Rezension: Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchenWipperfürth, Dr. Christian (c) russland.tv

Rezension: Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen

Man höre und staune: Sigmar Gabriel, Oskar Lafontaine, Peter Gauweiler oder etwa Wolfgang Kubicki als Autoren gemeinsam in einem Sammelband! Adelheid Bahr hat mit ihrem Sammelband das Kunststück zustande gebracht, Menschen mit durchaus sehr unterschiedlichen politischen Ansichten an einem Strang ziehen zu lassen. – Vielleicht weil sich die Beteiligten an Egons Bahrs Maxime hielten? Bekanntlich klammerte Bahr strittige Fragen aus, um bei der Verwirklichung gemeinsamer Interessen voranzukommen, nicht zuletzt der Sicherung des Friedens.

Dieses gemeinsame Interesse der 27 Autorinnen und Autoren aus Politik, Wissenschaft, Diplomatie oder etwa Publizistik – an Frieden und Freundschaft mit Russland – ist unverkennbar. Es äußert sich bei einigen sachlich und abwägend, bei anderen mit emotionaler Wucht.

Am Beginn des Sammelbands stehen zwei Reden Egon Bahrs aus dem Jahr 2015, seinem Todesjahr. Bahr sprach u.a. unmissverständlich von einer „russischen Annexion der Krim“. Sie sei eine Verletzung internationaler Verträge, die nicht anerkannt werden könne. Aber es ließe sich eine Lösung aus dem Dilemma finden, so Bahr, ähnlich wie dies zur Zeit des Kalten Krieges gelungen sei: So habe die Bundesregierung unter Willy Brandt der DDR die völkerrechtliche Anerkennung verweigert, de facto wurde sie von der Bundesrepublik aber als Staat respektiert. Diese Unterscheidung zwischen de facto und de jure sei der völkerrechtliche Rahmen der gesamten Entspannungspolitik gewesen. Ebenso, mahnt und rät Bahr, könne man in Bezug auf die Krim verfahren: Die Halbinsel nicht de jure, aber de facto als Teil Russlands behandeln.

Dies ist nach Ansicht des Rezensenten ein Lösungsansatz, den es weiter zu verfolgen gilt. Eine zumindest vorläufige Lösung der Krimfrage wäre nicht zuletzt im Interesse der Bewohner der Halbinsel: So werden von den russischen Behörden auf der Krim ausgestellte Pässe im Westen nicht anerkannt. Faktisch gibt es vom Westen verhängte Reiseverbote für die Bewohner der Halbinsel. Auf der anderen Seite wird westlichen Bürgern der Besuch der Krim stark erschwert oder er wird gar sanktioniert.

Neben der Sicherung des Friedens stand der Wunsch nach menschlichen Erleichterungen im Zentrum der Entspannungspolitik. Ist es legitim und zielführend, die Bewegungsfreiheit der Krimbewohner und in gewissem Maße auch westlicher Bürger einzuschränken, weil der Westen und Russland in der völkerrechtlichen Frage der Zugehörigkeit der Halbinsel eine unterschiedliche Position vertreten?

Bahr fährt mit einer wichtigen Bemerkung fort: Die vorläufige Lösung, in der Krimfrage zwischen de jure und de facto zu unterscheiden, könnte vor einer endgültigen Lösung vielleicht Jahrzehnte andauern, sie könne aber bereits jetzt Möglichkeiten der Kooperation und Entspannung eröffnen. (21)

Bahr tritt durchaus dafür ein, menschenrechtliche Fragen in Gesprächen mit ausländischen Politikern zu thematisieren, wenn es im entsprechenden Land gravierende Probleme gebe. Dies solle aber vertraulich erfolgen, damit die andere Seite ihr Gesicht in der Öffentlichkeit wahren könne. Dies erhöhe die Erfolgsaussichten. Er argwöhnt, manchen westlichen Politikern, die Menschenrechtsfragen offen ansprechen, gehe es weniger um die Verfolgten, als darum, innenpolitisch Punkte zu sammeln. (17) Es gelte anzuerkennen, dass jeder Staat über seine innere Ordnung selbst zu entscheiden habe. (22)

– Aber kommt dies nicht einem Freibrief für Autokraten gleich? So würden Vertreter einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ argumentieren.

Sigmar Gabriel geht in seinem Beitrag indirekt aber unmissverständlich auf den genannten Einwand ein. Die Struktur der derzeitigen Beziehungen mit Moskau ähnelten laut Gabriel denjenigen aus der Zeit des Kalten Kriegs: Es sei „nämlich sehr wahrscheinlich, dass sich Russland ähnlich wie die damalige Sowjetunion nicht durch Druck und Konfrontation zu einer Änderung seiner Innen- und Außenpolitik wird bewegen lassen“. (93) Gabriel fordert indirekt, aber unmissverständlich eine Abkehr von der Sanktionspolitik. Er plädiert im Geiste Egon Bahrs für einen Wandel durch eine erneute Annäherung zwischen Deutschland/dem Westen und Russland. (94)

Gabriel tritt für eine neue Entspannungspolitik ein: Für ein Vorgehen, das Erfolg verspricht, im Interesse des Friedens und der Menschen in Ost und West.

Bahr war der Ansicht, dass die Überzeugung einer Wertegemeinschaft mit Amerika sich bereits vor Jahrzehnten als „Irrglaube“ herausgestellt habe. (14) Das ist starker Tobak für die Verfechter einer „wertegeleiteten Außenpolitik“. Sie betrachten „gemeinsame Werte“ als unverzichtbare und tragfähige Grundlage der außenpolitischen Zusammenarbeit. Wer außerhalb der Wertegemeinschaft stehe sei erstens unzuverlässig und zweitens neige er dazu außenpolitische Ziele zu verfolgen, die den eigenen Werten entgegenstehen. Egon Bahr würde vielleicht entgegnen, dass die Jahrzehnte der Entspannungspolitik diesen apodiktischen Aussagen widersprechen. Und er würde womöglich Worte Willy Brandts anfügen: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Und die Autorinnen und Autoren dieses Buchs eint die Ansicht, der Frieden sei gefährdet.

Oskar Lafontaine argumentiert, Frieden und Zusammenarbeit mit Russland seien in europäischem Interesse. (121-25)

Warum sind die westlich-russischen Beziehungen derart angespannt? Wer ist hierfür verantwortlich zu machen? Das Buch bietet hierzu vielerlei facettenreiche Antworten. Florian Rötzer etwa weist auf Walentin Falin hin, Berater Michail Gorbatschows. Falin habe bereits im April 1991 gewarnt: Die USA wollten Moskau isolieren. (154) Wer Hinweise für den russischen Anteil an den zerrütteten Beziehungen sucht wird vom Sammelband enttäuscht sein und ihn vielleicht verärgert zur Seite legen. Aber diese lassen sich problemlos in anderen Veröffentlichungen finden.

Die USA sind im Buch annähernd so präsent wie Russland. Wolfgang Kubicki kritisiert, deutsche Interessen würden häufig eins zu eins gesetzt mit den Interessen der NATO oder etwa der USA. (114)

Und Bahr forderte bereits vor dem Amtsantritt des jetzigen US-Präsidenten eine Emanzipierung von den USA. Die Selbstbestimmung solle aber neben und nicht gegen Amerika gerichtet sein. (16) Europa, aber auch Deutschland müsse vom Objekt zum Subjekt werden. Bahr zitiert Willy Brandt mit den Worten: „Kein Volk kann auf die Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, wenn es nicht ‚Ja‘ sagen kann zum Vaterland.“ (18) Bahr sah offensichtlich Anlass für diese Mahnung.

Viele Autorinnen und Autoren betonen, wie wichtig es sei, sich auch in die Position des anderen zu versetzen. Andere, etwa Peter Brandt oder Matthias Platzeck konkretisieren dies, indem sie auf die „Charta von Paris“ aus dem Jahre 1990 hinweisen. Darin erklärten die Staaten von Vancouver bis Wladiwostok: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist unteilbar mit der aller anderen verbunden.“ Warum dann hat der Westen, übrigens gegen die Bedenken Deutschlands, 2014 den Austausch mit Moskau im NATO-Russland-Rat weitgehend eingestellt? Sollte, ja muss man nicht miteinander in Kontakt treten, gerade wenn es Interessen- und Meinungsunterschiede gibt?

Frank Elbe spitzt es folgendermaßen zu: „Eine Politik, die nicht auf Zusammenarbeit mit Russland, sondern auf Ausgrenzung abstellt (…) wäre verfassungsfeindlich. Das Grundgesetz hat in Artikel 26 eine Verpflichtung verankert, das friedliche Zusammenleben der Völker zu fördern.“ (83) Elbe war lange Jahre Bürochef Hans-Dietrich Genschers und Chef des Planungsstabs des Auswärtigen Amts.

Antje Vollmer schreibt über die Maximen der Arbeit und die Persönlichkeit Bahrs. Das Buch schließt mit Detlef Prinz‘ traurigem „Protokoll – das trotzdem Mut machen soll!“

 

Adelheid Bahr (Hg.), Warum wir Frieden mit Russland brauchen. Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Peter Brandt, Oskar Lafontaine, Daniela Dahn und vielen anderen, Westend Verlag GmbH Frankfurt am Main, 208 Seiten

 

Diese Rezension erschient zuerst bei: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 7/8 2019

COMMENTS

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    Horst Beger 5 Jahren

    Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland ist die Reaktion Russlands auf den Jahrzehnte alten Kalten Krieg der USA gegen Russland und die Osterweiterung der NATO mit dem Ziel, „Amerika in Europa zu halten, Russland draußen zu halten und Deutschland klein zu halten“, wie das vom ersten NATO-Generalsekretär formuliert und von Deutschland masochistisch übernommen wurde. Solange das von der Bundesregierung nicht geändert wird, ist auch keine Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen zu erwarten.

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    Nicht nur ist dem Ansinnen der Autoren dieses bereits vor einiger Zeit erschienenen Buches, das viele bemerkenswerte Beiträge beinhaltet, zuzustimmen, sondern es ist mit allem Nachdruck der Punkt vorzuheben, den Frank Elbe ausformuliert hat:

    Die Bundesregierung ist in ihrer Politik vollumfänglich an das Grundgesetz gebunden. Denn dieses ist die Grundlage der Legitimität ihrer Repräsentationsbefugnis gegenüber der eigenen Bevölkerung.

    Das Grundgesetz aber kennt nicht nur die Verpflichtung Deutschlands, von jeder nicht mit dem Völkerrecht vereinbarten Kriegshandlung abzusehen und jede kriegerische Tätigkeit zu unerlassen, für die kein UN-Mandat vorliegt, sondern verpflichtet die Bundesregierung wie jeden Bürger aktiv für den Frieden zwischen den Völkern zu sorgen. Jede Aktivität dagegen, wird nicht nur als illegitim, sondern als Straftat bewertet.

    Im Wortlaut besagt der entsprechende Artikel 26 (1):
    „Handlungen, die dazu geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Vorbereitung eines Angriffskriegs, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“

    Noch schwerer wiegt, dass dieser Artikel inklusive eines Kommentars, der ausdrücklich Deutschland verpflichtet, allen ohne UN-Mandat erfolgenden Kriegshandlungen eine Absage zu erteilen, konstitutiver Bestandteil des 2+4-Vertrags ist, ergo eine Verpflichtung darstellt, die nicht nur die Bundesregierung gegenüber dem Souverän, dem bundesdeutschen Staatsvolk bindet, sondern auch gegenüber der Russischen Föderation, als Rechtsnachfolger einer der vier unterzeichneten Siegermächte, die übrigens als einzige – obgleich sie die größte Opfernation deutscher Kriegsaggression war – davon absah, die Einhaltung dieser Verpflichtung im Zweifelsfall durch auf deutschem Territorium stationiertes Militär erzwingen zu können.

    Die Unterstützung der US-orchestrierten Konfrontationspolitik, die übrigens spätestens mit den olympischen Winterspielen in Sotchi in einer aggressiven Einheitlichkeit beunruhigender Medientenor auch hier war, hätte ergo weder durch die öffentlich-rechtlichen Medien, deren Staatsverträge die Friedensverpflichtung beinhalten, noch weniger durch politische Repräsentanten erfolgen dürfen.

    Es ist somit kein Wunder, dass sich sowohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk wie die beiden regierenden Volksparteien in der größten legitimatorischen Krise ihrer Geschichte befinden.

    Und noch unglaublicher ist, dass – wie zahlreiche Umfragen trotz einer orchestrierten medialen Hetze belegen – sich die hierauf deutlich artikulierende Mehrheit der Bevölkerung, denen diese Politik unheimlich ist, seit 2014 systematisch diskreditiert und mit Rufmord und übler Nachrede medial in den Schmutz gezogen wird.

    Deshalb rührt diese Konfrontationspolitik und die blinde Unterordnung deutscher Politiker und Journalisten (derjenigen, die beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk beschäftigt und ergo den Bestimmungen der Staatsverträge der Landesmedienanstalten unterliegen) an die Grundfeste unseres Staates.

    Ich weiß in diesem Zusammenhang sehr gut, wovon ich Rede – konnte ich doch am eigenen Leib erfahren, welchen Diffamierungen Menschen ausgesetzt waren und immer noch sind, die das, was seit 2014 geschieht, ungeheuerlich fanden – obwohl ich mich dabei immer wieder explizit auf das Grundgesetz bezogen habe.

    Die Stoßrichtung gezielter Diffamierung fuhr dabei die rhetorische Linie, dass denen, die sich gegen die antirussische Konfrontation zur Wehr setzten, pauschal unterstellt würden, sie würden damit apologetisch für das eintreten, was nach Auffassung von Leitmedienjournalisten der Gehalt der Politik des russischen Präsidenten darstelle – und da unbelegt behauptet wurde, die russische Regierung unterhalte strategische Beziehungen zu rechtsextremistischen und rassistischen Kräften in Deutschland, wurden zudem auch rein friedenspolitische Positionen mit einem generellen, obgleich widersinnigen Rassismusverdacht bedacht.

    Als Resultat kann man hieraus nur ziehen, dass in den letzten fünf Jahren nicht nur zwischen Deutschland und Russland viel Porzellan zerschlagen worden ist, sondern auch zwischen medialen und politischen Repräsentanten und gerade dem aktiven und das Grundgesetz bewusst vertretenden Teil der deutschen Bevölkerung.

    An diesem Umstand zeigt sich am deutlichsten, warum die Behauptung einer „transatlantischen Wertebasis“ eine große Illusion ist. Denn das Grundgesetz mag ja hundertfach unter US-amerikanischer Besatzung in Kraft getreten sein, doch bereits die NSA-Totalüberwachung beweist, dass die Grundrechtssubstanz unserer Verfassung mit dem derzeitigen Zustand der transatlantischen Beziehungen nicht mehr vereinbar sind. Dies betrifft sowohl die verbürgten Grundrechte nach Artikel 4 und 5, die die von der Exekutive unbehelligte Informationsbeschaffung und Meinungsmitteilung vorsehen, sofern kein gerichtlicher Verdacht des Missbrauchs aufgrund eines strafrechtlichen Verstoßes besteht, sowie das Fernmelde- und Postgeheimnis (Artikel 10) sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung (durch Verwandlung von internetfähigen Haushaltsgeräten und Telefone/Handies in Insrumente geheimdienstlicher Ausspähung von Bürgern).

    Bereits das Bekanntwerden der NSA-Affäre, die ja uach die Frage aufwarf, zu welchem Zweck seitens der US-Regierung gegenüber der deutschen Bevölkerung ein Spionageaufwand betrieben wird wie gegenüber keinem anderen Land der Welt, stellte sich die Frage – angesichts der Untätigkeit der deutschen Regierung, ob diese überhaupt willens ist, uns gegen die USA auf der Grundlage unserer Verfassung zu vertreten.

    Die Unglaublichkeit des mit Sotchi einsetzenden medialen Kriegsdiskurses und die orchestrierte Diffamierung von jedem, der sich hierüber irritiert und entsetzt fand, legte nahe, dass erneut die Deutschen um jeden Preis dazu genötigt werden sollten, ihr Land zum Schlachtfeld und den eigenen Leib, das eigene Leben wie das unserer Kinder als Schlachtfeld und Kanonenfutter für eine US-Hegemonialpolitik zur Verfügung zu stellen, die im Zweifelsfall auch um den Preis der atomaren Elimination Mitteleuropas durchgeführt werden sollte.

    Diese Auffassung lässt sich eindeutig zahlreichen öffentlich zugänglichen sicherheitspolitischen Publikationen der US-Regierung und des Pentagon entnehmen.

    Zugleich wurden, im Zuge dieser Politik, Steuergelder darauf verwandt, um durch 24 NATO-Exzellenzzentren, zahlreiche transatlantische Netze und die East StratCom Taskforce dafür zu sorgen, dass es jenseits eines diese Politik zementierenden medialen Diskurs keine öffentliche Stimmen mehr geben dürfe, die nicht nach Kräften medial diffamiert würden – wie dies Snowden Leaks ja als gängige Praxis von NSA und GCHQ nachwiesen.

    Aus diesen Gründen ist die Konfrontationspolitik gegen Russland, in deren Zuge ja gegen den Willen von 95% der deutschen Bevölkerung die US-Waffenarsenale im nächsten Jahr aktualisiert wurden, während drei USamerikanische NATO-Generäle (darunter Hodges und Scaperotti) öffentlich rausposaunt haben, auf Dauer sei der Nuklearkrieg gegen Russland „unvermeidlich“ (und keine dieser Herren verlor danach hochkant seinen Job), eine, die die Grundlagen der deutschen Politik im Kern erschüttert.

    Sehen es die uns regierenden Politiker, überhaupt noch als ihre Aufgabe, uns auf der Grundlage der deutschen Verfassung zu repräsentieren?

    Genügt ihr unter libertärer Rhetorik auftretendes politisches Verständnis überhaupt noch den rudimentärsten Ansprüchen staatlicher Legitimität im primitivsten hobbesschen Sinne? Fühlen sie sich noch verpflichtet, unser blankes Leben gegen die USA zu verteidigen und zu bewahren? Oder sind sie nur noch Schauspieler, die uns dazu brigen sollen, zu schlucken, was Kräfte über uns verfügen, die wir gar nicht mehr wählen oder abwählen können?

    Ich bin Beamtin, ergo dem Grundgesetz verpflichtet. Aber kann ich das Grundgesetz noch mit oder nur noch gegen die eigene Regierung verteidigen?

    Das sind ernsthafte Fragen – die ich unter meinem Klarnamen seit 2013/2014 permanent stelle – und ich habe nicht einmal eine ernsthafte Antwort erhalten.

    So wie mir ergeht es vielen, wenn nicht einer Mehrheit, wie zahlreiche Umfragen (von der Körber-Stiftung, Forsa für wiese-consulting, aber auch US-amerkanischer Institute wie Gallup und PEW), aber auch die gravierenden Wahl- und Umfrageschlappen sowie die extreme Unbeliebtheit der gerade zur EU-Kommissionspräsidentin erhobenen ehemaligen Verteidigungsminsterin belegen. Wann erhalten wir Antwort auf die Bedenken, die wir trotz orchestrierter Diffamierungen beständig artikuliert haben?

    Wie konnte unsere politische Sphäre derartig in dieser Konfrontation degenerieren, dass unsere berechtigten Sorgen und Proteste derart verlogen in den Dreck gezogen werden konnten, was wir belegen können, durch
    – die veröffentlichten Dokumente zu ähnlichen Praktiken von GCHQ und NSA in den Snowden-Leaks
    – Publikationen zum medialen „Informationskrieg“ für die NATO-Konfrontation durch steuerfinanzierte sogenannte „NATO-Exzellenzzentren“ wie die JAPCC. In deren Konferenz im November 2015 rief sie ernsthaft vor allem eingeladene deutsche Journalisten dazu auf, friedenspolitische Stimmen und Persönlichkeiten mit medialen Diffamierungen zu überziehen, um dem vermeintlich pathologischen Pazifismus in Deutschland entgegenzusteuern! Dass dies nicht erst 2015 begann, belegt die emprische Forschung des Medienwissenschaftlers Uwe Krüger (Meinungsmacht, 2014) sowie empirische Arbeiten über die Zusammenarbeit von NATO und PR-Agenturen durch den Medienwissenschaftler Jörg Becker.
    – sicherheitspolitische Publikationen des Pentagon und anderer Stellen der US-Regierung spätestens seit der Regierungstätigkeit von George W. Bush?

    Wie konnte ein totalitärer Diskurs derart Oberhand gewinnen, dass fest auf dem Grundgesetz basierende friedenspolitisch motivierte und der deutschen Geschichte höchst bewusste Menschen, die sich als Stabilitätsfaktoren unserer verfassungsmäßigen Ordnung sahen und sehen, mit rechtsextremen Gestalten und dubiosen rechten Spinnern, die von der Existenz von Chemtrails, Manipulationen der Gedanken durch Stiko-Impfungen und Phantasien über einen vermeintlich zentral geplanten „Bevölkerungsaustausch“ einer konspiratorischen Elite ausbreiten? Mit solchen verrückten Ansichten wurden Leute in Beziehung gesetzt, die – mit Recht – darauf verwiesen, dass US- und NATO-Kriege gegen den Irak und Lybien sowie die geopolitische Zusammenarbeit mit terrorunterstützenden Ländern wie Saudi Arabien entscheidende Faktoren bei der Nomadisierung von Zivilisten im Nahen Osten sind und waren – wie auch brachiale, die Bevölkerung strangulierende Sanktionen wie in Lybien.

    Ich glaube, dass dies das Haupthindernis für eine so notwendige Umkehr in der Konfrontationspolitik darstellt: Zuzugeben, dass die Politik des sogenannten „Westens“ nicht mehr im Ansatz den Anforderungen unserer Verfassung und einer rationalen Vorstellung von Repräsentanz entspricht, obgleich sie wohlfeil mit einer identitär-libertären Rhetorik, vor allem unter Obama, „verkauft“ wurde, die mit Liberalismus im ureigensten Sinne des Wortes gar nichts mehr gemein hatte.

    Die Demokratie ist nicht deshalb die beste Staatsform, weil Demokraten gegen die Versuchung immun sind, aus machtpolitischen Gründen die Demokratie bis zur Unkenntlich zu schleifen, sondern nur sofern ihre Gesellschaften zur Selbstkorrtur fähig sind. Auch russischen Zweifeln an unserer Demokratie können wir am besten begegnen, wenn wir aktuell diese Korrekturfähigkeit unter Beweis stellen und zu einer unserer verfassungsmäßigen Ordnung entsprechenden Politik zurückkehren, die uns nicht nur historisch Entspannungspolitik gegenüber Russland nahelegt, sondern diese verfassungsrechtlich vorschreibt. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch nur so unsere innenpolitische wie unsere europapolitische Krise überwunden werden kann.

    Für einen Irrtum jedoch halte ich Christian Wipperfürths Annahme, dass die muskuläre antirussische Politik wegen der Menschenrechtsrhetorik, mit der sie verkauft wurde, bei einer nennenswerten Anzahl von Wählern gut angekommen sei. Dagegen sprechen das reale Wahlverhalten der Deutschen sowie alle repräsentativen Umfragen. Was Bahr und Schmidt vor ihrem Tod forderten, dürfte von mehr als 80% der Deutschen mit Herzblut unterstützt werden. Wenn aber eine solche, unserer historischen Erfahrung wie unserem Grundgesetz gerecht werdende Politik nicht mit dem transatlantischen Büdnis vereinbar sind, ist dieses aufzukündigen. Denn unsere Regierung ist grundgesetzlich nicht US-Politikern, sondern dem Grundgesetz und – laut Artikel 2 – Leib, Leben und Frieden der eigenen Bürger verpflichtet, um auf dieser Grundlage dem Frieden in Europa und der Welt zu dienen.

    Vor allem die SPD sollte sich klarmachen, dass sie unter der Führung der Sozialdemokraten, die dieses Buch bereicherten, als älteste demokratische Partei Deutschlands einst über 40% Zustimmung verlor und nach dem Verlust von zwei Dritteln ihrer Wähler sträflich ihre Existenz aufs Spiel setzt, seitdem sie sich muskulärer Hegemonialpolitik beugt. Von ihrer Lernfähigkeit könnte das Überleben der durch einen erneuten Weltkrieg von Vernichtung bedrohten Europäer abhängen. Niemals dürfen wir vergessen, dass der Frieden das höchste aller Güter ist, weil ohne ihn alles verloren ist – auch und gerade die Freiheit und die Würde des Menschen, wie unser in Teilen totalitär gewordener veröffentlichter Diskurs ausdrucksvoll beweist.