Kommentar von Prof. Alexander Rahr. Die Eliten der EU geraten in Panik. Russland gewinnt in der Ukraine. Die Ukraine steht nach dem eigenen Korruptionsskandal vor dem Scherbenhaufen. Die Armee könnte bald kapitulieren. Russland stösst an der Front unentwegt vor. Ein Viertel des ukrainischen Staatsgebietes wird bald unter russischer Verwaltung bzw. Besatzung stehen. Die USA wollen den Krieg mit einem Friedensabkommen zwischen ihnen, Russland und der Ukraine schnell beenden. Die EU wird nicht gefragt, ist bei den Verhandlungen noch nicht einmal Zaungast.
In den europäischen Hauptstädten muss jetzt gehandelt werden, um die aussenpolitische Katastrophe der EU noch mit einem Gesichtsverlust zu verhindern. Das verworrene Geschwätz sogenannter Sicherheitsexperten aus westlichen längst ideologisch-geprägten Instituten und Regierungsberatungsstellen muss anderen – realpolitischen – Analysen weichen. Frische, intellektuell klarer denkende Experten, die seit 2022 ins Abseits gedrängt wurden, müssen wieder in Frontstellung gebracht werden. Den europäischen Bürgern muss reiner Wein eingegossen werden.
Zumindest müssen die Talk-Runden im TV ausgeglichener gestaltet werden, die derzeitige „moralische“ Bewertung Russlands, Trumps und Chinas muss einer soliden Nüchternheit und einem neuen Pragmatismus weichen, auch wenn es der eigenen Seele wehtut. Es geht um nichts anderes als um die Stabilität und Friedenssicherung auf unserem Kontinent. Wir sind gerade noch einem möglichen Atomkrieg entkommen. Man kann die Lage nicht mehr vom Wohnzimmersofa aus analysieren, Reisediplomatie nach Russland, China, Türkei müssen her – neue Kommunikationsstrukturen mit Russland müssen erschaffen werden, die EU wird nicht umhin kommen, den amerikanischen Friedensplan zu akzeptieren und den eigenen Grundsatz „Was nicht sein kann, darf nicht sein“ zu revidieren.
Nach dem Schock steht die EU vor neuen Problemen. Die Ukraine muss in die EU aufgenommen werden, andernfalls kann sie wirtschaftlich und finanziell kaum am Leben erhalten werden. Einen Zerfall des Westteils der Ukraine mit einem folgenden Exodus der Bevölkerung gilt es unter allen Umständen zu verhindern. Alles andere als ein Protektorat der EU ist für das staatliche und wirtschaftliche Funktionieren des drittgrössten europäischen Flächenlandes mit einer Bevölkerung von knapp über 30 Millionen Menschen (statt 45 Millionen im Jahre 1991) nicht existentiell. Die USA wird den Ukrainern nicht beistehen, Trump ist nur an den ukrainischen Rohstoffen interessiert. Die USA wollen, nach Afghanistan, Libyen, Irak in der Ukraine keine weitere geopolitische Niederlage erleiden.
Die Frage nach den Sicherheitsinteressen und Garantien für die Ukraine hat jetzt Priorität. Sie wird nicht durch NATO-Truppenpräsenz an der neuen Grenze zu Russland gelöst werden können. Es sei denn, alle Kontrahenten entschliessen sich zu einem neuen Kalten Krieg mit Aufrüstung, Abschreckung und Stationierung von Atomraketen in Europa. Dann rückt die Gefahr eines Atomkrieges, die abgewendet schien, wieder in grosse Nähe.
Die neue Sicherheitsarchitektur Europas sollte nicht auf der Stärke (oder Schwäche) der NATO basieren, sondern auf einer Neuauflage der OSZE. Diese Organisation muss den Frieden wieder sichern lernen, nicht ausschliesslich NATO-Staaten als Garanten für die Souveränität der Ukraine einbinden. Russland ist, anders als in der NATO, Vollmitglied der OSZE.
Das Buch „Das goldene Tor von Kiew“ (Das Neue Berlin, 2025) beschreibt Wege zu einer künftigen Friedensarchitektur in Europa. Doch vermutlich sind die Regierungen in der EU doch nicht bereit, eine Niederlage der Ukraine und ein grösseres Gewicht Russlands in Europa überhaupt in Erwägung zu ziehen. In manchen Metropolen glaubt man weiter an einen ukrainischen Sieg. Die überhand nehmende Hysterie in einigen Regierungen, das Leugnen der eigenen Niederlage, macht Politiker vollkommen blind für notwendige, nachhaltige Entscheidungen.
Wie die Entwicklung zeigt, hätte Europa die Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kiew gleich nach Kriegsausbruch unterstützen und nicht torpedieren sollen und sich nicht von Biden und Johnson verleiten sollten, den grossen Krieg bis zu einer unrealistischen strategischen Niederlage Russlands zu führen.
Schwierig wird es für die selbstgefälligen und rechthaberischen Mainstream Medien sein, sich umzuorientieren. Sie können allerdings ihre einseitige Berichterstattung, bzw. Kommentierung nicht mehr in der alten Form beibehalten. Wir leben nicht in einer Orwellschen Welt, die Wahrheit und Objektivität gehören ans Licht.
Dieser Artikel ist alles andere als ein pro-russischer Siegestaumel. Russland wird für den Krieg ebenfalls eine hohe Rechnung bezahlen. Die russischen Kriegsopfer sind sehr hoch. Russland wird sein derzeitiges Wirtschaftswachstum nach dem Ende der Kriegswirtschaft so nicht aufrechterhalten können – alleine fokussiert auf China, ohne direkte Investitionen, neuem Kapital und der wirtschaftlichen Kooperation mit Europa.
Eine dringende Empfehlung an Berlin, Brüssel, Paris, London: Telefonhörer abnehmen und Putin anrufen! Man muss keine Entspannungspolitik einläuten, aber einen Sicherheitsdialog über die europäische Architektur mit Moskau, Washington, Ankara endlich ins Auge fassen.

COMMENTS