Chiffre Europa:  Rückschau, die eine Vorschau sein könnte

Chiffre Europa: Rückschau, die eine Vorschau sein könnte

[von Kai Ehlers]

Nachkoloniale Verschiebungen in der globalen Bevölkerungsstruktur

Wohin treibt Europa? Kann Europa nach zwei von ihm ausgehenden Weltkriegen seine Bestimmung darin finden, sich als Vorposten zur „Verteidigung“ der amerikanischen Dominanz aufs Neue „kriegstüchtig“ zu machen? Sicherlich nicht! Europa könnte vielmehr seine historischen Erfahrungen nutzen, um sich friedenstüchtig zu machen und Friedensfähigkeit in einer sich wandelnen Welt zu fördern. Lesen Sie hier Anregungen dazu aus meinem Buch „Die Kraft der Überflüssigen“, das im Jahr 2013, also noch vor den aktuellen Verirrungen Europas entstand.

Ethnologische Strukturen

Hier rückt noch einmal das globale Bevölkerungswachstum in den Blick. Sicher wird die Welt auch an sieben, acht oder neun Milliarden Menschen nicht ersticken – aber sie wird sich anders organisieren müssen – und nicht nur müssen, sondern auch können. Der Zuwachs der Millionen führt zur Erschütterung autokratischer und totalitärer Strukturen. Etablierte, vom Westen gestützte Diktatoren müssen dem Ansturm junger Menschen weichen, die an den Reichtümern der Erde teilhaben und ihre Vorstellungen eines selbstbestimmten, menschenwürdigen Lebens verwirklichen wollen.

Diese Kräfte sind nicht mehr unter den bisherigen Deckeln zu halten. Ein einziger Blick auf die gegenwärtigen Unruhen in den arabischen Staaten könnte schon reichen, das zu erkennen. Dazu kommen noch, wie wir wissen und wie sich jeden Tag in wachsendem Maße aufs Neue bestätigt, Impulse in China, Indien, Pakistan, Iran usw. bis hin zu den afrikanischen Völkern.

Die verzerrte Bevölkerungsstruktur kommt in Bewegung, die sich im Laufe der letzten 500 Jahre herausgebildet hat, seit Europäer sich im Zuge der Kolonisierung der Welt durch europäische Staaten über alle Kontinente so ausgebreitet haben, dass sie am Anfang des 20. Jahrhunderts die zu der Zeit besiedelbare Welt unter sich aufgeteilt hatten.

Fassen wir noch einmal zusammen, was wir bisher zusammengetragen haben, und erweitern es ins Globale: Die jugendlichen „Überflüssigen“ sind dabei, nationale und ethnische Schranken der bisherigen menschlichen Gesellschaft, ebenso wie Skrupel beim Einsatz von Technik für die Durchrationalisierung des Lebens beiseitezuschieben. Die älter werdenden Alten vermehren den Schatz lebender Erfahrungen, der dringend gebraucht wird, um die intelligenten Maschinen an den Platz zu verweisen, an dem sie dem Menschen dienen, statt ihn zu versklaven. Die Sensibilisierung des menschlichen Psycho-Organismus ebenso wie die spielerische Potenz menschlichen Geistes vervielfacht sich. Allgemein gesprochen, die Menschheit löst sich zunehmend aus den Einschränkungen ihrer physischen Körperlichkeit. Je mehr „Überflüssige“ die Welt aufnimmt, anders, je weniger Menschen in der unmittelbaren physischen Bindung der Produktion für Mittel des täglichen Lebens stehen, umso mehr Fantasie, spielerische Energie, Intuition und spirituelle, das heißt, um nicht missverstanden zu werden, umso mehr geistige Fähigkeiten werden freigesetzt.

Dies alles folgt bereits aus den Bedingungen, die sich aus der heutigen Entwicklung der Produktion ergeben – nicht automatisch, versteht sich, aber als Möglichkeit, als Chance, die ergriffen werden kann. Die Tendenz der allgemeinen „Proletarisierung“, von der die Rede war, in der nämlich immer weniger Menschen noch etwas zu verlieren haben außer ihren Ketten, sehr wohl aber eine Welt zu gewinnen haben, birgt zudem zugunsten einer wachsenden Mehrheit von Menschen die Kraft der Verwirklichung all jener Ziele, für die Minderheiten sich im Laufe der Geschichte der Menschheit immer wieder unter Aufopferung des eigenen Lebens eingesetzt haben – gegenseitige Hilfe, gleichberechtigter Umgang von Mensch zu Mensch und freie Geistigkeit.

Anders gesagt, mit den heutigen Verschiebungen der globalen Bevölkerungsanteile rückt das europäische Element der Weltbevölkerung wieder in die Relation, die ihm nach anthropologischen Kriterien gebührt, eine Variante der menschlichen Kultur unter anderen zu sein – wenn auch, salopp gesagt, keine überflüssige.

Diese zuletzt vorgebrachte Bemerkung bedarf selbstverständlich einer Erklärung. Unbestritten ist wohl, dass die europäische Expansion der Welt eine technische Zivilisation gebracht hat, die sich heute mit allen Pro´s und Contra´s, die ihr innewohnen, alltäglichen wie katastrophalen, als „westlicher Standard“ über die Welt verbreitet. Das mag gefallen oder nicht – es ist so. Man wird sich damit auseinandersetzen müssen, was davon sinnvoll ist oder nicht, was überflüssig, was entwicklungsfähig, was nützlich oder was gefährlich für die Menschheit ist und wie das in Zukunft aussehen könnte.

Weniger selbstverständlich ist die Frage, was denn Europa über die bloße Ausbreitung menschlichen Siedlungsraumes und über die technische Zivilisation hinaus der Welt gebracht hat und, ist dem hinzuzufügen, in der Zukunft bringen könnte. Die politischen Sprechblasen, die im Rahmen der Europäischen Union dazu heute losgelassen werden, sind bekannt: Europäische Wertegemeinschaft, Freiheit, Wohlstand für alle usw. Diesen Floskeln müssen wir hier nicht nachjagen; sie platzen bedauerlicherweise zur Zeit vor unseren Augen an der Wirklichkeit einer in Arme und Reiche auseinanderdriftenden Europäischen Gemeinschaft, deren politische Klasse zugleich mehr und mehr in die Rolle einer globalen „Ordnungsmacht“ drängt.

Und doch steht etwas hinter der Chiffre „Europa“, das über bloße Zahlen, technisches Know How und politische Sprechblasen hinausgeht. Erinnern wir uns, graben wir ein wenig in unserem kollektiven Gedächtnis:

Wir schreiben das Jahr 1241. Eine gewaltige Völkerwalze, angetrieben von mongolischen Reitern, hat sich aus dem Osten bis nach Schlesien vorgeschoben; bei Liegnitz kommt es zum entscheidenden Zusammenprall, in dem die vereinigten westeuropäischen Ritterheere vernichtend geschlagen werden. Europa liegt wehrlos vor den mongolischen Eroberern – aber dann geschieht das Wunder: Die Sieger ziehen sich zurück und statt die Menschen im westlichen Europa zu unterwerfen, wenden sie sich nach Süden, stürmen und vernichten 1258 Bagdad, die Hauptstadt des letzten noch intakten muslimischen Kalifats. Im Ergebnis wanderte die damalige „Mitte der Welt“ aus dem mittelmeerisch-mesopotamisch-zentralrussischen Raum, dem Zentrum Eurasiens an den äußersten westlichen Rand des Kontinentes – nach Europa, in das Gebiet, das Russlands rechter Polit-Clown Wladimir Schirinowski anlässlich eines Europa-Besuches seinerzeit einen „Appendix Eurasiens“ nannte. Einzelheiten dazu sind in der äußerst lesenswerten Darstellung Tamin Ansarys, in den USA lebender Muslim, über „Die unbekannte Mitte der Welt“ nachzulesen. Das westliche Europa konnte die im muslimischen Kulturraum, also geo-grafisch die in dem Raum zwischen Nordafrika im Westen, dem Hindukusch im Osten, den russischen Sümpfen im Norden und Indien im Süden, historisch und kulturell die zwischen persischer, ägyptischer und griechischer Kultur über sechshundert Jahre gesammelten Entwicklungsimpulse übernehmen und weiterentwickeln. Der muslimische Raum expandierte zwar anschließend erneut unter der Herrschaft der Mongolen, später der Osmanen und anderer asiatischer Eroberer, blieb jedoch wissenschaftlich-technisch und ökonomisch zurück.

Welche Ingredienzen im Einzelnen in die Alchemie der europäischen Bewusstseinsbildung seit dem 13. Jahrhundert eingingen, wird nie exakt zu ermitteln sein. Zumindest drei Elemente sind aber klar nachweisbar: Das über den muslimischen Kulturraum übertragene persisch-ägyptisch-griechische geistige Erbe; sodann ein geologisch vielfältiger, wenn nicht gar zerrissener, aber klimatisch außerordentlich günstiger Raum, der eine ebenso vielfältige, dynamische ethnische, später kleinstaatliche Entwicklung hervorgebracht hatte und schließlich ein Christentum, das nach einer langen Zeit der Dogmatisierung als römische Staatsideologie in eine Phase der individuellen Gottsuche überging. Diese Mischung ließ entstehen, was wir heute als europäischen Individualismus kennen; er war das Treibmittel, das die Jugend Europas nicht nur als Krieger, sondern auch als Entdecker, Architekten und Naturforscher über den Globus, als Philosophen in die Auseinandersetzung mit der Religion, als Wissenschaftler in die Erforschung der Kraft führte, welche die „Welt im Innersten zusammenhält“, als Baumeister und Ingenieure die Welt der Maschinen erfinden ließ.

Ich lasse es bei dieser Skizze, ohne an dieser Stelle das Pro und Contra der einzelnen Schritte und Elemente gegeneinander abzuwägen.

Heute ist Europa einem ins Alter gekommenen Menschen zu vergleichen, der ein Bewusstsein von seiner Sterblichkeit entwickelt, aber eben dadurch jungen Menschen helfen kann, das Leben besser zu verstehen und zu meistern. Nach Jahrhunderten des spontanen Entwicklungsbooms, nach wiederholten Abstürzen in nationalistische Verirrungen und grausame Kriege, gipfelnd in der Vernichtung ganzer Völker und zweier von Europa entfesselter Weltkriege mit insgesamt mehr als einer Milliarde Opfern, wenn nicht nur die Toten an den Fronten gezählt werden, steht die Mehrheit der Menschen in Europa, insbesondere Deutschlands, heute vor der Erkenntnis, dass der Weg der Gewalt nicht weiter gegangen werden kann, wenn die Menschheit weiter existieren soll.

Nicht nur Europa steht vor dieser Erkenntnis und es ist auch nicht das erste Mal, dass ähnliche Einsichten gewonnen werden konnten; andere Völker zu früheren Zeiten sind schon früher an diese Grenzen gestoßen – aber die von Europa im Laufe seiner Geschichte zu verantwortenden Erfahrungen sind der letzte Ring am Baum dieser Erkenntnis. Dieser Baum hat jetzt eine Größe erreicht, mit der er die ganze Welt überwölbt.

Die heutige Bevölkerungsentwicklung bietet eine neue Chance der kulturellen Wechselwirkung zwischen den Zeiten wie auch zwischen den heute lebenden Völkern. Junge, dynamische Menschen fädeln sich in die Netze der erfahrenen Industrieländer ein, erfahrene Kräfte aus den entwickelteren Gesellschaften gehen als Helfer und Berater in die neu aufstrebenden Gesellschaften. Das Multi-Ethnische, das Multikulturelle ist keine Hirngeburt durchgeknallter Ideologen, sondern ein authentischer Prozess der kulturellen Evolution unseres Planeten. Er gibt uns den Anstoß, ein erweitertes – über das europäische hinausgehendes – Verständnis vom Menschen zu entwickeln. Die „Überflüssigen“ sind die Botschafter dieser Öffnung der Evolution ins Globale – Botschafter für ein kosmisches Verständnis vom Menschen, denn ihr massenhaftes Erscheinen zwingt die jetzt lebende Menschheit dazu, sich darüber klar zu werden, wohin sie will, es zwingt sie, die Verantwortung für ihre Rolle auf der Erde zu übernehmen, wenn sie nicht einfach biologisch überkochen will.

Mit den „Überflüssigen“ stellt sich die Frage nach Teilhabe und Sinn aber nicht nur für den „überflüssigen“ Einzelnen, sondern für alle Menschen, für eine neue Art der Gemeinsamkeit, besser gesagt, der Verantwortung jedes einzelnen Menschen für die weitere Entwicklung von Leben auf diesem Planeten. Vordergründig ist das: Globale Kommunikation, Suche nach gemeinsamen Handlungsperspektiven in der ökologischen Krise. Tiefer verstanden, geht es um die Welt als geistiges soziales Wesen. Generell erhebt sich die Frage: Was ist das Wesen der neuen Kraft? Eine mögliche Antwort könnte lauten: Es liegt in der tendenziellen Befreiung von physischer Notwendigkeit, liegt im Übergang vom Verbraucher zum Gestalter, zum Mit-Schöpfer; es liegt in der Stärkung von Kooperation als schöpferischem Prinzip. Aus der Kooperation, also aus bewusstem gemeinsamem und schöpferischem Wirken, erwächst die Möglichkeit, über die bisherige ökonomische Begrenzung unseres Lebens als Verbraucher hinaus zu gehen – vom immer weiter expandierenden, ausbeutenden Verbraucher, vom bloßen Benutzer der Erde und des Lebens zum Mitgestalter, zum Mit-Schöpfer zu werden, der persönliche Verantwortung für die Gesundheit der Erde entwickelt, Empathie.

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Das Buch „Die Kraft der Überflüssigen“, Hrsg. 2013 (mit dem Untertitel „Der Mensch in der globalen Perestroika“), kann für elf Euro plus Porto beim Autor bezogen werden.

COMMENTS

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    Horst Beger 4 Monaten

    Zu dem weit gefassten Europa-Begriff des Autors könnte man in Bezug auf Russland ergänzen, dass dieses (Gorbatschow) nach dem Fall der Mauer auf ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok gehofft hatte. Aber das katholisch geprägte Westdeutschland und die NATO hatten von Ausnahmen abgesehen nicht daran gedacht, Russland in die Europäische Union und die NATO aufzunehmen. Im Gegenteil, der polnischstämmige ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat in seinem Buch „The Grand Chessboard (Das große Schachbrett) von 1997 geschrieben: „Jetzt bleibt uns nur noch ein Feind, die Orthodoxie“. Damit hat Brzezinski, der langjährige Brieffreund von Kardinal Woytila (dem späteren Papst Johannes Paul II.) auf den Jahrhunderte alten Kulturkampf des westlichen (römischen) Christentums gegen das östliche (russische) Christentum hingewiesen, wie der amerikanische Geostratege und Politologe Samuel Huntington das in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 aufgezeigt hat, ohne auf den substanziellen Unterschied einzugehen.

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