„Jeder zweite russische Unternehmer bereitet sich auf das Schlimmste vor“Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

„Jeder zweite russische Unternehmer bereitet sich auf das Schlimmste vor“

So titelte die Zeitung „Wedomosti“ am 12. Juli 2019.[1] Im Untertitle stand: „Es investieren nur derjenigen, die nirgendwo anders investieren können“. Die Zeitung stützt sich auf eine 42seitige Untersuchung des 2003 gegründeten Zentrums für soziale Projektierung „Platforma“.[2] Parameter deren Forschung sind eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM (befragt wurden 500 Unternehmer und Manager in kleinen, mittleren und großen Unternehmen) sowie 35 halbformalisierte Interviews von „Platforma“ mit Wirtschaftsvertretern und Experten (kleine, mittlere und große Unternehmen, ausländische Investoren, Soziologen, Wirtschaftswissenschafter) in allen Föderalen Bezirken.

71 % der Befragten halten die Geschäftsbedingungen in Russland für ungünstig. Der Staat ist in den Augen von Geschäftsleuten für die Mehrheit der überschaubaren Risiken verantwortlich. Sie sehen im Staat nicht den Feind, aber auch keinen interessierten Partner. Auf der einen Seite ist der Staat ein Assistent, der administrative Hindernisse abbaut und das Unternehmertum fördert, auf der anderen Seite eine unvorhersehbare Macht. In den Behörden sehen die Befragten in ihrer Logik getrennte Elemente der Nichtregierung und des Schattens, von denen die Risiken ausgehen.

Bei der Beurteilung des Geschäftsklimas rücken zwei Blöcke in den Vordergrund: wirtschaftliche Faktoren (Abnahme der Kaufkraft der Bevölkerung und die Höhe der Steuern betrachten 72 % bzw. 70 % der Befragten als oberste Priorität) und institutionelle Faktoren, die mit dem Schutz von Unternehmern vor Missbrauch durch Beamte zusammenhängen. Die Unvollkommenheit des Justizsystems wird zu 52 % als Risikoquelle und zu 48 % als Korruptionsrisiko in Verwaltungsangelegenheiten angesehen.

Als Negativbeispiel führt die Studie den Fall von Michael Calvi an, des Gründers des Investmentfonds Baring Vostok Capital Partners. (Seit 1994 investierte Calvi in Russland und in den GUS-Ländern 2,4 Mrd. $ in 70 Projekten in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Öl und Gas, Telekommunikation und Medien, Verbraucher. Im Februar 2019 war er verhaftet worden und steht jetzt unter Hausarrest. Ein Geschäftspartner, mit dem er Differenzen hat, setzte Strafvollzugsorgane ein.) Die Besonderheit des  Falls Calvi besteht darin – so die Studie – dass der Stereotyp eines vom Staat entfernten Unternehmens, das relativ autonom arbeitet, Steuern zahlt und keine ernsthaften Probleme hat, zerstört wurde. Die Grundstimmung ist Unverständnis, Überraschung. „Nur 20 % rechnen mit einer Verbesserung der Situation innerhalb von fünf Jahren, der Rest ist bereit für das Schlimmste.“ Im Jahr 2018 wurden in Russland 290.288 Unternehmen eröffnet und 622.111 geschlossen.

Sehr deutlich äußerte siсh dazu am 9. Juli auf dem Internationalen Finanzkongress in St. Petersburg die Chefin der Zentralbank Russlands, Elvira Nabiullina.[3] Die Leute brauchen Strafverfolgungsbehörden, die sie schützen und nicht vor denen sie geschützt werde sollen, und Gerichte, die unabhängig urteilen. Das Humankapital (wie auch das Geldkapital) braucht nicht nur Investitionen, sondern auch ein Umfeld, in dem es sich entwickeln kann, sonst werden die Menschen in einem anderen Land nach einem solchen Umfeld suchen. Die Menschen brauchen eine Macht, von der sie zumindest nicht angewidert sein werden, wenn sie sehen, wie deren Vertreter reicher werden (nicht nur Beamte, sondern auch Leiter staatlicher Unternehmen, Eigentümer von Unternehmen, die unter der Macht gewachsen sind) und dumme und sinnlose Reden halten über Armutsbekämpfung und Fürsorge, über Erfolge und Herausforderungen.

[1]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/07/11/806415-kazhdii-vtoroi-rossiiskii-predprinimatel-gotovitsya-k-hudshemu

[2]              https://drive.google.com/file/d/1NaG5MS1XIicqpJbANXjAqY32WZ5wJSAD/view

[3]              https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2019/07/09/806226-pravda-elviri-nabiullinoi

COMMENTS

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    Dagmar Brandt 4 Jahren

    Der obige Artikel wirft in der Tat ein bedenkliches Licht auf die Rechtsstaatlichkeit in Russland. Zum besseren Verständnis wüsste ich gerne, welcher Rechtsweg Michael Calvi zur Verteidigung gegen die Anschuldigungen seines Geschäftspartners noch offen stehen. Welche der Anschuldigungen wurden bisher bewiesen, welche entkräftet?

    Im obigen Text heißt es: „Im Jahr 2018 wurden in Russland 290.288 Unternehmen eröffnet und 622.111 geschlossen.“

    Wie ist dieser Satz zu verstehen, wurden 622.111 Unternehmen in 2018 durch behördliche Anordnung geschlossen oder stellten diese Unternehmen einen Insolvenzantrag? Wenn Letzteres der Fall sein sollte, lassen sich diese Unternehmensnotlagen u. a. auf die Auswirkungen der „westlichen“ Sanktionspolitik gegenüber Russland zurückführen?