Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XVII) – Heute: „am Puls der Zeit“, „Baby“, „Baumarktdrohnen“ und „brutal, ich weiß“

Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XVII) – Heute: „am Puls der Zeit“, „Baby“, „Baumarktdrohnen“ und „brutal, ich weiß“

von Leo Ensel.   Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils verharmlosender, teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft – uns alle – an das Undenkbare zu gewöhnen und möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln.

Abschießen statt Abwarten!

Neueste markige Devise des Markus Söder im Kampf gegen Flugobjekte unbekannter Herkunft. (Die allesamt, wie sich später herausstellte – und worüber die Leitmedien nicht berichteten –, mit Putins „Testen“ gar nichts zu tun hatten.) „Die Drohnenvorfälle zeigen den großen Druck. Ab jetzt muss gelten: Abschießen statt Abwarten! Und zwar konsequent! Unsere Polizei muss Drohnen sofort abschießen können.“ Dröhnte Söder gegenüber BILD. – Unwillkürlich fragt man sich, ab wann er die flotte Formel nicht mehr nur für Drohnen reservieren wird. Dazu lakonisch der ehemals ranghöchste Offizier der NATO, General a.D. Harald Kujat: „Hysterisieren ersetzt keine Strategie!“

Abschreckung (II)

„Abschreckung, mal ganz auf den Punkt gebracht, heißt: Ich hab‘ den Willen und die Befähigung zur Vergeltung, wenn jemand nicht an einem Waffenstillstand festhält! Das zu debattieren und darüber einen Rahmen zu stülpen, das ist jetzt die Herausforderung.“ So am 22. August 2025 Oberst André Wüstner – „seit mehr als zehn Jahren Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes“ – im DLF. Es ging um die sich „im Augenblick nicht stellende Frage“ nach deutschen „Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine. Dazu Wüstner in klarer deutscher Prosa: „Glaubwürdige Abschreckung heißt gegenüber Putin: ‚Wage es nicht, dann erneut anzugreifen – du wirst harte Konsequenzen spüren!‘ Und das betrifft letztendlich auch Schläge in der Tiefe. Das heißt: das Wirken mit Marschflugkörpern und vielen Dingen mehr… Das heißt, er muss erkennen, dass einer Drohung auch tatsächlich etwas folgen wird. Ansonsten brauchen wir gar nicht erst anfangen!“ So soll laut Wüstner die Bundeswehr auf ukrainischem Boden die Atommacht Russland abschrecken. – Kurz: Ein klinisches Musterbeispiel für den neuen deutschen Größenwahn! Kaiser Wilhelm und andere bedeutende Führungspersönlichkeiten der deutschen Geschichte lassen grüßen. (vgl. „Fähigkeitspakete“)

aktive Verteidigung

„Wir müssen uns aktiv verteidigen“, tönte am 19. November 2024 ein Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrat in einem Interview mit der NZZ. – Bedeutet nichts anderes als die in die „woke & wehrhafte“ Armee übertragene alte Fußballweisheit: „Angriff ist die beste Verteidigung!“ Kein Wunder, dass der Generalleutnant im selben Atemzug auch noch eine „offensive Mentalität“ forderte.

allgemeiner Wehrdienst auf freiwilliger Basis

Plant, laut Augsburger Allgemeine vom 28. August 2025, die Bundesregierung. – Semantischer Hochseilakt im Spannungsfeld zwischen Wehrpflicht und Freiwilligendienst. Will gleichzeitig allgemein (also verpflichtend) und freiwillig (also wählbar) sein – und schafft damit die sprachliche Quadratur des Kreises: Beruhigt die Pflichtskeptiker und beschwichtigt die Kriegstüchtigen. Ideal für Zeiten, in denen Zwang noch nicht vermittelbar, aber schon erwünscht ist. (vgl. „Fragebogen-Armee“)

am Puls der Zeit

„Ich glaub, man ist am Puls der Zeit“, verkündete stolz am 1. Juli 2025 Sven Kruck vom bayerischen Drohnenentwickler Quantum Systems im Deutschlandfunk. – „Am Puls der Zeit“ ist man natürlich in der Ukraine, die sich inzwischen als „lehrreiches Test-“ und „lukratives Geschäftsgebiet“ erwiesen hat. Für die deutsche Rüstungsindustrie.

angeblicher Friedensplan

Gerne auch „sogenannter“ oder „vermeintlicher US-Friedensplan“. So erklärte der Deutschlandfunk am 22. November in un-leichter Sprache seinen Hörenden, was sie vom jüngsten Plan des US-Präsidenten zum Ende des Ukrainekrieges zu halten haben.

antisemitisch

Ultimativer Argumentations-Joker, um jeden unbequemen Zeitgenossen bequem in einen Paria zu verwandeln. Passt immer – genauer: wird passend gemacht! – Oder auch nicht. „Antisemitisch“ sind laut Tobias Huch (FDP) jetzt auch Organisationen, die sich seit Jahrzehnten für deutsch-russische Verständigung und Freundschaft einsetzen. Zum Beispiel – huch!! – „das antisemitische, menschenverachtende und putin-verharmlosende ‚Bremer Friedensforum‘“. Eine inhaltliche Begründung für diese steile These blieb Huch selbstverständlich schuldig. (vgl. „menschenverachtend“)

Aufbruchstimmung

Freudige Kunde aus dem „Cyber- und Informationsraum“ (CIR) der zunehmend kriegstüchtigen Truppe: Er „besitzt sogar ein eigens ihm gewidmetes Musikstück. Wie es sich für die Bundeswehr gehört, handelt es sich um Marschmusik, die die Angehörigen bei vielen Festlichkeiten und Übergaben begleitet. Deshalb heißt das Musikstück ‚Cyber-Marsch‘. Er ist geprägt von einem kraftvollen Rhythmus im 6/8-Takt, einer schwungvollen Melodik und einer progressiven Harmonik. So symbolisiert der Charakter des Marsches die Kreativität, die Aufbruchstimmung und den visionären Tatendrang der Teilstreitkraft Cyber- und Informationsraum.“ Kurz: Aufbruchstimmung als freundliche Verpackung, in der alte militärische Reflexe als hippe Zukunftsvision verkauft werden. Funktioniert prima, solange man im 6/8-Takt bleibt – und keiner fragt, wohin eigentlich aufgebrochen wird. (vgl. „visionärer Tatendrang“)

Aufwuchspfad

„Die Zahl der aktiven Soldaten soll von aktuell rund 180.000 schrittweise auf 260.000 im Jahr 2035 steigen. Hinzu kommen 200.000 Reservisten. Dieser ‚Aufwuchspfad‘ soll gesetzlich verankert werden.“ – Pfad durch die militärische Baumschule, wo statt Bäumen Rekruten aufwachsen. Bis sie gefällt werden.

ausschalten

„Der ukrainische Generalstab hat gestern spät Abends gesagt, gestern seien bis zum Abend 119 russische Soldaten ausgeschaltet worden.“ So Ukraineexpertin Gesine Dornblüth am 6. November 2025 in den „Informationen am Morgen“ im Deutschlandfunk. – Frau Dornblüth meinte vermutlich, dass sie getötet wurden. (vgl. „liqudieren“, „neutralisieren“)

außereuropäische Wertepartner

„Sicherheit verlangt auch eine mutigere, proaktive Außenpolitik, die sich auf europäische Werte und Interessen gründet, sich aber an globalen Realitäten orientiert und enge außereuropäische Wertepartner mit einbindet.“ So die Bundespräsidenten Steinmeier und Van der Bellen in ihrer „Gemeinsamen Botschaft an die Europäerinnen und Europäer“. (Und nicht etwa an die – noch nicht mit eingebundenen – „außereuropäischen Wertepartner“.)

Baby

„‚Herr Pistorius ist unser Dauergast‘, hört man wohlwollend aus dem litauischen Verteidigungsministerium. Das Litauen-Projekt sei sein ‚Baby‘, also das Herzensprojekt von Pistorius, sagen Gesprächspartner aus seinem eigenen Haus immer wieder.“ So die Berliner Zeitung. – Ja, da wird einem warm ums Herz – und nicht zu vergessen: In der rührenden Verkinderung von Armeen, gar Waffen steht der deutsche Kriegstüchtigkeitsminister in einer ehrwürdigen Tradition. Eine gewisse Bombe, die vor 80 Jahren so richtig einschlug, hörte bekanntlich auf den Namen „Little Boy“!

Baumarktdrohnen

Schickte Russland – pardon: Putin – laut BILD am 10. September 2025 zuhauf nach Polen. „Aus Schaumstoff und Holz ++ So laut wie ein Moped!“ – Klingt irgendwie … enttäuscht! Viel LÄRM um nichts also, liebe BILD-Redakteure? Wären euch bewaffnete „stör-immune und massenproduzierbare“ HX-2-Kampfdrohnen mit „integrierter künstlicher Intelligenz sowie existierender Gefechtsmanagementsoftware und Anti-Struktur-Munition“ von Helsing lieber gewesen? Die wären jedenfalls nicht irgendwann einfach vom Himmel gefallen, sondern hätten ihre Ziele zuverlässig „liquidiert“! (vgl. „Schrottoffensive“)

Bedarfswehrpflicht

„Von 2026 an sollen alle jungen Männer ab Jahrgang 2008 verpflichtend gemustert werden. Werden die Zielvorgaben nicht erreicht, soll der Bundestag über die Einführung einer ‚Bedarfswehrpflicht‘ entscheiden.“ So die aktuelle Zielvorgabe für das künftig kampfbereite Deutschland. – „Bedarfswehrpflicht“: Rethorisches Sicherheitsnetz der Politik. Motto: Kommen nicht genügend freiwillig, droht der Zwang! (vgl. „offenstehen“, „zunächst auf Freiwilligkeit“)

Bedrohungslage vor Kassenlage

„Wir müssen jetzt wieder lernen, dass Bedrohungslage vor Kassenlage geht“, betonte unser Kriegstüchtigkeitsminister im September 2025. Er hätte es noch etwas eleganter formulieren können: Bedrohungslage als Kassenschlager! Für die Rüstungsindustrie.

Bereit sein zum Kampf

Aktuelle (1. Oktober 2025) Steigerung der einstmals noch etwas nebulösen Formel des Reservistenverbandes „Bereit sein ist alles“. Wer damals noch nicht dunkel ahnte wozu, weiß es jetzt: „Zum Kampf“, natürlich! „Ich will für ein Heer arbeiten, das bereit ist zum Kampf, das sich durchsetzt, das gewinnt“, tönte der frisch ernannte (und gerade zum Generalleutnant beförderte) neue Heeresinspekteur der Bundeswehr, Christian Freuding, freudig in seinem ersten Tagesbefehl. Kämpfen, Durchsetzen, Gewinnen… – Helfen dem wir verdrucksten Freuding noch etwas nach und reden wir Klartext: Was die Wehrmacht zwischen 1941 und 1945 nicht schaffte, das schafft jetzt die „woke & wehrhafte“ Bundeswehr – 80 Jahre später! (vgl. „Wille zum Kampf“)

besonders sensibel

Als solches gilt zum Beispiel „die Frage nach deutschen Soldaten auf ukrainischem Boden“. (Die sich ja gottseidank „zur Zeit“ bzw. „im Augenblick“ nicht stellt. Genauer gesagt: „verfrüht“ ist.) – „Sensibel“. Und auch noch „besonders“! Der Begriff verschiebt die Debatte von einer inhaltlichen Auseinandersetzung hin zu einem emotionalen Appell an das Taktgefühl: Thema heikel – darüber spricht man allenfalls im „vertraulichen“ Kontext!

bluffen

Tut Putin, der mit „Baumarktdrohnen“ bewaffnete Papiertiger – ähh: -bär –, ja nur, wenn er mal wieder mit seinen Atomwaffen droht. (Will sagen: Den Ukrainekrieg „nuklear unterfüttert“.) Aber bitte nicht vergessen: Zugleich ist der „zweite Hitler“ auch brandgefährlich. Wenn wir jetzt nicht „schnellstmöglich“ „whatever it takes“ aufrüsten, stehen seine Horden spätestens 2030, nein: 2029, nein: 2026, nein: „Heute Abend“ wieder vorm Brandenburger Tor! (Oder sind sie etwa schon da?) Der „letzte Friedenssommer“ ist bekanntlich vorüber…

brutal, ich weiß

„Das klingt jetzt brutal, ich weiß: Aber nach Berechnungen der Bundeswehr werden im Kriegsfall pro Tag 1000 Soldaten an der Front sterben oder so schwer verwundet sein, dass sie nicht mehr kämpfen können. Die müssen ersetzt werden – und zwar auch maßgeblich durch Reservistinnen und Reservisten.“ Ganze drei Wochen nachdem Kanzler Merz noch eine höchst verdruckste Einleitungsformel – „Ich will‘s mal mit einem Satz sagen, der vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen schockierend ist, aber ich mein‘ ihn genau, wie ich ihn sage“ – benötigt hatte, um seinen Landsleuten zu verklaren, dass ihr Land sich „auch nicht mehr im Frieden“ befände, sprach der Präsident des Deutschen Reservistenverbandes, Patrick Sensburg, bereits erheblich ungenierter Klartext. – Nochmal: Zwischen „ein bisschen schockierend“ und „brutal, ich weiß“ lagen nicht mehr als 21 Tage… – „Brutal, ich weiß“: Flotte Formel (das „ich weiß“ wirkt abwimmelnd und verstärkend zugleich), die moralische oder angsterfüllte Einwände scheinbar empathisch vorwegnimmt – um sich im Nu blitzkriegartig über sie hinwegzusetzen. (vgl. „lange und gründlich darüber nachgedacht“, „schonungslos“)

(wird fortgesetzt)

Erstveröffentlichung bei globalbridge.ch

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