Aufwertung des Staatsrats zum Sicherheitsrat-Wirtschaft und welche Alternativen gibt es für Russlands Zukunft?Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Aufwertung des Staatsrats zum Sicherheitsrat-Wirtschaft und welche Alternativen gibt es für Russlands Zukunft?

[Eberhard Schneider] Am 14. Oktober 2020 brachte Präsident Wladimir Putin das Gesetz über den Staatsrat in die Staatsduma ein[1]. Es ist das wichtigste der über 100 Gesetze, die infolge der Verfassungsänderung vom März dieses Jahres[2] verabschiedet werden müssen. Der Staatsrat war kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten am 1. September 2000 per Erlass von Putin geschaffen worden als beratendes Ersatzgremium für die Gouverneure, die nicht mehr Mitglied des Föderationsrats – des Oberhauses des russischen Parlaments – sein durften. Bisher war der Staatsrat in der Verfassung nicht erwähnt.

Zu Beginn dieses Jahres war darüber fälschlicherweise spekuliert worden, ob Putin nach dem Ablauf seiner gegenwärtigen Amtszeit nicht vorhabe, durch einen politisch höher eingestuften Staatsrat, dessen Vorsitzender er ist, sich seinen Verbleib an der Macht zu sichern. Wie die Verfassungsänderung zeigte, wählt er den viel direkteren Weg, indem er seine bisherigen vier Amtszeiten auf null setzen ließ, so dass er 2024 wieder zweimal für das Präsidentenamt kandidieren kann.

Der Präsident bildet laut des neuen Artikels 83 f5 den „Staatsrat der Russischen Föderation, um das koordinierte Funktionieren und Zusammenspiel der Behörden sicherzustellen, die Hauptrichtungen der Innen- und Außenpolitik der Russischen Föderation und die vorrangigen Bereiche der sozio-ökonomischen Entwicklung des Staates festzulegen“.

Der Gesetzentwurf legt die Aufgaben, Funktionen und Grundsätze des Staatsrats fest. Vorsitzender ist der Präsident, Mitglieder von Amts wegen sind der Ministerpräsident, die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern Föderationsrat und Staatsduma, der Leiter der Präsidialadministration und die Leiter der Föderationssubjekte (Präsidenten der Republiken, Gouverneure der Regionen). Auf Beschluss des Präsidenten können dem Staatsrat auch Vertreter politischer Parteien, die Fraktionen in der Staatsduma haben, angehören, ferner Repräsentanten lokaler Regierungen, also kommunaler Verwaltungen, sowie andere Personen.

Die Sitzungen des Staatsrates finden regelmäßig gemäß den vom Präsidenten genehmigten Plänen statt. Auf Beschluss des Präsidenten können gemeinsame Sitzungen des Staatsrats unter Beteiligung von Vertretern der Regierung, der Parlamentskammern und anderer Gremien und Organisationen abgehalten werden. Die Interaktion zwischen ihnen soll durch ein spezielles Gesetz geregelt werden. Um seine Arbeitsfähigkeit zu erleichtern, kann der Staatsrat durch Beschluss des Präsidenten Kommissionen bilden, Arbeitsgruppen und andere Arbeitsgremien.

Auf der Grundlage der Ergebnisse der Sitzungen werden vom Präsidenten unterschriebene Entscheidungen ausgearbeitet, die als Empfehlungen zu strategischen Planungsfragen an die Regierung, an Föderationssubjekte oder kommunale Einheiten weitergereicht werden. Der Staatsrat kann in seinen Entscheidungen auf die Notwendigkeit von Gesetzesänderungen hinweisen.

Dem Sicherheitsrat, der als behördenübergreifendes und koordinierendes Organ für die Entwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik zuständig ist, gehören unter dem Vorsitz des Präsidenten neben den Spitzenvertretern von Militär, Geheimdienst und Außenpolitik ebenfalls der Regierungschef, die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, der Leiter der Präsidialadministration und die Leiter der Föderalen Bezirke – von Putin 2000 geschaffene Ebene zwischen dem Kreml und den Gouverneuren – an. Die wichtigste Figur im Sicherheitsrat ist nach dem Präsidenten dessen Sekretär, seit 2008 Nikolaj Patruschew, vorher FSB-Chef. Als Sekretär des Staatsrats soll offensichtlich ebenfalls ein bisheriger Inhaber einer wichtigen Position vorgesehen sein, der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin.[3] Da Wolodin karrieremäßig wohl kaum absteigen möchte, dürfte die neue Position, wenn er sie übernimmt, auch dafür sprechen, dass der Staatsrat eine Art Sicherheitsrat-Wirtschaft werden soll. Der Sicherheitsrat orientiert sich bei seiner Tätigkeit an den Doktrinen für Außenpolitik (2016), für Sicherheit (2009), für Militär (2014), für die Marine (2017) und für Informationssicherheit (2016). Für die Arbeit des Staatsrats dürfte die am 21. Januar 2020 von Putin unterzeichnete Doktrin für Ernährungssicherheit wichtig sein.

Der Staatsrat soll Zwischenglied zwischen föderaler und regionaler Macht sein, vor allem bei der Umsetzung der „nationalen Ziele“, die Putin am 22. Juli 2020 in einem Dekret festgelegt hatte[4] und deren Erreichung von 2024 auf das Jahr 2030 verschoben worden ist. Diese Ziele sehen u.a. vor, dass das BIP-Wachstum über dem Weltdurchschnitt liegt, dass sich die Lebenserwartung in Russland auf 78 Jahre erhöht und die Armutsrate im Vergleich zu 2017 halbiert wird. Dem Dekret zufolge soll Russland zu den zehn Ländern der Welt gehören, die in Bezug auf die Qualität der allgemeinen Bildung sowie auf den Umfang von Forschung und Entwicklung zu den zehn führenden Ländern der Welt gehören. Das Volumen des Wohnungsbaus soll auf mindestens 120 Millionen Quadratmeter pro Jahr steigen. Darüber hinaus soll sicherstellt werden, dass 100 % des Abfalls sortiert und die Menge des auf Deponien entsorgten Abfalls halbiert wird. Die Emissionen gefährlicher Schadstoffe, welche die größten negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit haben, sollen halbiert werden. Der Anteil des Straßennetzes in den größten Städten, der die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, sollte mindestens 85% erreichen. Die Rate des nachhaltigen Wachstums des persönlichen Einkommens und das Niveau der Altersvorsorge sollen nicht unter der Inflationsrate liegen.

Am 9. November 2020 veröffentlichte Carnegie Moskau die Studie über die „Alternativen für Russland: Wie Anhänger und Gegner von Veränderungen die Zukunft des Landes sehen“, die von Denis Wolkow (Stellvertretender Direktor des Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum), Andrej Kolesnikow (Leiter des Programms „Innenpolitik und politische Institutionen“ bei Carnegie Moskau) und Alexej Lewinson (Leiter der Abteilung soziologische Forschungen des Lewada-Zentrums) erstellt worden war.[5] Zu den „nationalen Zielen“ führen sie aus, dass diese die breite Masse kaum inspirieren, wenn sie überhaupt etwas über diese Ziele wissen. Die Aufgaben selbst scheinen nicht praktikabel. Regierungsinsider argumentieren, dass die Position des Präsidenten darauf hinausläuft, überhaupt ein Ziel zu haben, doch dessen Erreichung ist nicht von grundlegender Bedeutung.

In der Studie wurde auf der Suche nach Antworten so vorgegangen, dass in Moskau und in der relativ kleinen Stadt Jaroslawl jeweils drei Fokusgruppen mit Anhängern jeweils der drei folgenden politischen Richtungen getrennt befragt wurden:

  • Anhänger der gegenwärtigen Regierung („Loyalisten“), die für eine Verlängerung der Amtszeit von Wladimir Putin sind, wobei nur ein solcher Filter für die Auswahl dieser Gruppe verwendet wurde;
  • Anhänger der linken patriotischen Alternative („Traditionalisten“), deren Weltanschauung häufig linke und rechtsextreme Ansichten kombiniert;
  • Befürworter einer liberalen Marktalternative zum gegenwärtigen Kurs („Liberale“)

Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen:

  1. Die Behörden haben kein klares Bild von der Zukunft, und die Gesellschaft formuliert ihre Wünsche nicht klar genug, ganz zu schweigen, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Die Zukunftsmodelle der „Loyalisten“ und „Traditionalisten“ finden sich hauptsächlich in den historischen Präzedenzfällen des sozialistischen Projekts. Die „Liberalen“ beschreiben ihr Modell eines demokratischen freien Russland klarer und stützen sich dabei häufig auf den retrospektiven Standard Russland der Jelzin-Ära.
  2. Alle Teilnehmer der Fokusgruppen stellen die Unsicherheit der Perspektiven fest. Gleichzeitig äußerten sich viele Befragte trotz schwerwiegender politischer Meinungsverschiedenheiten pessimistisch über die Zukunft Russlands.
  3. Selbst diejenigen, die für die „Nullung“ der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten gestimmt hatten, sind in der Mehrheit keine leidenschaftlichen Anhänger Putins und verbinden mögliche Änderungen mit seinem Ausscheiden aus dem Amt. Sie stimmten rein mechanisch und rituell für die Verfassung und betrachteten es als ihre Pflicht, die Vorschläge der Regierung zu unterstützen. Das Motiv der Müdigkeit vom Präsidenten war bei den Befragten vorherrschend.
  4. „Loyalisten“ und „Traditionalisten“:
  • fordern eine Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft bis zur vollständigen Verstaatlichung aller Unternehmen.
  • bestehen auf der Fortsetzung der interventionalistischen Außenpolitik,
  • setzen ein Gleichheitszeichen zwischen der Entwicklung des Landes und der Wiederherstellung der sowjetischen Territorien.
  1. Das liberale Projekt sieht so aus:
  • Der Staat als Schiedsrichter- und Service-Staat,
  • freie wettbewerbsfähige Wirtschaft,
  • unabhängige Gerichte,
  • freundliches Geschäftsumfeld,
  • Wahlen im fairen Wettbewerb,
  • freie vom Staat getrennte Zivilgesellschaft,
  • Offenheit der Welt gegenüber.
  1. Das Wenige, das die verschiedenen Gruppen eint, unabhängig von der ideologischen Orientierung:

– die Idee des Wohlfahrtsstaats, der den Ungeschützten zu Hilfe kommt,

– positive Einstellung gegenüber den Kleinunternehmen,

– akkumulierte Irritation über die Bürokratie.

  1. Die Varianten des Machttransits sind nicht zu vielfältig. Grundsätzlich kommt es auf die Operation „Nachfolger“ von Putin an. Eine Revolution, ein Putsch, eine Verschwörung der Eliten werden nicht als realistische Szenarien gesehen.

Vertreter aller Lager sind sich oft einig über die Suche nach Beispielen für eine effektive Entwicklung Russlands: Kanada, Schweden, die Schweiz und Deutschland wurden häufig als Maßstäbe für Gerechtigkeit und wirtschaftliche Produktivität angeführt. Die „Traditionalisten“ und die „Loyalisten“ nennen China oft als das ideale Modell. Sie werden von der Kombination strenger Ordnung mit wirtschaftlicher Effizienz angezogen.

[1]              http://duma.gov.ru/news/49724/

[2]              Vgl. meine April-Kolumne.

[3]              https://www.ng.ru/politics/2020-10-26/1_7999_constitution.html

[4]              http://kremlin.ru/acts/news/63728

[5]              https://carnegie.ru/2020/11/09/ru-pub-83153

COMMENTS

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    Horst Beger 3 Jahren

    Die Aufwertung des Staatsrates zum Sicherheitsrat ist die konsequente Fortsetzung der Verfassungsänderung und längerfristig insbesondere für die Außen- und Sicherheitspolitik eine Gewähr, dass sich Russland auch in Zukunft gegen die wachsenden militärischen Aufrüstungen und Agressionen Deutschlands und des Westens behaupten kann. Insbesondere für Deutschland, das bereits zwei Weltkriege gegen Russland inszeniert und verloren hat, und offensichtlich auch vor einem dritten Weltkrieg im Schlepptau der NATO nicht zurückschreckt, ist dieses „Säbelrasseln“ und seine Folgen beinahe tragisch.

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