[von Leo Ensel] Nachdem das Auswärtige Amt – angeblich aus Sorge vor „russischer und belarussischer Propaganda“ – bereits vor Wochen in einer „Handreichung an Länder, Kommunen und Gedenkstätten des Bundes“ davon abgeraten hatte, die Teilnahme von Vertretern von Russland und Belarus bei Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges zuzulassen und empfahl, ihnen gegebenenfalls den Zugang zu den Mahnmälern zu verwehren, hat nun der Bundestag Russland und Belarus von der zentralen Gedenkfeier ausgeschlossen. – Dies hat unseren Gastautoren zu folgendem Offenen Brief veranlasst.
Sehr geehrter Herr Botschafter Netschajew,
sehr geehrter Herr Botschaftsrat Shuplyak,
am 8./9. Mai vor 80 Jahren haben die Soldaten der Roten Armee – russische, ukrainische, weißrussische Soldaten sowie Soldaten aus den kaukasischen und zentralasiatischen Sowjetrepubliken – zusammen mit Soldaten der USA, Englands, Frankreichs und anderer Staaten mein Land, Deutschland, von der nationalsozialistischen Terrorherrschaft befreit. Nach zwölf Jahren hatte dieses barbarische Regime einen Leichenberg von weltweit über 60 Millionen Menschen hinterlassen. Darunter sechs Millionen Juden, die man systematisch ermordet hatte. Hitler-Deutschland hatte diesen verbrecherischen Krieg vom Zaun gebrochen und Hitler-Deutschland hat ihn fast sechs Jahre später verdient verloren.
Die schrecklichsten Verluste von allen Ländern aber hatte die Sowjetunion zu beklagen. Fast 27 Millionen Menschen: Russen, Ukrainer, Weißrussen, Armenier, Georgier, Aserbaidschaner, Kasachen, Usbeken, Kirgisen und Menschen vieler anderer Nationalitäten, nicht zu vergessen die sowjetischen Juden!
Mit großer Scham und Empörung muss ich nun zur Kenntnis nehmen, dass der Bundestag und das Auswärtige Amt nicht nur die offiziellen Vertreter von Russland und Belarus, sondern sogar Russen und Weißrussen generell von den offiziellen Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges ausschließen wollen. Dies ist nicht nur ein Akt fahrlässiger, nein: krimineller Geschichtsvergessenheit, es ist ein Affront gegenüber allen Angehörigen der Menschen dieser Länder, die für die Befreiung Deutschlands ihr Leben ließen.
Es geht nicht an, dass die Soldaten, die vor 80 Jahren für die Befreiung unseres Landes starben, heute aus aktuellen Gründen gegeneinander ausgespielt werden. Und es geht nicht an, dass bei den Gedenkfeiern zwischen guten und bösen, eingeladenen und ausgeladenen Gästen unterschieden wird!
Wenn es überhaupt eine einzige Lehre aus dem grauenhaften Gemetzel des Zweiten Weltkriegs geben kann, dann die:
- Niemals wieder dürfen sich die Völker auf dem europäischen Kontinent entzweien!
- Niemals wieder darf auf unserem Kontinent mehr Krieg geführt werden!
- Und sollte dies – wie heute – schrecklicherweise doch der Fall sein, so muss er schnellstmöglich mit den Mitteln der Diplomatie beendet werden!
Wäre es daher nicht sinnvoll, auf den kommenden Gedenkveranstaltungen statt feierlicher Reden endlich den Satz aller Soldatenfriedhöfe „Die Toten mahnen!“ ernst zu nehmen und genau dort umgehend einen neuen Anfang, einen neuen Dialog zu starten?
Sehr geehrter Herr Botschafter Netschajew, sehr geehrter Herr Botschaftsrat Shuplyak, liebe Russen und liebe Weißrussen, bitte kommen Sie zu den Gedenkveranstaltungen! Sie sind herzlich willkommen, so wie alle anderen offiziellen Vertreter und Bürger der Länder, die Deutschland befreit haben, auch. Nutzen wir alle doch das gemeinsame Gedenken, um über den Gräbern der Toten des vergangenen Krieges endlich wieder ins Gespräch zu kommen und erste Schritte zur Beendigung des gegenwärtigen Krieges und zur Verhinderung künftiger Kriege, zur wechselseitigen Annäherung, zur Entfeindung und zur Versöhnung zu unternehmen!
Ich bin sicher, viele Menschen in Deutschland denken so wie ich.
COMMENTS
Darüber, ob die „Rote Armee 1945 Deutschland vom Nationalsozialismus befreit hat“, oder sich nur erfolgreich gegen den Angriffs- und Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands gewehrt hat, kann man streiten. Denn in vielen Bereichen wurde wurde der Nationalsozialismus von der Regierung Adenauer nach dem Krieg restauriert und der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion bzw. Russland hatte längst begonnen und ist bis heute nicht beendet, wie die jüngsten Entwicklungen Deutschlands zeigen.
Verständigung und friedliche Harmonie können nur die Grundlage sein die Menschheit nicht auszurotten und Freude am Leben zu haben.
Es ist eine Frechheit, Nachfahren der ehemaligen Retter Dtl auszuladen. Es ist Fakt, dass wir gerettet worden sind.
Danke an alle Retter
Es lebe der 25.04.45, Handschlag bei Torgau. Es lebe der 8./9. Mai 1945.
Die Einladungen des Autors an Russland und Belarus zu den Gedenkveranstaltungen am 8./9. Mai dieses Jahres sind nachvollziehbar. Ergänzen kann man allenfalls, dass der Psychopath Hitler 1933 nicht vom deutschen Volk gewählt wurde, sondern durch eine Verschwörung im Reichspräsidenten-Palais um den Päpstlichen Kammerherrn v. Papen, der Vizekanzler wurde, an die Macht kam. Und, dass die katholische Zentrumspartei, die geistigen Väter der heutigen CDU/CSU, Hitler anschließend zur 2/3 Mehrheit für das Ermächtigungsgesetz verholfen haben, das diesem uneingeschränkte Machtbefugnisse gab, mit dem Argument „ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu schaffen“. Dass Hitler im Vorfeld versprochen hatte, „die Judenfrage zu lösen“, wurde dabei in kauf genommen. Und Hitler hat dann auch genügend „Willige“ und Unfreiwillige gefunden, um den Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten, durchzuführen und zu verlieren. Einer, der im Winter 1941 unfreiwillig in diesen Krieg geschickt wurde, war der junge deutsche Dichter Hermann Kückelhaus, der von der Front schrieb: „Wenn ich hier sterben sollte, möchte ich nicht im kalten Deutschland wiedergeboren werden, sondern im warmen Russland.“ Schöner kann man den damaligen und heutigen Zustand Deutschlands nicht beschreiben. Er ist übrigens nicht in Russland gestorben, sondern wurde nur verwundet und starb bei einem Bombenangriff der Alliierten auf Berlin.