Aus dem Sumpf zum Triumph – Gedanken über die neue russische „Aristokratie“

Aus dem Sumpf zum Triumph – Gedanken über die neue russische „Aristokratie“

In den neunziger Jahren setzte in Russland eine merkwürdige Tendenz ein. Während das Land zusammenbrach, brach die Wirtschaft zusammen, während die Menschen monatelang und sogar jahrelang keine Löhne und Renten erhielten, bildete sich eine bestimmte Klasse von Menschen, die eine besondere Stellung in der Gesellschaft beanspruchten. Allerdings mit dem klassischen Begriff „Klasse“ konnte man sie damals kaum bezeichnen, denn weder die Arbeiter noch die Bauern noch die Intelligenz nahmen daran teil. Die neue „Elite“ bildete sich aus Vertretern des inneren Kreises des damaligen Präsidenten Boris Jelzin, Direktoren der verfallenen sowjetischen Fabriken, Vertretern des Showbusiness und regelrechten Banditen. Natürlich standen diejenigen, die Zugang zu den Einkünften von Rohstoffunternehmen hatten, nicht daneben.

Ich setzte das Wort „Elite“ in Anführungszeichen, weil sich die Elite meiner Meinung nach aus talentierten Wissenschaftlern, Schriftstellern, Philosophen und echten Kulturschaffenden zusammensetzen sollte. Aber wir haben eben nur das, was wir haben. Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen, Vereine und sogar Kindergärten für die Elite sind erschienen. Die „Auserwählten“ entwickelten eine verächtliche Haltung gegenüber allen anderen. Dann, in den neunziger Jahren, konnte man sogar in Fernsehdiskussionen hören, wie eine drittklassige Möchtegernsängerin einen talentierten Wissenschaftler fragte: „Wenn Sie so schlau sind, warum sind Sie dann so arm?“ Vor unseren Augen versuchte eine aufstrebende Konsumgesellschaft in das 19. Jahrhundert zurückzukehren und eine neue Aristokratie zu schaffen. Das heißt, eine neue Klasse von Auserwählten. Und sie wurde tatsächlich geschaffen. Zusammen mit seiner Ideologie, zusammen mit einer verächtlichen Haltung gegenüber der Bevölkerung des Landes und dem Land selbst. Dementsprechend zeigten sich unterschiedliche Interessen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Ein kleiner Teil davon wollte mit allen Mitteln reich werden, alles nur verscherbeln, auch das Land selbst. Und der Rest der Bevölkerung kämpfte ums nackte Überleben.

Heute ernten wir noch immer die Früchte dieses Schismas, dieser Ideologie, die nicht verschwunden ist. Man braucht nur die Seiten einiger Illustrierten zu durchstöbern oder sich einige Fernsehsendungen anzusehen, um sicherzustellen, dass die „Auserwählten“ gar nicht vorhaben ihre Positionen aufzugeben. Sie wollen in der Gesellschaft immer eine besondere Stellung haben. Die Widersprüche sind inzwischen so weit fortgeschritten, dass Präsident Putin in einem Interview mit der Financial Times bereits die Trennung der herrschenden Eliten vom Volk ansprach. „Das ist eine ganz offensichtliche Sache“, sagte er, „die Kluft zwischen den Interessen der Eliten und denen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Wir müssen das immer im Hinterkopf behalten.“

Wenn sie das im Kopf behalten müssen, dann sollen sie das tun. Obwohl mir scheint, dass ernsthafte soziokulturelle Veränderungen notwendig sind. Ich spreche nicht von radikalen Veränderungen des revolutionären Typs. Im Gegenteil, ich spreche von Veränderungen, die mögliche revolutionäre Stimmungen verhindern können. Wir sind bereits erfahren, und wissen, dass es nach jeder Revolution nur noch schlimmer wird. Und damit dies nicht geschieht, ist es notwendig, dem Massenbewusstsein echte Werte zurückzugeben. Diejenigen Werte, auf denen der Staat noch fußt. Diejenigen Werte, auf denen die moderne Welt aufgebaut wurde, bis sie von einer pseudoliberalen Idee zerfressen wurden. Und auf diesen Werten muss eine neue vereinigende Ideologie aufgebaut werden, die in der Lage ist, Menschen von einer totalen Konsumabhängigkeit zu befreien.

Tatsächlich war sogar die Aristokratie in Russland immer von einem erhöhten Pflichtgefühl gegenüber dem Land geprägt. Und für die heutigen Pseudoaristokraten bedeutet das Land nichts. Die Menschen bedeuten ihnen auch nichts. Es ist kein Zufall, dass es für solche frühreifen „Auserwählten“ eine genaue Definition im Volksmund gibt: „Aus dem Sumpf zum Triumph“. Die neuen Aristokraten sind keine echte Elite geworden. Aber ihren Sumpf werden wir noch jahrzehntelang austrocknen müssen.

Efim Bershin

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