Sterblichkeit durch Dystrophie zu wachsen. Im Oktober starben sechstausend, im November zehntausend und in den ersten fünfundzwanzig Tages des Dezember vierzigtausend Menschen. Im Februar verhungerten täglich etwa dreieinhalbtausend. In den Tagebüchern jener Zeit finden sich Einträge wie „Herrgott, lass uns durchhalten, bis es wieder Gras gibt“. Eher zu niedrig angesetzten Berechnungen zufolge hat die Blockade über eine Million Opfer gefordert. Marschall Schukow spricht von 1.200.000 Hungertoten. Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill, tagein und tagaus, Monat um Monat alle 900 Tage lang. Wie wollte man dem Hunger entgehen? Er griff sich seine Opfer in den Häusern, auf der Arbeit, in den eigenen vier Wänden der Menschen inmitten von Töpfen, Pfannen und Möbelstücken. Unvorstellbares diente als Nahrung. Man kratzte den Leim von den Tapeten und kochte Ledergürtel. Die Chemiker in den Instituten destillierten Firnis. Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalismus…

            Viel später dann, 35 Jahre nach dem Krieg, hatten der belarussische Schriftsteller Adamowitsch und ich die Idee, ein Buch zu schreiben, ein Buch mit den Geschichten von Menschen, die die Blockade überlebt haben. Man hat uns auch Grausames offenbart.

            Ein Kind stirbt, gerade mal drei Jahre alt. Die Mutter legt den Leichnam in das Doppelfenster und schneidet jeden Tag ein Stückchen von ihm ab, um ihr zweites Kind, eine Tochter, zu ernähren. Und sie hat sie durchgebracht. Ich habe mit dieser Mutter und ihrer Tochter gesprochen. Die Tochter kannte die Einzelheiten nicht. Aber die Mutter wusste alles. Sie hat sich selbst gezwungen, nicht zu sterben und nicht wahnsinnig zu werden, weil sie ihre Tochter retten musste. Und gerettet hat.

            Wie sah das Leben eines Blokadnik aus?

            Woher sollte man Wasser nehmen? Die Menschen gingen an die Newa, an die Kanäle, hackten Löcher in das tiefe Eis und holten das Wasser mit Eimern heraus. Wo es bis zu den Flüssen und Kanälen weit war, sammelten die Menschen Schnee und tauten ihn auf. Aber womit und wie? Mit Kanonenöfen, die auf den Märkten ein Vermögen kosteten. Und wenn man schon einen bekommen hatte, dann kam das nächste Problem. Womit sollte man ihn denn beheizen? Also brach man das Parkett heraus, zerhackte Möbel und nahm Holzbauten auseinander.

            In den Häusern war es immer dunkel. Die Fenster waren verhängt, um die Wärme nicht entweichen zu lassen. Als Lichtquelle dienten Konservendosen mit Docht und Öl, Maschinenöl oder Öl aus dem nächsten Transformatorenhäuschen. Petroleum gab es nicht mehr. Und diese kleine, rußende Flamme war alles, was man an Licht hatte…

            Schwarzmärkte entstanden, wo man sich ein Stück Zucker, eine Büchse Konserven oder einen Beutel Graupen besorgen konnte. Indem man dafür einen Pelzmantel, Filzstiefel oder Silberbesteck gab. Die Menschen suchten alles von Wert zusammen, was sie hatten, und trugen es – zu Markte.

            Auf den Straßen und in den Hauseingängen lagen Leichen, eingehüllt in Bettlaken. Die Lebenden hatten keine Kraft, sie zu begraben, sie trugen sie nur die Treppe hinab oder brachten sie mit Schlitten zu den Friedhöfen, wo man sie nicht beerdigte, sondern einfach nur liegen ließ.

            Als das Eis auf dem Ladogasee fest genug war, errichtete man die „Straße des Lebens“ zu dem anderen, nicht besetzten Ufer, der so genannten Bolschaja semlja. Der Verkehr kam in Gang, die Evakuierung begann, es kamen Lebensmittel, man brachte Frauen, Kinder und Verwundete aus der Stadt. Die Deutschen beschossen die Straße gnadenlos. Die Geschosse brachen das Eis auf. Fahrzeuge und Menschen gingen unter. Die Straße war Tag und Nacht in Betrieb, sie war die einzige Möglichkeit für die Evakuierung.

            In der Stadt haben die Menschen viel selbst gemacht. Wenn jemand noch die Kraft dazu hatte, so hackte er Stufen ins Eis, damit man an das Wasser kam. In den Stadtbezirken organisierte man die Ausgabe von heißem Wasser. Oft genug rettete eine Tasse heißes Wasser Menschenleben. Jugendbrigaden halfen dabei, entkräftete Menschen in die Krankenhäuser zu bringen, wo sie nicht viel, aber wenigstens etwas zu essen bekamen.

            Die Menschen versuchten, einander zu helfen. Es kam vor, dass jemand auf der Straße stehenblieb, sich an eine Wand lehnte und zusammenbrach. Und manchmal fand sich ein anderer Passant, der ihm aufhalf und ihn zur nächsten Stelle brachte, wo es heißes Wasser gab.

            Solange das Eis hielt, konnten 376.000 Menschen evakuiert werden.

            Mehrmals musste ich in die Stadt zum Stab, und ich sah diese Szenen und begriff, wer einer der Blockadehelden ist – dieser „JEMAND“, der „NAMENLOSE PASSANT“, der einen Menschen rettete, der gestrauchelt war oder kurz vor dem Erfrieren stand. Das Mitgefühl der Menschen verschwand nicht etwa, sondern wurde wiedergeboren. Das Einzige, was man dem Hunger und der Unmenschlichkeit des Faschismus entgegenstellen konnte, war der spirituelle Widerstand der Einwohner der einzigen Stadt im Zweiten Weltkrieg, die nicht aufgegeben hat.

            Im Mai 1942 mussten wir helfen, Leichen zu den Gräben zu bringen, die auf den Friedhöfen ausgehoben worden waren. Neben den Friedhöfen lagen ganze Berge von Leichen, die man den Winter über dort hingebracht hatte. Ich erinnere mich, wie wir sie auf die Lastwagen warfen – wie Brennholz, so leicht und ausgedörrt waren sie. Jemand – ich glaube, unser Regimentsarzt – sagte: „Sie haben sich selbst aufgezehrt“. Wir beluden LKW um LKW mit den Leichen. Das war die grausigste Arbeit meines ganzen Lebens.

            Die Evakuierung brachte auch Probleme mit sich. Eine Frau erzählte uns, wie sie mit ihren Kindern zum Finnischen Bahnhof gefahren ist, um von dort aus zur „Straße des Lebens“ zu gelangen. Ihre Tochter saß auf einem Schlitten, der 13jährige Sohn lief hinterher. Die Tochter konnte sie zum Bahnhof bringen, der Sohn jedoch war zu schwach, um es zu schaffen. Er ist irgendwo auf dem Weg abgeblieben und wahrscheinlich gestorben.

            35 Jahre nach dem Krieg haben wir für unser Buch 200 Blokadniki befragt. Jedes Mal habe ich nachgebohrt: „Wie konnten Sie überleben, wenn Sie die ganze Blockade über in der Stadt waren?“. Häufig war es so, dass diejenigen überlebten, die anderen beim Überleben halfen. Die in den Schlangen anstanden, Brennholz organisierten, Kranke pflegten, ein Stückchen Brot oder Zucker teilten… Natürlich, auch die Retter starben, aber mich hat erstaunt, wie ihnen ihre Seele geholfen hat, sich nicht zu entmenschlichen. Der Blockadetod griff sich die ausgehungerten Menschen auch im Sommer und auch in der Evakuierung.

            Überall der Stadt hingen für diese Zeit typische Anzeigen aus: „Übernehme Beerdigungen“, „Hebe Gräber aus“, „Bringe Tote zum Friedhof“. Alles für ein Stück Brot oder eine Büchse Konserven…

            Im Frühjahr trieben sehr viele tote Rotarmisten die Newa hinab. Man hörte aber nicht auf, sich dort mit Wasser zu versorgen. Wenn eine Leiche zu dicht am Ufer war, stieß man sie weg und schöpfte weiter. Was sollte man denn machen…

            Ab Juli 1942 haben wir versucht, den Blockadering zu durchbrechen, aber die Sturmangriffe brachten keinen Erfolg. Die Sinjawinskaja-Operation ging bis Ende Oktober. Sie blieb ergebnislos, und wir hatten 130.000 Mann verloren.

            Eines Tages gab man mir das Tagebuch eines Blokadnik. Jura war 14 Jahre alt und lebte mit seiner Mutter und Schwester zusammen. Das Tagebuch hat uns erstaunt. Das war die Geschichte des Gewissens dieses Jungen. In den Bäckereien wurden die Brotrationen ganz exakt, bis auf das Gramm genau, abgewogen. Um auf die jeweiligen 250 bis 300 Gramm zu kommen, wurden noch kleine Stückchen zugeschnitten, die so genannte Zuwaage. Juras Aufgabe in der Familie bestand darin, nach Brot anzustehen und es nach Hause zu bringen. In seinem Tagebuch gesteht er, welche Qualen es ihm bereitet hat, unterwegs nichts davon abzubrechen. Die Zuwaage hatte es ihm besonders angetan, er konnte sich kaum beherrschen, um sie nicht aufzuessen, denn bestimmt hätten weder die Mutter noch die kleine Schwester jemals davon erfahren… Mitunter hielt er es nicht aus und aß die Zuwaage. Er beschreibt, wie er sich geschämt hat, er gibt seine Gier und dann auch noch seine Gewissenlosigkeit zu und nennt sich einen Dieb, der Mutter und Schwester um einen Teil ihres täglichen Brotes gebracht hat. Niemand wusste es, aber er quälte sich. In der Wohnung lebte noch ein Ehepaar, der Mann war irgendein wichtiger Chef für den Bau von Verteidigungsanlagen, dem eine Zusatzration zustand. In der Gemeinschaftsküche kochte seine Frau Essen, bereitete Brei zu, und sehr oft war Jura von dem Verlangen getrieben, sich etwas zu schnappen, wenn sie die Küche verließ, und mit bloßer Hand, wenn’s denn sein musste, in den heißen Brei zu greifen. Er kasteit sich selbst für diese schändliche Schwäche. Erstaunlich an diesem Tagebuch sind der ständige Zweikampf zwischen Hunger und Gewissen, der Widerstreit zwischen ihnen, die täglichen erbitterten Scharmützel und die Versuche, den Anstand zu bewahren. Wir wissen nicht, ob er überlebt hat. Das Tagebuch zeigt, wie seine Kräfte schwinden, aber selbst dann, als er schon vollkommen ausgezehrt war, war es unter seiner Würde, die Nachbarn um Essen anzubetteln.

            Ich erinnere mich auch noch an eine andere Geschichte. Während eines Artilleriebeschusses der Stadt flog ein Geschoss durch das Fenster in eine Wohnung und fiel auf den Fußboden, ohne zu explodieren. Und blieb da liegen. Das Loch im Fenster wurde mit Sperrholz vernagelt, aber was sollte man mit dem Geschoss machen? Die Bewohner gingen zu den Soldaten und flehten sie an, dass sie ein paar Pioniere vorbeischickten. Aber die verdammten Pioniere kamen und kamen nicht, und so lebten diese Menschen mehrere Wochen lang mit einer großen Artilleriegranate im Zimmer.

            Alexej Kossygin, der Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, wurde während des Krieges als Vertreter des Verteidigungskomitees nach Leningrad entsandt. Er leitete die „Straße des Lebens“ über den Ladogasee und verlegte außerdem Anlagen aus den Leningrader Fabriken in Rüstungsbetriebe im Ural – Maschinen, Buntmetalle und Gerätschaften. Er berichtete mir, wie er sich immer wieder qualvoll entscheiden musste, wen – Kinder, Frauen und Verwundete – oder was – Material für die Rüstungsbetriebe – er aus der Stadt bringen sollte.

            Nach dem Krieg stellte sich die Blockade von Leningrad für das ganze Land als eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gegen die Deutschen dar. Schmählich für Deutschland und heldenhaft für Russland. Und letzten Endes gar nicht so sehr heldenhaft als vielmehr erstaunlich in seiner spirituellen Kraft.

            Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun. Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.“

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            Günter Guttsche 5 Jahren

            @werner. Si tacuisses, philosophus mansisses
            Ach hätte er doch lieber geschwiegen, dann wäre er zwar kein Philosoph. So ist er eben nur ein unverbesserlicher Rechthaber, und ein gemeingefährlicher obendrein, bei dem jedes Wort mit dem Staub der Jahrhunderte behaftet und dessen Geist unselige Zeiten heraufbeschwört.

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            Frank Werner 5 Jahren

            @Guttsche
            Qui tacet, consentire videtur.

            [„wer schweigt, scheint zuzustimmen“; Ausspruch von Papst Bonifazius VIII.; Rechtsgrundsatz.:Anmerkung der Redaktion]