[von Kai Ehlers] Der russische Oppositionelle Alexei Nawalny brach auf einem Inlandsflug bewusstlos zusammen. Nach einer Erstversorgung durch russische Ärzte, liegt er jetzt in der Berliner Charité im Koma. Bundeskanzlerin Merkel und mit ihr das Gros der deutschen und europäischen Medien sprechen von einem Mordversuch und fordern Erklärungen von Russland. Die Frage ist aber, könnte ein toter Nawalny Russland oder Putin überhaupt nützen?
Geht man mit dieser, zugegeben krassen Frage an die Ereignisse um Nawalny heran, dann öffnen sie sich von einer überraschenden Seite. Als erklärter Anti-Korruptionsjäger, der seine Aufgabe bisher darin sah, mafiotische Seilschaften im Lande bis in Regierungskreise hinein aufzudecken, ist Nawalny eine politische Figur, die sehr widersprüchliche Gefühle auslöst. Und dieser Tätigkeit wird er, sollte er wieder voll zu Kräften kommen, was ihm zu wünschen ist, auch in Zukunft nachgehen. Jetzt war er in Nowosibirsk soeben dabei, die Verfilzungen der örtlichen Baumafia aufzudecken.
Solche und ähnliche Aktivitäten haben ihm Sympathien jugendlicher und liberaler Kreise und selbstverständlich die Gegnerschaft der herrschenden Bürokratie eingebracht. Deren Vertreter belegten ihn immer wieder mit kurzen Haftstrafen, schlossen ihn von der Kandidatur zum Präsidentenamt aus und verwehrten ihm die Gründung einer eigenen Partei. Ihn in einer längeren Haftstrafe zum Schweigen zu bringen, hielt man seitens der Herrschenden aber offenbar trotz seiner unbequemen und zum Teil provokativen Auftritte über all die Jahre seit seiner Gründung seines „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ 2011[1] nicht für nötig.
Vor diesem, zugegeben sehr knapp skizzierten, Hintergrund, ist ein politisches Interesse Wladimir Putins, oder allgemeiner gesprochen, der russischen Regierung Nawalny töten zu lassen, nicht zu erkennen, ganz zu schweigen von moralischen Aspekten. In einer Lage, in der Russland nach wie vor den aus dem Ukraine-Krim-Konflikt resultierenden Dauer-Sanktionen ausgesetzt ist, in der Russland der „Fall Skripal“ nach wie vor nachgetragen wird, in der die Auseinandersetzung um die Fortführung des Projektes Nordstream 2, aktuell angeheizt durch die USA, gerade in die Endrunde geht, und in einer Zeit schließlich, in der die Autorität der Regierung im Lande durch das Corona-Regime geschwächt ist, müsste Putin von allen guten Geistern verlassen sein, einen solchen Anschlag zu befehlen oder wissentlich zuzulassen. Dies umso mehr, als dieser Anschlag, wenn es denn einer war, was noch zu untersuchen sein wird, derartig stümperhaft durchgeführt wurde, dass das Opfer vor den Augen der Öffentlichkeit litt und gerettet werden konnte.
Kommt die Tatsache hinzu, dass Putin, genereller, die russische Regierung keine Einwände gegen die Überführung des im Koma liegenden Nawalny in ein deutsches Krankenhaus erhob, obwohl der Befund der russischen Ärzte nach der ersten Hilfe bereits vorlag und obwohl Putin nach den Erfahrungen mit dem „Fall Skripal“ damit hätte rechnen müssen, dass die deutsche Seite diesen neuen „Mordfall“ gegen Russland propagandistisch ausschlachten würde.
Da stellt sich eher die Frage, warum Putin und die russischen Behörden diese Überführung des Verletzten nicht verhindert haben, sondern umstandslos ermöglichten. Dies ist jedenfalls eher als Zeichen der Naivität zu bewerten, aus der heraus Putin und seine Umgebung offenbar glaubten, sich dieses Mal auf faire Untersuchungen und konkrete Hilfe zur Aufklärung des Vorganges durch die deutsche Seite verlassen zu können.
Wie fair diese Aufklärung verläuft, wird sich erst noch zeigen müssen. Bisher stehen die medizinischen Befunde der russischen und der deutschen Ärzte noch nebeneinander, obwohl sie zum Teil deckungsgleich sind. Klar scheint nach bisherigem Stand nur zu sein, dass die deutschen Mediziner nichts Genaueres gefunden haben als die russischen Ärzte, nämlich sog. Cholinesterase-Hemmer. Dagegen wurde von den russischen Ärzte bereits Atropin eingesetzt, so wie später auch von den deutschen – nur dass die deutsche Seite ihren Befund unter dem Sammelbegriff Nowitschok-Gruppe anders klassifizierte. Welches Element dieser Gruppe konkret vorliegt, ist nicht geklärt. Ein kooperativer offener Austausch der Ergebnisse steht noch aus.[2]
Wer springt auf?
Dass der „Fall Nawalny“ jetzt von den Gegnern der Nordstream 2 , angefangen bei den Hardlinern der CDU über die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine bis hin zur NATO und den USA benutzt wird, um die Verhinderung der zweiten Ostsee-Pipeline damit zu begründen, und für diese Verhinderung Stimmung zu entfachen, hätte sich Putin eigentlich denken können. Insofern ist die Bereitschaft der russischen Regierung Nawalny auf Wunsch seiner Angehörigen nach Deutschland bringen zu lassen eher ein Zeichen der Hilflosigkeit der russischen Seite in einer zwittrigen Situation, in der die Weigerung den Kranken nach Deutschland einfliegen zu lassen, den Verdacht hervorgebracht hätte, man habe etwas zu verbergen. Dagegen ist die Konfrontation der russischen und der deutschen Untersuchungsergebnisse das kleinere Übel. Mehr noch, es enthält sogar eher die Chance, wenn auch, wie sich zeigt, eine geringe, auf einen Austausch der russischen und der deutschen Untersuchungsergebnisse.
Fragt man weiter, wer Interesse am Tode Nawalny‘s haben könnte, so kommt man ganz schnell, wie oben schon angedeutet, zu Nawalny als hauptberuflichem Rechercheur mafiotischer Verbindungen. Zu verfolgen wäre die Spur, die ins landesweite Gestrüpp der Korruption führt. Da ist ganz offensichtlich, dass auch kein Putin in diesem Gestrüpp tatsächlich den autoritären Durchgriff hat, auch wenn sich das Niveau der Korruption aus der Zeit Jelzins inzwischen schon, vorsichtig gesprochen, eingeebnet hat, das heißt, aus dem Alltag in die dunklen Ecken der Gesellschaft und in deren Spitzen zurückgezogen hat. Nawalny ist ja nicht der alleinige Korruptionsjäger. Er ist, es sei erlaubt, das so zu sagen, nur die spontane Kraft, die das von unten ergänzt, was die organisierte Autorität von oben nicht schafft. Hier werden die Grenzen Putinscher Macht deutlich, der versprochen hat, mit einer „Diktatur des Gesetzes“ die Zeit der wirren Privatisierung der 90er Jahre zu beenden.
Anders gesagt, es ist sinnlos von Putin zu erwarten, dass er das Korruptionsgeschehen hundertprozentig im Griff hat und ihn für mögliche Verbrechen in dieser Szene persönlich in Haftung nehmen zu wollen, sagen wir ruhig, so wenig wie man Angela Merkel für die Toten von Hanau persönlich haftbar machen kann. Im Gegenteil dürfte hier der Grund zu suchen sein, warum Nawalny, dem provokativen Stil seiner Aktivitäten zum Trotz, von Putin und seinem Kommando nicht weggesperrt wurde, wie etwa seinerzeit Chodorkowski, solange er mit seinen Aktivitäten jene Unruhe in der Bürokratie schafft, die Putin, eingesperrt in Verpflichtungen seiner Konsenspolitik und die Pyramide der Wohlverhaltens des politischen Beamtentums gegenüber der Zentralmacht, nicht schaffen kann.
Noch klarer gesagt, Putin braucht Nawalny als Alter Ego, solange der sich an die Grenze hält von unter her zu agieren, was er bisher auch getan hat. Nawalny’s Schweigen wäre ein Verlust für eine lebendige Entwicklung Russlands.
Vor diesem Hintergrund sind alle Versuche des Westens, die jetzt Nawalny, Belarus, Chabarowsk, Nordstream 2 , Ukraine, Krim, Skripal, Syrien ‚und alles andere‘[3] in einem Topf zusammenkochen und zum sofortigen Stopp der Nordstram 2 aufrufen, nichts anderes als politischer Missbrauch eines medizinischen Hilfsgesuches: Aggression statt Unterstützung, begleitet vom Zurückhalten der Informationen, die für eine offene Kooperation zwischen den beteiligten Ärzten unerlässlich wären.
Wem also nützt das ganze Getrommel? Die Frage ist eindeutig zu beantworten: Sie nützt denjenigen, die eine Kooperation Deutschlands mit Russland in Sachen Nordstream 2 verhindern wollen. Die kann man jetzt am lautesten schreien hören. Da ist es dann ein bemerkenswerter Umstand, dass die deutsche Kanzlerin, obwohl sie es ist, die Russland am schärfsten aufgefordert hat, sich zu dem von ihr als unbestreitbare Tatsache bezeichneten Mordanschlag gegen Nawalny zu erklären, zugleich das ökonomische Interesse Deutschlands an der Weiterführung der Nordstream 2 vertreten muss. Man darf gespannt sein, wohin dieser Spagat führt. Nawalny‘s Gesundheit und Leben und die Rolle, die er in Russland wahrnimmt, spielen in diesen Auftritten nur noch die zweite Rolle, auch wenn Kanzlerin Merkel dem im Koma Liegenden ausdrücklich Gesundheit wünschte. Nun, immerhin.
Kai Ehlers www.kai-ehlers.de
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Anatoljewitsch_Nawalny
[2] siehe dazu den sehr ausführlichen im Tagesspiegel vom 25.08.2020 https://www.tagesspiegel.de/politik/russische-zweifel-an-der-nawalny-diagnose-wenn-sie-ihn-haetten-toeten-wollen-haetten-sie-ihn-getoetet/26124370.html)
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgaben 3. Und 4. 09.2020
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Und wenn es denn tatsächlich geschehen wäre, dass es „der CIA“, „der BND“ oder jedwede andere Macht gewesen sei, die den Giftanschlag um was auch immer auf Alexi Nawalny verübt hätten, dann wäre es direkt unter den Augen des allmächtig allgegenwärtigen FSB, der heutigen Ausgabe des einstigen KGB, geschehen. Es wäre, mit Verlaub, unter Berück-sichtigung, dass es auf Russischem Territorium, im Russischen Luftraum, unter der lücken-losen, andauernden Überwachung des FSB geschah, das dreisteste, frechste und heraus-fordernste Unternehmen einer Russland fremden Macht gewesen. Herausfordern und her-absetzend gegenüber dem Kreml. Eine zutiefst verletzende Schlappe für die Regierung und eine persönliche Demütigung für Präsident Vladimir Putin.
Danke, Herr Ehlers! Bleiben Sie gesund!
Der „Fall Nawalny“ nützt ja nicht nur den Hardlinern der CDU, deren historischer Kulturkampf gegen Russland systemimmanent ist. Auch die Krampfhennen der Grünen und Herr Özdemir hoffen daraus Honig saugen zu können. Und selbst der Biedermann Herr Steinmeier glaubt, seine SPD damit vor dem Untergang retten zu können.
Endlich eine objektive Sicht der Dinge! In der Tat dürfte doch die Antwort auf die Frage „cui bono“ klar genug ergeben, dass Putin auf gar keinen Fall der Mitwisser oder gar Auftraggeber dieses dilettantischen Mordversuchs sein kann.
Herr Ehlers,
eine Blutspur führt seit Jahren durch Europa, zuletzt im Tiergarten, jetzt Nawalny. Schon alleine die Wahl der Mittel – sei es Nowitschok oder Polonium (ein mutmaßlicher Täter wurde in die Duma befördert)- dient eben nicht nur zur Liquidierung der Opfer, sondern dient als Visitenkarte und Warnung an die Opposition und unbequeme Journalisten. Die derzeitige Regierung müht sich mit allen Kräften, destruktiv zu sein und in ihrer Hybris jedwede rote Linien zu überschreiten. Kann man ja auch: man ist das größte Russland der Welt. Es sind immer die selben Nebelkerzen und wüssten Theorien, welche als Antwort folgen. Ich warte noch auf den Tag, an dem erklärt wird, dass Trotzki nur unglücklich in einen Eispickel gestolpert ist.
Gemessen an der „Blutspur“ mit hunderten von Opfern, welche die USA im 20. und 21. Jahrhundert in aller Welt „ausgeschaltet“ haben, ist die „Blutspur“, die Russland hinterlassen hat, überschaubar. Hinzu kommt, dass die USA ihre ferngesteuerten Liquidationen von deutschem Boden aus durchführen dürfen. Auch der „Eispickel“ dem Trotzki zum Opfer gefallen ist, wäre nicht möglich gewesen, wenn Deutschland nicht dazu beigetragen hätte, mit der Einschleusung Lenins nach Russland die Oktoberrevolution in Gang zu setzen. Aber vor solchen Nebensächlichkeiten der Geschichte verschließen die Transatlantiker die Augen.
Danke, Herr Ehlers, für diesen Beitrag! Er hilft einem, die Übersicht zu behalten.