DAS ENDE DER UNIPOLAREN WELT – Einige Schlussfolgerungen zum Gipfel von Osaka

DAS ENDE DER UNIPOLAREN WELT – Einige Schlussfolgerungen zum Gipfel von Osaka

Nach dem Gipfel der G20 in Osaka, Japan, kamen viele Journalisten, Politikwissenschaftler und sogar Politiker zu dem Schluss, dass dort nichts Wichtiges geschehen sei und dass die Politiker keine ernsthaften Vereinbarungen getroffen hätten. Ich denke jedoch, das Wichtigste ist, dass der Gipfel gezeigt hat, dass die unipolare Welt zuende gegangen ist; zum Ende kommt Globalisierung, Liberalismus und die Weltordnung, die nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 entstanden ist.

Wahrscheinlich ist jede Idee gut, wenn sie nicht Misanthropie predigt. Gut als Idee. Solange sie nicht in die Verwirklichung kommt. Da beginnen die Probleme. Nicht umsonst sagt man, dass jede Idee schon durch ihre ersten Anhänger fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Die Globalisierung, die auf den ersten Blick darauf abzielte, die Grenzen zur Verbesserung der Weltwirtschaft zu öffnen, führte so zum „Export von Demokratie“, zu „bunten Revolutionen“ in der ganzen Welt, zu lokalen Kriegen und zur beispiellosen Bereicherung der Einen auf Kosten der Verarmung der Anderen.  Selbst in den Vereinigten Staaten haben nur mächtige transnationale Unternehmen von der Globalisierung profitiert, die Mittelschicht dagegen nicht. Da muss man sich nicht wundern, dass Donald Trump die Wahl gewonnen hat und warum die reichsten Kreise Amerikas mit dieser Wahl unzufrieden sind. Trump wurde zum Sprecher der Mittelschicht – und das ist die Mehrheit der Bevölkerung.

Die Krise des modernen Liberalismus haben wir in vielerlei Hinsicht Europa zu verdanken. Insbesondere Deutschland als europäischer Führungskraft und Angela Merkel persönlich. Europa hat die Migration, die es zusammen mit den Amerikanern hervorgebracht hat, nicht ausgehalten. Das hat Wladimir Putin in einem Interview mit der britischen Zeitung Financial Times deutlich gemacht. Europa unterstützte aktiv oder passiv die amerikanische Expansion im islamischen Osten. Ich schätze, es konnte nicht anders, als es zu unterstützen, denn es hat viel von seiner Souveränität verloren und war abhängig von Amerika. Kein Zufall, dass der Vorsitzende des Europäischen Rates, Donald Tusk, als er versuchte, Putin zu widersprechen, gar nicht überzeugend und gar nicht logisch wirkte. Seiner Meinung nach sei die Erklärung des russischen Präsidenten gleichbedeutend mit der Aussage, dass „sich Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte selbst überlebt haben.“ Aber in welchem Verhältnis stehen denn Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zum modernen Liberalismus? Sie stehen im Zusammenhang mit der Demokratie, nicht mit dem Liberalismus. Der moderne Liberalismus ist, wie ich es sehe, seit langem weitgehend demokratiefeindlich. Tusk ist obendrein auch deshalb kein guter Zeuge, weil sein Heimatland Polen sich praktisch geweigert hat, Migranten aufzunehmen.

Ich habe bereits in früheren Artikeln geschrieben, dass sich die Weltordnung in der Geschichte der Menschheit viele Male verändert hat. Allein im zwanzigsten Jahrhundert änderte sie sich dreimal – nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und nach 1991. Die so genannte Weltordnung wird immer von Siegerländern in diesem oder jenem Krieg begründet. Aber dies nicht für immer. Früher oder später, unter dem Einfluss verschiedener Umstände, ändert sie sich. Und jetzt ändert sie sich.  Das ist gesetzmäßig. Denn die Länder der „Großen Sieben“, die die Welt beherrschen, werden vor unseren Augen immer schwächer. In den letzten 25 Jahren ist der Anteil der G7-Länder von 58 auf 40 Prozent des Welt-BIP gesunken. Gleichzeitig haben sich China und Indien schnell entwickelt, Russland ist wieder erstanden, und einige andere Länder wollen nicht mehr am Rande der Weltzivilisation und der Weltwirtschaft stehen. All dies hatte unvermeidliche Auswirkungen auf die internationalen Institutionen. Und es spiegelt sich bereits wider. Es ist kein Zufall, dass Trumps Treffen mit den Führern Russlands und Chinas beim Gipfel in Osaka das größte Interesse der Weltpresse geweckt haben.

Ich wiederhole: Es ist offensichtlich, dass vor unseren Augen eine neue Weltordnung entsteht. Denn, wie Samuel Huntington prophezeit hat, „führt die Verbreitung westlicher Ideale und Normen weder zur Entstehung einer universellen Zivilisation im eigentlichen Sinne des Wortes noch zur Verwestlichung nicht-westlicher Gesellschaften.“ Ja und was soll man über nicht-westliche Gesellschaften reden, wenn die Idee des Multikulturalismus sowohl in Amerika als auch in Westeuropa scheiterte? War es richtig, ihre Lebensweise auf andere Länder auszudehnen,  wenn es nicht gelang, sie in ihren eigenen Ländern zu etablieren?

Der Versuch, eine Weltordnung zu schaffen, die auf der Wirtschaft und der wissenschaftlichen und technologischen Überlegenheit einzelner Länder beruht, ist gescheitert. Weil man die Kultur und die nationalen Besonderheiten vergaß. Die sind aber die Grundlage der Zivilisationen. Wenn zwar technologischer Fortschritt problemlos von einem Land zum andern übertragen werden übertragen kann, so gelingt das aber nicht für nationale und kulturelle Besonderheiten. Hollywood ist nicht allmächtig. Die westliche Identifikation ist einzigartig, aber nicht universell. Die Länder des Westens müssen das verstehen und akzeptieren. Sonst wird der Übergang von einer Weltordnung zur anderen nicht ohne Blutvergießen verlaufen.

Efim Bershin

Übersetzt von Kai Ehlers

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COMMENTS

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    Ефим Бершин 5 Jahren

    Anja Böttcher. Я согласен с тем, что современный неолиберализм уже имеет мало общего с классическим либерализмом. Но люди в большинстве своем этого не понимают. Поэтому слово „либерализм“, по крайней мере у нас, в России уже давно вызывает отторжение. А вам, Аня, спасибо, за подробный разбор.

    Ich stimme zu, dass der moderne Neoliberalismus bereits wenig mit dem klassischen Liberalismus zu tun hat. Aber die meisten Leute verstehen das nicht. Daher ist das Wort „Liberalismus“, zumindest in unserem Land, in Russland seit langem eine Ablehnung. Und Sie, Anna, vielen Dank für eine detaillierte Analyse. (redaktion)

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    Diesen Artikel von Jefim Bershin, dessen Einblicke und vor allem dessen Buch über den Transnistrienkonflikt ich sehr geschätzt habe, finde ich ziemlich schlimm – und analytisch durch und durch defizitär.

    Bereits falsch gesehen wird seine Vorstellung einer „Idee“ einer „liberalen Globalisierung“, während es denjenigen Kräften, die das damit Gemeinte vorantrieben, überhaupt nicht um politischen „Liberalismus“ ging.

    Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs war es schlicht und ergreifend großen Kapitalakteuren möglich, ungeheuer zu expandieren. Die dadurch erfolgende Umschichtung politisch-ökonomischer Macht, einmal geographisch, aber auch im Binnenraum vormals westeuropäischer Sozialdemokratien (und den angelsächsischen Ländern jenseits des Atlantiks) wurden auch soziale Balance-Mechanismen weggefegt. Diese Dynamik ergriff auch die politische Sphäre: Erklommen Politiker früher die Leiter vom Ortsverein über die Länder bis auf Bundesebene, brauchten sie also Basis, die sie stützt, um ihren Weg zu machen, so wird heute handverlesenes politisches Personal – aus Elitensicht – aus dem Humanpotenzial von Lobbystrukturen, vor allem aus sogenannten NGOs, die aufgrund ihrer Finanzierungsquellen gar keine sind oder sich durch große Kapitalakteure finanzieren, „Denkfabriken“ und Netzwerken herausgepickt. Politiker sind heute nichts mehr als „Verkäufer“ der Interessen großer Kapital- und politischen Macht an die breite Masse. Entscheidungen verlaufen vertikal von oben nach unten, dabei ist das Verhältnis zur Bevölkerungsmehrheit durch und durch von einem kalten und verächtlichen technokratischen Paternalismus bestimmt.

    Dementsprechend sieht sich Staatsmacht auch nicht mehr, noch nicht einmal im hobbesschen Sinne, als Schutzinstanz für die Mehrheit der Menschen, sondern als Durchsetzungsinstrument der Interessen jenes konzntrierten Kapitals, das nur noch die Güte verschiedener Länder als „Standort“ zur schrumpfenden klassischen Wertschöpfung durch Produktion aburteilt und dort „Arbeitsplätze“ abziehen oder aufbauen kann – ohne jede Verpflichtung.

    Es geht also um ein politisch-ökonomisches Modell, das mit dem klassischen Liberalismus, der seine politische Anziehungskraft aus den Motti der Französischen Revolution bezog, gar nichts mehr zu tun hat. Wo sehen wir hier Debatten um den volonté generale? Wo einen Pathos von „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“? Selbst die Gewaltenteilung wird aufgehoben, wenn Schiedsgerichte und Konzernmacht das klassische, internationale wie nationale, Recht aufheben. Vom Staat bleibt primär die Armee, die geopolitisch im Sinne der Konzerne agiert – der „westlichen“, vor allem der US-Konzerne.

    Die Menschen aber werden hier zu Ameisen, deren Wille nicht mehr zählt. Der „Ideengehalt“ dieses Modells stammt von dem nicht politischen, aber radikal rein wirtschaftsliberalen Ideologen Friedrich Hayek – und sein Durchsetzungsinstrumentarium war primär die sogenannte Mont-Pellerin-Gesellschaft sowie große internationale Wirtschaftsforen wie in Davos sowie die hiervon ausgehenden Netzwerke und Denkfabriken.

    Klassische liberale Institutionen, vor allem die Parlamente, wurden also im Westen nicht von nicht-liberalen äußeren Akteuren, wie die chinesische Regierung, sondern vom Lobbyismus, der sie zu Abnickinstitutionen machte. Die vormalige demokratische Linke wandelte sich zu einem Verein der „Genossen der Bosse“ und marginalisierte sich selbst oder, wie die Grünen, zur bourgoisen Identitäts“linken“, die sich auf die PR für die größte Umverteilungsdynamik, die eine Rückabwicklung von dem war und ist, was in mehr als einem Jahrhundert soziale Bewegungen, wie die Arbeiterbewegung, errungen hatten.

    Was Jefim Beshin „Idee“ nennt, ist nichts als diese PR der „offenen“, „liberalen“, „multikulturellen“, „genderdiversen“ Gesellschaft, die repressiv „Toleranz“ hochhielt, während sie völlig intolerant halfen, jeden sozialpolitischen Protest gegen die faktische sozialökonomische Entmachtung der Vielen zu diffamieren und diskursiv zu ächten.

    Die Spannungen, sowohl auf internationaler Ebene wie auf binnen-nationaler sind die unmittelbare Folge dieses Prozesses. Und die vermeintliche Opposition zwischen „nationalistischen“ und „globalistischen“ Kräfte sind keine Oppositionsbewegungen, sondern nur die eskalatorischen Pole der beiden Aktionskräfte, die dialektisch aufeinander bezogen dem sogenannten „Globalisierungs“-Prozess schon immer immanent waren. Keine der politischen Dynamiken birgt ein befriedigendes Auflösungspotenzial des immanenten Konflikts, sondern beide versprechen nur eine immer weiter sich verschlimmernde Eskalation.

    Erklärung: Der Nationalismus ist die Verabsolutierung der Standortkonkurrenz, die dem Globalisierungsprozess schon immer immanent war. Die dagegen polar sich positionierenden „Globalisierungskräfte“ dagegen wollen vor allem Zusatz- und Absatzwege für den Kapitalfluss aufrechterhalten, den sie als nationale Machtprojektion nicht durchsetzen können. Sie sitzen logischerweise in Europa, weil sich Europa seiner militärischen Projektionspotenziale in Jahrzehnten des Kalten Kriegs weitgehend entledigt hat. Russland fehlt wirtschaftliches Potenzial, während es, komplementär zu Europa, für seine wirtschaftliche Kraft überproportional viel militärisches Potenzial besitzt. Aber alle pokern in einem Kampf um Märkte, Ressourcen und Produktivität im Rahmen einer Logik, die auf permanentes Wachtun angewiesen ist, das allein ökologisch nicht nöglich ist, um politische Selbstbehauptung, die zugleich den Triumph über die Konkurrenten erfordert. Denn dass die Jefferson-Formel, als Prämisse der kapitalistischen Ideologie, i.e. „There is enough for everbody“, nicht stimmt, ist so sichtbar wie irgendtetwas.

    Was ist die Ursache der riesigen und immmer weiter steigenden Nomadisierung der Menschen, die 2015 einen ersten Höhepunkt erreichte? Es war der Staatenverfall im Nahen Osten, der parallele kontinuierliche Staatenverfall in Afrika und die sie begleitenden geopolitischen Beutezüge und Kriege, vor allem der USA und NATO, aber auch China und Russland sind hier aktiv, die verzweifelte Menschen aus ihren Ländern trieben.

    Was war Angela Merkels „Flüchtlingspolitik“? Aus meiner Sicht hat sie nichts mit der zur Schau gestellten „Humanität“, denn ich weiß, wie vorher und nachher mit Geflüchteten umgegangen wird – sehr zur Frustration von denen, die sich hier um sie gekümmert haben. Meiner Analyse nach war dies der Versuch, von Deutschland aus eine entscheidende Kompetenz der europäischen Nationalstaaten zu EU-europäisieren. Sie sah richtig, dass die durch Dublin zementierte alleinige Verantwortung der wirtschaftlich eh geschwächten südeuropäischen Staaten, die faktisch die kriegsbedingten Fluchtbewegungen alleine abbekamen, zu einer Zentrifugalkraft in der EU wurden. Indem Merkel Aufmerksamkeitsökonomie für den eh stetig steigenden und permanenten Flüchtlingszustrom schaffen wollte, durch einen deutschen Alleingang, wollte sie eine mediale Situation schaffen, die geeignet sein könnte, Kompetenzen über Grenz- und Immmigrationsmanagement auf der EU-Ebene zu konzentrieren und durch einen kräftigen Zentralisierungsschritt der EU mehr Handlungsraum im Konzert der internationalen Akteure im Machtkonzert zu verschaffen. Ich denke, sie glaubte, durch eine kurzfristig gesteigerten, aber zeitlich beschränkten medialen Aufmerksamkeitsschirm, eine Dringlichkeit vermittelnde, aber dennoch beherrschbare Situation zu schaffen, die der deutschen Regierung mehr Steuerpotenzial und mehr europäische Zentralisierung ermöglicht. Das ist gründlich schiefgegangen. Merkel hat im Gegenteil die für die EU kontraproduktiven nationalistischen Kräfte gestärkt und damit auch die zentrifugalen Fliehkräfte. Aber um „Liberalität“ und eine vermeintliche „multikulturelle Identitätsform“ der Menschen ging es nicht. Das ist lediglich die PR-Formel, mit der man diese Dynamiken den Bevölkerungen verkauft – mit dem bösen Effekt, dass sich der Protest der Bevölkerungen gegen die aus der kapitalistischen Dynamik herrührende Marginalisierung in Teilen ein nationalistisches Ventil sucht, obgleich die daraus entstehenden politischen Akteure nichts an ihrer sozialökonomischen Marginalisierung ändern. Im Gegenteil: Die meisten nationalistischen Parteien betreiben einen mafiösen Oligarchenkapitalismus oder sind, wie die AfD, vollkommen neoliberal.

    Frau Merkel hat also nicht mit ihrer „Flüchtlingspolitik“ die Migrationswelle von 2015 geschaffen, sondern mit ihrer Unterstützung für US- und NATO-Hegemonialpolitik und den Neoliberalismus, vor allem aber, was Syrien betrifft, durch eine gnadenlose Sanktionspolitik gegen die syrische Bevölkerung, die den Krieg dort erheblich verschärft hat. Dagegen aber hat kein Nationalist je Einspruch erhoben – weder die der AfD noch Herr Orban oder Herr Kaczynski.

    Durch die nationalistische Rechte findet keineswegs eine „Verteidigung tradierter Lebensformen“ statt – was auch gar nicht mehr geht, weil dafür die sozioökonomische Basis futsch ist, sondern eine Befeuerung der auch dem Neoliberalismus immanenten Mechanismus des ’survival of the fittest‘. Auch wollen die jungen Leute in den Ländern oder Teilen von Ländern, in denen die nationalistische Rechte stark ist, keineswegs so leben, wie vor 1989: Denn sie hauen dort in Massen ab. In Deutschland sind es die östlichen Bundesländer in denen die AfD vor allem punktet: Sie sind, wie die wirtschaftlich erodierenden osteuropäischen Länder, die deppressiv ausblutenden Regionen unseres Kontinents und schaffen nirgendwo Nachhaltigkeit, die Leute zum bleiben motivieren. Niemand zieht dorthin, sondern nur viele weg. Nur in sich stetig entvölkernden Regionen feiert die AfD Wahlerfolge mit 25-26%: in Sachsen oder auf dem platten wirtschaftlich schwachen Land in Brandenburg. Der Zuwandereranteil dort liegt bei 2-8%; das Durchschnittsalter nähert sich dem des Renteneinstiegs. Dagegen hat die AfD in Nordrheinwestfalen und Bayern nur 8,4 bzw 10%, obgleich hier die meisten Geflüchteten leben. Auch ist hier die Bevölkerung erheblich jünger im Durchschnitt.

    Jefim Bershins Artikel ist also eine grobe Fehlinterpretation. Dazu noch eine, die mit zweifelhaft völkischen Parolen flirtet.

    Und nun ein Wort zu Putins Interview: Die Passage über die Flüchtlingssituation war nicht nur unwahr und falsch, sie war übel demagogisch – und die erste Äußerung, die er getan hat, die leider die gängige anti-Putin-Propaganda bestätigt, die permanent behauptet, Russland würde europäische Länder destabilisieren, indem es die äußerste Rechte fördert. Hier trifft sie zu. Ich zitiere aus seinem Interview für die Financial Times:

    “ Was die liberale Idee betrifft, so tun ihre Befürworter nichts. Man sagt, dass alles in Ordnung ist, dass alles so ist, wie es sein sollte. Aber ist es das? Sie sitzen in ihren gemütlichen Büros, während diejenigen, die in Texas oder Florida jeden Tag mit Problemen zu kämpfen haben, nicht glücklich sind, sie werden bald eigene Probleme haben. Denkt jemand an sie?

    Das Gleiche geschieht in Europa. Ich habe das mit vielen meiner Kollegen besprochen, aber niemand hat die Antwort. Sie sagen, dass sie aus verschiedenen Gründen keine Hardliner-Politik betreiben können. Warum genau? Nur so. Wir haben das Gesetz, sagt man. Nun, dann ändere das Gesetz! […]

    Verstehst du, was ich meine? Und außerdem haben wir in Russland Schritte unternommen, um die Situation in diesem Bereich zu straffen. Wir arbeiten jetzt in den Ländern, aus denen die Migranten kommen, und unterrichten Russisch an ihren Schulen, und wir arbeiten auch hier mit ihnen. Wir haben die Gesetzgebung verschärft, um zu zeigen, dass Migranten die Gesetze, Bräuche und die Kultur des Landes respektieren müssen.

    Mit anderen Worten, auch in Russland ist die Situation nicht einfach, aber wir haben begonnen, daran zu arbeiten, sie zu verbessern.

    Die liberale Idee hingegen setzt voraus, dass nichts getan werden muss. Die Migranten können ungestraft töten, plündern und vergewaltigen, weil ihre Rechte als Migranten geschützt werden müssen. Welche Rechte sind das? Jedes Verbrechen muss seine Strafe haben.

    Die liberale Idee ist also obsolet geworden. Sie ist mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in Konflikt geraten.“

    Was Putin hier macht, ist keine sachliche Darstellung einer kontrastierenden Einstellung in Russland und EU-Europa, sondern er betreibt blanke Demagogie. Dass Migranten in Deutschland straffrei plündern, rauben, vergewaltigen oder morden dürften, ist eine schlichte Lüge. Die darin enthaltende Implikation, dass es sich en gros um Menschen handelte, deren moralischer Kompass so unterentwickelt sei, dass sie solche Handlungen für aktzeptable hielten, gar in größerem Umfang zu betreiben gedächten, ist eine böse rassistische Insinuation. Der Prozentsatz von Tötungsdelikten ist in Deutschland von 0,8 auf 100 000 Einwohner auf 0,9 gestiegen; der Anstieg im Bereich der Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung in ähnlicher Größenordnung. In beidem liegt Deutschand so herausragend gut im internationalen Vergleich dar, dass sowohl Trumps USA wie Russland dagegen miserabel aussehen.

    Ähnliches gilt hinsichtlich der sprachlichen und beruflichen Ausbildung von Migranten. Putin hat Recht darin, dass Migranten nach Russland in der Regel schon russisch sprechen können. Aber dass Russland nur im Ansatz die personalen und finanziellen Mittel bereitstellt, um Integration zu befördern, und so viele engagierten Menschen in dieser Hinsicht aufweisen kann, wie dies im Westen Deutschlands geschieht, ist schlichtweg falsch, die Behauptung deshalb schäbig. Und was die, die mit der Integration von Geflüchteten zu tun haben, am meiten frustriert, ist, wie gnadenlos Geflüchtete, die sich gut integrieren, abgeschoben werden, obwohl Betreuende wissen, dass sie in ihren Heimatländern großen Gefahren ausgesetzt sind. Laut Umfragen in unserer Region (Ruhrgebiet) sagen 80% der Geflüchteten aus, dass sie sehr gut oder gut aufgenommen und betreut wurden. Da, wo Leute bedrückt sind, handelt es sich meistens um Menschen, denen der Familiennachwuchs verwehrt wird. 87% sehen ihre Zukunft in Deutschland. Und bei denen, die das nicht tun, sollte auch die Rückkehr betreut werden, etwa durch heimatlandorientierte Weiterbildung, damit niemand nur deshalb bei uns bleibt, weil er für sich nirgendwo eine Perspektive erhofft.

    Während natürlich ein kleiner Prozentsatz von Geflüchteten den mafiösen und gewalttätigen Strukturen angehört, die Krieg und – von außen mit beförderter – Staatenzerfall in ihren Ländern schuf, haben Putins Insinuationen kaum etwas mit dem Gros der Geflüchteten in Deutschland gemein und auch nichts mit der Qualität des Zusammenlebens zwischen autochthoner Bevölkerung und Migranten. Auch muss man nur öffentlich zugängliche Zahlen, wie die Kriminalstatistik, anschauen, um zu sehen, dass die Klischeebilder des extremen rechten Rands grob verzerrend sind.

    Zudem hatten spektakuläre Vorfälle, wie die in der Sylvesternacht 2016 nicht primär mit Geflüchteten zu tun, sondern mit Migranten aus dem Magreb, die aus den französichen Vorstädten ins Rheinland gekommen waren, wo sie, die dort wegen der kolonialen Altlasten Frankreichs einwangewandert waren, auf der Grundlage des Schengen-Abkommens einer sozial gescheiterten Existenz in den Banlieus entflohen waren, um rund um Köln sich mit Raubdelikten zu bereichern. Ein kausaler Nexus zu der Migrationswelle um 2015 bestand hier nicht.

    Ein ähnliches Vorkommen hat sich seitdem jedoch gar nicht wiederholt.

    Was will Putin also mit derartigen Aussagen erreichen? Und muss man angesichts dieses Interviews nicht annehmen, dass auch das von Frau Krascheninnikowa beanstandete Flirten von RT und Sputniks mit den Ressentiments der rassistischen Rechten die aktive Unterstützung der russischen Regierung erfährt? Aber weiß die russische Regierung was sie da tut? Hat sie sich mal die geschichtsrevisionistischen Äußerungen aus diesem Milieu angeschaut? Denkt sie, die Förderung solcher Kräfte bei uns wäre für Russland positiv?

    Wer in tumultartigen Zeiten nüchternes Denkvermögen bewahrt, sieht, dass sowohl Nationalismus wie Neoliberalismus den Eskalationsmodus zwangsläufig befeuern und die innergesallschaftlich stark hierarchischen Machtvertikale und die außenpolitische Konfrontation einander verstärken. Es gibt nichts, was wir alle dringender brauchen als Kooperation und Empathievermögen. Wir alle leben nicht in verschiedenen Galaxien, sondern auf dieser fragilen Erde, und die Frustrationserfahrungen, denen wir alle ausgesetzt sind, sind ziemlich ähnlich. Dichotomisch sind nur die Etiketten, die der kriegerische Aufrüstungsdiskurs hüben wie drüben ihnen verleiht. Im Grunde waren die Probleme der Menschen über alle Grenzen hinweg einander noch nie so ähnlich wie heute, da wir – durch moderne Medien, die jedoch überall immer stärker vermachtet und kontrolliert werden – zum ersten Mal in der Geschichte alle synchrone Wissenszugänge zu einem wirklich globalen Wissen haben, während die gleichfalls globale Verwirrung es uns in ungeahnter Weise erschwert, einen nüchternen Verständnisrahmen zu schaffen, in dem wir miteinander ohne demagogische Verzerrungen miteinander ins Gespräch kommen können. Wir werden dies auch nicht schaffen, wenn wir nicht alle mit stoischer Konsequenz allen uns umgebenden Demagogien die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen verteidigen, die es möglich macht, ihm zuzuhören, statt ihn mit zweifelhaften Etiketten von außen zu kategorisieren. Das ist, was bereits im Christentum, im Humanismus, aber auch in der Aufklärung und in den Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts VERNUNFT und MENSCHLICHKEIT gefordert haben. Auch in allen früheren Epochen, auf die Traditionsbetonung immer verweist, befanden sich humanitäre Forderungen nach menschlichem Grundrespekt stets im Widerstreit mit dem schrillen Geschrei um Selbstbehauptungswut auf Kosten anderer.

    Wir werden nur eine solidarische oder eine finstere Zukunft haben – oder gar keine. Unsere Erde ist klein für 8-9 Milliarden Menschen. Wer für Vernunft, gegenseitigen Respekt, Gerechtigkeit und Frieden.

    Ich sehe weder, dass Jefim Berschins Artikel noch Putins Interview irgendeinen positiven Impuls bringt noch fördert. Auch verzerren sie eher Wahrheit, als dass sie zum Verständnis unserer Wirklichkeit beitragen. Sie sind enttäuschend und lassen mich ratlos. So kommen wir aus dem Eskalationsmythos nicht heraus. So zementieren wir nur das Unverständnis und bauen Mauern auf um Machtblöcke, die auf eine tödliche Konfrontation zurasen. Dabei brauchen wir nichts mehr als Verständigung – zwischen der russischen Welt und der des übrigen Europas, aber auch mit den uns doch auch auf der Grundlage der gemeinsamen Basis von römischer und griechischer Antike und orientalischem Monotheismus tief verbundenen Länder des Nahen Ostens. „Sapere aude“ müsste die Devise sein – nicht Vertiefung untragbarer Vorurteile – und die Einsicht, dass wir uns nur gemeinsam vor der großen Verheerung retten können.

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    Horst Beger 5 Jahren

    Einen Grund für „das Ende der unipolaren Welt“ hat Samuel Huntington in seinem „Kampf der Kulturen“ von 1997 genannt: den Jahrhunderte alten Kampf des „Westlichen (römischen) Christentums“ gegen das „Östliche (orthodoxe) Christentum“, der auch die Ukraine in eine von der Orthodoxie geprägte Ostukraine und eine von Rom beeinflusste Westukraine teilt und von daher ganz aktuell ist.