POLITISCHE ÄQUILIBRIISTIK Wie die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine enden werden

POLITISCHE ÄQUILIBRIISTIK Wie die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine enden werden

Früher einmal habe ich im Zirkus gearbeitet, von daher weiß ich sehr gut, was Äquilibristik ist. Äquilibristik ist die Fähigkeit, in einer instabilen Körperhaltung das Gleichgewicht zu halten. Da bilanziert, beispielsweise, ein Seilkünstler; das Seil ist lose, aber der Künstler stürzt nicht ab. Das ist Kunst. Deshalb applaudiert das Publikum. Ich weiß auch im Allgemeinen, was politische Äquilibristik ist. Ich musste mich damit konfrontieren. Aber eine solche politische Äquilibristik, wie sie uns bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine gezeigt jetzt wurde, habe ich, ehrlich gestanden, noch nicht gesehen.

Zunächst einmal wurden etwa vier Millionen Wähler von den dortigen Wahlen ausgeschlossen. Im besten Falle. Auf dem Territorium Russlands, wo nach verschiedenen Schätzungen drei bis fünf Millionen Bürger der Ukraine arbeiten, wurden die Wahllokale gar nicht erst eröffnet. Zu den Wählerlisten gehören außerdem die Einwohner von Donbas – sie haben bis auf wenige Ausnahmen nicht an den Wahlen teilgenommen. Ihre Stimmen beeinflussten aber irgendwie das Endergebnis. Am überraschendsten ist, dass viele den verhassten Poroschenko  wählten! Die Agitation während des Wahlkampfs selbst war ziemlich schmutzig und beleidigend, gleichzeitig wurden Fakten offenbar, die ohne Wahlen nicht in die Öffentlichkeit gekommen wären. Zum Beispiel, Petro Poroschenkos Teilnahme an einem Betrug beim Ankauf von Waffenteilen für die ukrainische Armee zu einem niedrigen Preis  und dem Verkauf der gleichen Teile an seine eigene Armee – aber zu einem anderen, höheren Preis.

Beobachter aus Russland durften natürlich auch nicht teilnehmen. Einige russische Journalisten sind trotzdem in die Ukraine gereist, aber zu arbeiten wurde ihnen nicht erlaubt. Außerdem gab es Versuche, sie zu verprügeln. Beobachter aus anderen Ländern haben all diese Tatsachen „nicht bemerkt“. Die Amerikaner nannten die Wahlen sofort „demokratisch“ und erkannten sie an. Vertreter der OSZE und einiger Länder der Europäischen Union haben sich etwas gewunden, die wahl aber auch anerkannt. Im Ganzen gab es, wie üblich im Zirkus, Applaus.

Gleich nachdem der amtierende Präsident auf wundersame Weise die  Kandidatin neben ihm, Julia Timoschenko, überholt und sich in den zweiten Wahlgang geschlichen hatte, der am 21. April stattfinden wird, dachten die Äquilibristen nicht daran, wenigstens eine Pause in der Propaganda einzulegen, sondern provozierten gleich einen neuen Skandal. Poroschenko erklärte vor seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, Angela Merkel habe ihn angerufen und ihm persönlich zu seinem Einzug in die zweite Runde gratuliert. Natürlich waren viele überrascht. Warum gratulierte die Kanzlerin nur Poroschenko, der den zweiten Platz belegte, aber nicht Vladimir Selenskij, der die erste Runde gewann? Es stellte sich heraus, dass Merkel nicht angerufen hatte. Pjotr Aleksejewitsch hatte sie selbst angerufen und ihr berichtet, dass er es in die zweite Runde geschafft hatte. Selbstverständlich gratulierte Frau Merkel als gut erzogener Mensch. Alles wäre damit an seinem Platz gewesen, wenn nicht der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Dr. Johann David Wadephul im Bundestag von Wolodymyr Selenskij plötzlich verlangt hätte, zu erklären, wie er die Ukraine regieren und die Probleme lösen wolle, mit denen er bei einem Sieg in der zweiten Runde konfrontiert sein werde. Wahrscheinlich ist es sinnlos, Herrn Wadephul zu erklären, dass seine Frage eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ist. Wenn er es bisher nicht verstanden hat, wird er es nie verstehen.

Schließlich endete diese ganze wunderbare Wahl mit einem skandalösen Auftritt von Julia Timoschenko, die erklärte, dass die Wahlen von Petro Poroschenko manipuliert worden seien und sie die Wahlen nicht anerkennen werde. Sie wird aber auch nicht vor Gericht gehen, denn nach ihren Worten hat der derzeitige Präsident der Ukraine das Rechtssystem des Landes „privatisiert“.

Offen gesagt, verstehe ich auch nicht, wie der Schausteller und Komiker Selenskij in der Lage sein soll, mit Angela Merkel, Emmanuel Macron oder Vladimir Putin am Verhandlungstisch zu sitzen. Erstens hat er überhaupt keine Erfahrung in der Politik, und zweitens hat er kein politisches Programm. Aber auch dass er vorher allen Bewerbern weit voraus war und jetzt die erste Runde gewann, war keineswegs absurd. Warum nicht? Ich denke, dafür gibt es mindestens zwei auf der Hand liegende Gründe: Erstens sind die Ukrainer so müde von Politikern, so müde von der Korruption, dass sie beschlossen haben, für jemanden zu stimmen, der bisher nichts mit Politik zu tun hatte. Aber am kuriosesten ist der zweite Grund: Seit drei Jahren läuft die TV-Serie Servant of the People‘ auf dem „1+1“ TV-Kanal, in der Selenskij selbst die Rolle des Präsidenten spielt. Ein guter, fairer Präsident, der nicht selbst stiehlt und andere nicht besticht. Die Menschen stimmten nicht für eine Person, nicht für ein Programm, sondern für eine erfundene Fernsehfigur.

 

Gleichzeitig wissen und verstehen alle, dass Selenskij ein Protegé des berüchtigten Oligarchen Igor Kolomoiskij ist. Kolomoskij war bis vor kurzem nicht nur der reichste Mann der Ukraine, er war in die Gründung und Finanzierung nationalistischer privater Bataillone verwickelt, die den Krieg mit den selbsternannten Republiken Donbas begannen. Darüber hinaus ist das Pogrom in Odessa vom 2. Mai 2014, bei dem im Gewerkschaftshaus Menschen lebendig verbrannt wurden, ebenfalls mit dem Namen Kolomoyskij verbunden. Deshalb haben viele Menschen Angst, dass Selenskijs Sieg ein Sieg für Kolomoiskij mit allen sich daraus ergebenden Folgen werden könnte. Andererseits ist dieser Oligarch ein zynischer und pragmatischer Mann. Wenn er zu dem Schluss kommt, dass der Frieden in der Ukraine und die guten Beziehungen zu Russland für ihn profitabler sind als der Krieg, wird er versuchen, Frieden zu schaffen – wenn man ihn lässt. Fast alle Beobachter sich in einer Sache einig: Wer auch immer die Wahl gewinnt, am Ende werden die Amerikaner doch die Oberhand behalten. Sie haben offiziell 200.000 Dollar in die Ukraine überwiesen, „um die politischen Ziele der USA zu unterstützen“. Ja, heute ist die Ukraine ein völlig abhängiges Land. Fast eine Kolonie. Zu erraten, womit die Wahlen enden und was als nächstes passieren wird, ist daher noch zu früh. Alle ist möglich, irgendetwas. Uns bleibt die Rolle der Zirkuszuschauer, die applaudieren dürfen. Oder nicht applaudieren.

Efim Bershin

Übersetzung: Kai Ehlers

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