Staatsdumawahl – Generalprobe für die Präsidentenwahl 2024?Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Staatsdumawahl – Generalprobe für die Präsidentenwahl 2024?

[Eberhard Schneider] Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr das russische Parlament, die Staatsduma, an drei Tagen gewählt, vom 17. bis zum 19. September. In die Wählerlisten waren 108 Mio. Personen eingetragen in 96.000 Wahllokalen. Für die 450 Abgeordneten der 8. Legislaturperiode kandidierten 3.812 Personen in 14 Parteien.[1] Gewählt wurden 450 Angeordnete, je die Hälfte direkt, die andere Hälfte mit Verhältniswahlstimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 51,7 % um 3,8 % höher als 2016 (47,9 %). Als neue Partei konnte die Partei „Neue Menschen“ mit 5,3 % die Fünf-Prozent-Hürde knapp überwinden und in die Staatsduma einziehen.[2]

Staatsdumawahlergebnisse ab 2003 (in %)

Wahljahr

(Präsident)

Einiges
Russland (ER)
(Veränderungen zur Wahl davor)
KPRF

(Veränderungen zur Wahl davor)

LDPR
(Veränderungen zur Wahl davor)
Gerechtes Russland* (GR)
(Veränderungen zur Wahl davor)
Neue
Menschen (NM)
(Veränderungen zur Wahl davor9
2003 (Putin) 37,6 12,6 11,5 9,0
2007 (Putin) 64,3** 11,6 8,1 7,8
2011
(Medwedew)
49,3 19,2 11,7 13,2
2016 (Putin) 54,2 (+4,9) 13,3 (-5,9) 13,1 (+1,4) 6,2 (-7,0)
2021 (Putin) 49,8 (-4,4) 18,9 (+5,6) 7,6 (-5,7) 7,5 (+1,3) 5,3 (-)

* durch Parteienfusion 2021 neuer Name „Gerechtes Russland –für die Wahrheit“

** 2007 gab es nur das Verhältniswahlrecht, deshalb das hohe ER-Wahlergebnis

Verlierer der Wahl (-5,7 %) ist die nationalpopulistische „Liberal-demokratische Partei Russlands“ (LDPR) des Waldimir Schirinowskij. Ihm ist es nicht gelungen, sein nationalistisch orientiertes Elektorat zu erweitern, wahrscheinlich weil dessen älteren Anhänger inzwischen langsam aussterben. Gewinner der Wahl ist – natürlich außer der Machtpartei „Einiges Russland“ (ER) – die „Kommunistische Partei der Russischen Föderation“ (KPRF), die mit 18,9 % ihr bestes Ergebnis seit 1999 errang, weil außer ihr keine andere Partei zugelassen war, die Proteststimmen auf sich ziehen konnte. Möglicherweise hat ihr auch Alexej Nawalnijs „Smart-voting-System“ geholfen, dass 137 Kommunisten von den 225 Direktwahlkandidaten unterstützten (61 %).[3] Im Interview mit dem „Spiegel“ hatte Nawalnij am 1. Oktober 2020 erklärt, dass er kein Problem darin sehe, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. „Wir müssen erst einmal eine Koalition aller Kräfte schaffen, die für die Abwählbarkeit der Machthaber eintreten.“ Eine der Präsidialadministration nahestehende Quelle erklärte, dass der Kreml beschlossen habe, der Partei „Neue Menschen“ grünes Licht zu geben, damit die KPRF nicht die Stimmen derer sammeln könne, die mit der Regierung unzufrieden seien und damit mehr als 20 % der Stimmen bekomme.[4]

Die Machtpartei ER konnte ihre verfassungsändernde Drei-Viertel-Mehrheit mit 72 % wahren (2016 76 %) dank ihrer Siege in 198 Direktwahlkreisen, ihre Fraktion verjüngte ER um 46 % am meisten (148 von 324).[5]

Die KPRF gewann nur 9 Direktwahlkreisen, GR acht und die LDPR zwei.[6] ER standen in einem viel größerem Maß als den anderen Parteien administrative Ressourcen zur Verfügung (öffentliche Gebäude, Beamtenapparate usw.). Die ER-Fraktion verkleinerte sich um 19 Abgeordnete, die der Kommunisten vergrößerte sich um 15 Deputierte.

Um die Wahlbeteiligung zu erhöhen und wohl auch als Anreiz, dann ER zu wählen, versprach Putin den Pensionären nach der Wahl die einmalige Zahlung von 10.000 Rubel (117 €) und den Militärveteranen 15.000 Rubel (176 €).[7] Der Erhöhung der Wahlbeteiligung diente auch die erstmalige Verlängerung der Abstimmungsmöglichkeit auf drei Tage, die vielleicht auch mehr Möglichkeiten bot, ausgefüllte Wahlscheine nachts unbeobachtet in die Wahlurnen zu werfen. Der Zugang zu den Videokameras, welche die Wahllokale überwachen, wurde beschränkt. In Moskau und in einigen anderen ausgewählten Regionen wurde zudem die Online-Stimmabgabe eingeführt.

Nicht nur Alexej Nawalnij durfte nicht kandidieren, sondern auch Mitlieder seiner Stiftungen zur Korruptionsbekämpfung und zum Schutz der Bürgerrechte sowie deren regionale Organisationen, die am 9. Juni 2021 als „extremistisch“ eingestuft und damit auf eine Ebene mit Terrorismus gesetzt und verboten worden waren, deren Webseiten wurden gesperrt.[8] Am 10. September forderte die russische Medienaufsichtsbehörde „Roskomnadsor“ von den amerikanischen Tech-Giganten Apple, Google, Cloudflare und Cisco, den Begriff „umnoje golosowanije“ („smarte Abstimmung“) unter Strafandrohung bei seinen Suchergebnissen nicht mehr zu verlinken.[9] Um die Zahl der Wähler zu erhöhen, wurden für schätzungsweise 150.000 der 600.000 Inhaber russischer Pässe in den ostukrainischen Separatistengebieten 825 Bus- und zwölf Eisenbahnverbindungen zur Fahrt in das russische Rostow-Gebiet eingerichtet, damit diese Personen dort wählen konnten.[10]

Die Kommunisten haben Anträge auf Protestaktionen gegen Wahlfälschung für den 25. September und den 3. Oktober in über 80 Regionen gestellt, die allerdings fast überall abgelehnt werden dürften. Im Falle der Ablehnung plane man, die Aktionen als Treffen mit Abgeordneten durchzuführen“.[11]

Laut der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, Ella Pamfilowa, betrug die Gesamtzahl der internationalen Wahlbeobachter 250, die sich auf Vertreter von 55 Staaten verteilten, zehn internationale Organisationen, 34 nationale Parlamente und andere.[12] Die Wahlbeobachtungsorganisation OHDIR der OSZE lehnte die Entsendung von Wahlbeobachtern ab, weil ihr nur 60 erlaubt worden waren statt der 500, die sie sonst immer entsandte.[13]

Russische Stimmen

Der Leiter des Programms „Innenpolitik und politische Institutionen“ bei Carnegie Moskau, Andrej Kolesnikow, meint, dass die Staatsdumawahl oft „entweder grob überbewertet oder ernsthaft unterschätzt“ werde.[14] Dabei stünden die Behörden vor der nicht einfachen Aufgabe, demokratisch gesinnte Wähler davon zu überzeugen, dass es keinen Sinn mache zu wählen (durch strikte Filterung der Kandidaten), während sie alle Anstrengungen unternehmen müssen, um die Wahlbeteiligung unter den konformistischen und staatlich abhängigen Wählern (in staatlich finanzierten Einrichtungen wie Bildungswesen und Gesundheitssystem Tätige) zu erhöhen. „Es ist das russische Regime und nicht die Öffentlichkeit, welche die Wahlen braucht. Sie dienen dazu, die Legalität und Legitimität des Regimes zu bestätigen und auch die sogenannte Mehrheit relativ mobilisiert zu halten.“ Bei der Parlamentswahl gehe es nicht um die Umbildung der Staatsduma oder um Machtrotation, nicht um politische Repräsentation, denn große Teile der Wählerschaft seien im Parlament nicht vertreten, da es nur als „Vertretungsorgan für voraus ausgewählte Eliten und Clans“ fungiere, die Wahl sei eine Art „staatlicher Therapie“: „Ziel der Wahl ist es, dem Großteil der Wählerschaft, die angesichts der wachsenden Unzufriedenheit mit der Situation im Land offenbar immer weniger Gründe hat, sich zu einigen, zu zeigen, dass sie immer noch in der Mehrheit sind und Putin immer noch unterstützen.“

Kolesnikow hat keine Illusionen: „Weniger Menschen sind offen gegen das Regime als aktiv für es, aber der Großteil der Wählerschaft ist eine apathische Mehrheit, die sich leicht an jede Situation anpasst. Ihr Hauptanliegen ist es, einen stabilen Job und ein stabiles Einkommen zu haben.“ Laut Kolesnikow „stimmt der verarmte Teil der russischen Bevölkerung – diejenigen unterhalb der Mittelschicht – für das Regime“. Da der Staat eine immer größere Rolle in der russischen Wirtschaft spiele, sei er für den verarmten Teil der Bevölkerung ihre einzige Geld- und in vielen Fällen Beschäftigungsquelle. Die Mobilisierung derjenigen, die vom Staat abhängig sind, indem auf sie administrativer oder unternehmerischer Druck ausgeübt werde, sei das Hauptinstrument der autoritären Herrschaft Russlands.

Laut Tatjana Stanowaja, der ehemaligen Leiterin der analytischen Abteilung der bekannten Moskauer Denkfabrik „Zentrum politischer Technologien“, kann sich die Staatsdumawahl als Abschiedstournee der Machtpartei „Einiges Russland“ in ihrer aktuellen Besetzung herausstellen.[15] Seit einigen Jahren gebe es innerhalb der russischen Führung hinter verschlossenen Türen eine Debatte darüber, was mit ER geschehen solle, es hätten sich zwei Lager herausgebildet. Für das erste Lager bleibe ER eine „mächtige politische Kraft mit einem wertvollen Unterstützungszentrum und dem Potential für einen Rating-Schub“, diese „unersetzliche Säule des Regimes“ müsse gestärkt werden. Diese Sichtweise vertreten der Sekretär des ER-Generalrats und Stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrats, Andrej Turtschak, der ER-Vorsitzender Dmitrij Medwedew sowie Verteidigungsminister Sergej Schojgu, die Silowiki und konservative Kreise. Das zweite Lager gehe davon aus, dass die ER-Perspektiven „nebelhaft“ seien. Die Partei sei „moralisch verschlissen“ und habe ihr „Potential für die Notwendigkeit einer Erneuerung ausgeschöpft“. Der russische Präsident Wladimir Putin gehöre, „seinen Taten nach zu urteilen, sowohl politisch als auch psychologisch zum ersten Lager“. Putin brauche die Wahl, um die „rechtliche Autorität seines Regimes zu bekräftigen, auch gegenüber der Elite, die keiner Versuchung ausgesetzt sein darf, sich auf die Suche nach einem Nachfolger für Putin zu bewegen“. Putin sehe in den Wahlen einen Beweis dafür, dass das bestehende System „effektiv, zweckmäßig und das Beste“ sei, was es gebe. „Dies habe zu einem Führer geführt, der nichts ändern will und glaubt, dass die glorreiche Zukunft angebrochen ist und zu einem beträchtlichen Teil der Elite, der sich in dem problematischen Status quo zunehmend unwohl fühlt.“

[1]              https://rg.ru/2021/09/15/ella-pamfilova-soobshchila-o-gotovnosti-strany-k-vyboram.html

[2]              https://www.kommersant.ru/doc/4996330

[3]              https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analyses/2021-09-20/russias-parliamentary-elections-choice-without-a-choice

[4]              Пятерка по подведению – Газета Коммерсантъ № 170 (7132) от 21.09.2021 (kommersant.ru)

[5]              www.vedomosti.ru/politics/articles/2021/09/22/887827-edinaya-rossiya-fraktsii?utm_campaign=newspaper_23_9_2021&utm_medium=email&utm_source=vedomosti

[6]              https://www.kommersant.ru/amp/4997061

[7]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2021/08/22/883039-predlozhennie-putinim

[8]              https://meduza.io/feature/2021/06/10/sud-priznal-struktury-navalnogo-ekstremistskimi-organizatsiyami-zasedanie-dlilos-12-chasov-a-reshenie-sudya-vynes-za-20-minut

[9]              https://www.interfax.ru/russia/791719

[10]             https://meduza.io/feature/2021/09/19/my-tut-vse-za-putina-tak-svoim-i-peredayte

[11]             Коммунисты хотели бы показать уличную борьбу / Политика / Независимая газета (ng.ru)

[12]             https://tass.ru/politika/12406141

[13]             Der Autor dieser Zeilen war früher öfter Teilnehmer solcher Wahlbeobachtungsmissionen.

[14]             https://carnegie.ru/commentary/85298

[15]             https://carnegie.ru/commentary/85343

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