Belarus rückt näher an RusslandSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Belarus rückt näher an Russland

Am russischen Nationalfeiertag „Tag der Einheit des Volkes“, dem 4. November, unterzeichneten in diesem Jahr der russische Präsident Wladimir Putin und sein belarussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko in einer Online-Sitzung des Obersten Staatsrats des Unionsstaats Russland-Belarus 28 Integrationsprogramme.[1] Ferner wurde die Militärdoktrin und das Konzept der Migrationspolitik des Unionsstaats verabschiedet. Putin unterschrieb in der Hauptstadt der Krim, in Simferopol, und Lukaschenko in der belarussischen Hauptstadt Minsk.[2] Lukaschenko, der bisher die Annexion der Krim durch Russland nicht anerkannt hatte, kritisierte Putin, dass er ihn zur Unterzeichnung nicht auch nach Simferopol eingeladen habe. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die bei der Präsidentenwahl im August 2020 anstelle ihres aus politischen Gründen inhaftierten Mannes Sergej Tichanowskij kandidierte und nur durch mutmaßliche massive Wahlfälschung Lukaschenko unterlegen war, sprach ihm die Berechtigung ab, die neuen Vereinbarungen zu unterzeichnen.[3] Der am 8. Dezember 1999 in Moskau gegründete Unionsstaats ist bisher kaum Realität geworden.[4]

Folgende Integrationsprogramme wurden vereinbart[5]:

  1. Konvergenz der makroökonomischen Politik, vor allem durch die Harmonisierung der Rechtsvorschriften.
  2. Harmonisierung der Geldpolitik. (Es gibt immer noch keine gemeinsame Währung, obwohl sie laut Vertrag geschaffen werden sollte, weil man sich nicht auf den Sitz des Emissionszentrums einigen konnte, denn Russland will Moskau, Belarus Minsk.)
  3. Harmonisierung der Devisenregulierung;
  4. Harmonisierung der Anforderungen im Bereich der Informationssicherheit im Finanzsektor;
  5. Harmonisierung der Vorschriften für Kredit- und Nicht-Kreditfinanzinstitute;
  6. Harmonisierung der Anforderungen im Bereich der Bekämpfung von Geldwäsche und Finanztourismus;
  7. Integration von Zahlungssystemen im Bereich nationaler Zahlungskartensysteme;
  8. Harmonisierung der Anforderungen im Bereich des Schutzes der Rechte von Nutzern von Finanzdienstleistungen und Investoren;
  9. Integration von Informationssystemen staatlicher Aufsichtsbehörden zur Rückverfolgbarkeit von Waren;
  10. Integration von Informationssystemen zur Produktkennzeichnung;
  11. Harmonisierung des Steuer- und des Zollrechts sowie Zusammenarbeit im Zollbereich;
  12. Integration von Informationssystemen der staatlichen Aufsichtsbehörden bezüglich der Veterinär- und Quarantäne-Pflanzengesundheitskontrolle;
  13. Integration von Informationssystemen der Verkehrskontrolle der staatlichen Regulierungsbehörden;
  14. Vereinheitlichung der Regulierung des Verkehrsmarktes (Luftverkehr, Eisenbahnverkehr, Wassertransport, Straßenverkehr, Straßenanlagen);
  15. Bildung eines einheitlichen Gasmarktes;
  16. Bildung vereinter Märkte für Öl und Ölprodukte;
  17. Bildung eines einheitlichen Strommarktes;
  18. Entwicklung der Kernenergie;
  19. Bildung einer einheitlichen Agrarpolitik;
  20. Bildung einer einheitlichen Industriepolitik;
  21. Einführung einheitlicher Regeln für den Zugang zu staatlichen Aufträgen und staatlichen Käufen;
  22. Einheitliche Vorschriften im Bereich Verbraucherschutz;
  23. Einheitliche Wettbewerbsregeln;
  24. Vereinheitlichung der Anforderungen an die Organisation und Durchführung von Handelsaktivitäten;
  25. Bildung einheitlicher Grundsätze für das Funktionieren eines Binnenmarktes für Kommunikation und Informatisierung;
  26. Vereinheitlichung der Rechnungslegungsvorschriften und Erstellung von Rechnungsabschlüssen;
  27. Vereinheitlichung der Gesetzgebung im Bereich der Tourismusaktivitäten;
  28. Durchführung einer koordinierten Politik im Sozial- und Arbeitsbereich.

Die neue Militärdoktrin des Unionsstaats wurde nicht veröffentlicht, sondern es wurde nur mitgeteilt, dass sie unterschrieben worden sei.

Die „Nowaja gaseta“ („Neue Zeitung“), deren Chefredakteur Dmitrij Muratow in diesem Jahr den Friedensnobelpeis bekommen hat, meinte am 8. November zu den unterzeichneten Vereinbarungen, dass das zweifellos eine Nachricht für Nachrichtenagenturen sei, aber kaum ein Thema zum Nachdenken. „Wir diskutierten schon seit drei Jahren darüber, während Minsk und Moskau fleißig die große Politik imitierten.“[6]

Der Chefredakteur des einzigen bisher überlebt habenden kremlkritischen Rundfunksenders „Echo Moskwy“, Alexej Wenediktow, meinte zu den neuen Vereinbarungen am 6. November, dass Putin das Projekt Unionsstaat bis zu den Präsidentschaftswahlen 2024, zu denen er erneute kandieren werde, realisieren werde.[7] Der Kreml habe vor, den Krimerfolg zu wiederholen, aber jetzt in anderer Form. Vor der Verlängerung der Amtszeit von Putin brauche man Begeisterung in der Bevölkerung. Eine Union mit Belarus könnte solche Begeisterung erzeugen.

Lukaschenko erklärte, dass er die Souveränität von Belarus im Rahmen des Unionsstaats bewahren wolle. Er sprach sich gegen die Bildung neuer supranationaler Gremien aus und schlug vor, die Union ausschließlich im Rahmen einer Sektor übergreifenden Zusammenarbeit zu betrachten.[8]

[1]              Участие в заседании Высшего государственного совета Союзного государства | Официальный интернет-портал Президента Республики Беларусь (president.gov.by)

[2]              Заседание Высшего Госсовета Союзного государства • Президент России (kremlin.ru)

[3]              (20) Sviatlana Tsikhanouskaya auf Twitter: „Belarusians don’t know the content of the integration roadmaps discussed between Moscow & Minsk. In 2020 our people denied authorization for Lukashenka to sign anything on their behalf. In new Belarus, all documents & agreements signed by the illegitimate regime will be revised. https://t.co/pNogZyYs0z“ / Twitter

[4]              Vgl. dazu meine Kolumne vom August 2020: https://www.ispsw.com/wp-content/uploads/2020/08/715_Schneider.pdf

[5]              http://government.ru/news/43234/

[6]              https://novayagazeta.ru/articles/2021/11/05/garmonizatsiia-s-unifikatsiei

[7]              https://echo.msk.ru/programs/observation/2931302-echo/

[8]              https://lenta.ru/brief/2021/11/04/souyznoe_gosudarstvo/

COMMENTS

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    Gunther Leschik 2 Jahren

    In der Bundesrepublik Deutschland hat man dafür
    einen anerkannten Spruch
    „Jetzt wächst zusammen was zusammen gehört „
    Wenn politisch denkende Menschen im deutschsprachigen Raum Weißrussland jetzt Belarus nennen dann erfüllen Sie einen Plan vielleicht ohne es zu wissen
    Denn niemand sagt Magyar zu Ungarn
    oder Polska zu Polen ( nur zwei Beispiele)
    Hier soll Weißrussland auch sprachlich abgegrenzt werden in den deutschen Köpfen
    Als eigene Nation mit einer komplett eigenen Geschichte und komplett eigenen Kultur die auch gar nichts mit Russland gemein hat

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    Bernd Murawski 2 Jahren

    Zitat: „Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die bei der Präsidentenwahl im August 2020 anstelle ihres aus politischen Gründen inhaftierten Mannes Sergej Tichanowskij kandidierte und nur durch mutmaßliche massive Wahlfälschung Lukaschenko unterlegen war, sprach ihm die Berechtigung ab, die neuen Vereinbarungen zu unterzeichnen.“

    Ähnliche Wahlfälschungen wurden bei den russischen Parlamentswahlen behauptet, wobei sich westliche Medien fast ausnahmslos auf die NGO „Golos“ beriefen, die in Russland als ausländischer Agent registriert ist.

    Dieselbe Organisation hatte zu den weißrussischen Präsidentschaftswahlen Stellung genommen (https://drive.google.com/file/d/1kSprtBUUtS1vb-W_jc4QJkPkoZPJBWxd/view). Und was schreibt sie?

    Während der Auszählung gelang es Vertretern und Unterstützern von „Golos“, in 1310 von 5767 Wahllokalen Auszählungsprotokolle zu fotografieren. Danach stimmten 61,7 Prozent für Lukaschenko und 25,4 Prozent für Tichanowskaja.
    Hierbei ist zu beachten, dass sich die Aktivitäten von „Golos“ vermutlich weitgehend auf Minsk beschränken, wo das Protestpotential über dem Landesdurchschnitt liegen dürfte. Das offizielle Wahlergebnis von 80 Prozent liegt demnach durchaus im Bereich des Möglichen.

    Auf jeden Fall ist aber unbestreitbar, dass Lukaschenko nicht seiner Gegenkandidatin unterlegen war, wie der Artikel suggeriert, sondern deutlich vorne lag.

    Dafür spricht u.a. die Aussage des CDU-Bundesabgeordneten Georg Schirmbeck, der bei einem ähnlich hohen Wahlresultat zehn Jahr zuvor als OSZE-Beobachter agierte. Er „bedauerte“ es, den Vorwürfen der Opposition nicht beipflichten zu können (https://www.zeit.de/politik/ausland/2010-12/weissrussland-minsk-demonstration-2/komplettansicht).

    Diesmal wurden trotz Bitte der weißrussischen Regierung keine Wahlbeobachter entsandt. Dadurch war es im Nachhinein natürlich leichter, einen massiven Wahlbetrug zu behaupten.

    Ich habe den Autor bislang wegen seiner sachlichen und ausgewogenen Betrachtung geschätzt. Dass er nun aber westlicher Propaganda aufgesessen ist, kratzt doch ein wenig an seiner Reputation.

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    Horst Beger 2 Jahren

    Die von Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko am 4. November diesen Jahres unterzeichneten Integrationsprogramme des Unionsstaates Russland-Belarus sind von symbolischer Bedeutung. Denn der am 4. November 2005 eingeführte Tag der Einheit des russischen Volkes erinnert an die Befreiung Moskaus von der polnischen Besetzung im Jahr 1612 durch einen Volksaufstand und an das Ende des sogenannten Zeitalters der Wirren. Zugleich ist der 4. November der Tag der Gottesmutter von Kasan, deren Ikone zu der Befreiung Moskaus beigetragen haben soll und auf die Besonderheit des russischen Christentums hinweist, das vom westlichen(römischen) Christentum seit über tausend Jahren bekämpft wird.

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