Das bittere und zugleich unnötige Schicksal MariupolsSymbolbild

Das bittere und zugleich unnötige Schicksal Mariupols

[von Bernd Murawski] Nirgendwo ist die humanitäre Lage momentan so katastrophal wie in Mariupol. Dabei wird nach Einschätzung des Donezker Regierungschefs Denis Puschilin noch einige Zeit bis zur vollständigen Einnahme durch die Separatistenarmee vergehen. War die Zerstörung der Stadt vermeidbar?

Dass eine Großstadt mit mehr als 400000 Einwohnern schwerlich ohne größere Kollateralschäden zu erobern ist, wird niemand bezweifeln. Dies trifft erst recht zu, wenn eine gut ausgerüstete, über faschistische Ideale motivierte und durch ausländische Söldner verstärkte Truppe wie das Asow-Regiment die Stadt zum Hauptstützpunkt erklärt hat.

Nicht nur von den militärischen Einheiten der Separatisten und ihrer Unterstützer wird ein hoher Blutzoll verlangt. Noch größer dürfte die Bürde für die Zivilbevölkerung sein. Neben unmittelbarer physischer Bedrohung leiden die Stadtbewohner auf längere Sicht unter der Zerstörung von Wohnraum, Infrastruktur und Einkommensquellen.

Vom Zentrum des Anti-Maidan zum Objekt militärischer Aggression

Vor acht Jahren war Mariupol ein Hotspot der Anti-Maidan-Bewegung. Dies ist kaum verwunderlich, da noch heute die Muttersprache von etwa 90 Prozent der Einwohner Russisch ist. Obwohl sie durch die ukrainisch-nationalistischen Maßnahmen der Kiewer Führung drangsaliert werden, ist es dieser bislang gelungen, jeden offenen Widerstand zu ersticken. Daran dürfte das Gewaltmonopol der Asow-Kräfte einen wesentlichen Anteil haben.

Nach der Ankündigung Wladimir Putins am 21.Februar, die Donbass-Republiken anzuerkennen, konkretisierte er, dass es sich bei deren Territorien nicht um die von den Separatisten gehaltenen Regionen, sondern um die gesamten Oblaste handelt. Begründet wird diese Sichtweise unter anderem damit, dass sich die im Jahr 2014 durchgeführten Referenden, die ein klares Votum für staatliche Unabhängigkeit erbrachten und damals von Russland nicht anerkannt wurden, auf das Gesamtgebiet der Oblaste Donezk und Lugansk erstreckten.

Da Mariupol zum Donezker Oblast gehört, wurde es nur als konsequent empfunden, dass die militärische Operation mit einer Eroberung der Stadt einhergeht. Angesichts der historischen Ereignisse und der Unterdrückung der russischen Sprache durch Kiew haben die heranrückenden Verbände der Separatisten erwartet, als Befreier begrüßt werden. Offenbar haben sie den Einfluss von acht Jahren antirussischer Propaganda und gleichzeitiger Einschüchterung russlandnaher Oppositioneller unterschätzt.

Bekanntlich wurden die Zerstörungen, beginnend mit dem Ausfall von Strom, Heizung und Trinkwasser, Russland zur Last gelegt. Da die Stadtverwaltung – aus Ängstlichkeit oder ideologischer Nähe – die Behauptungen der Asow-Führer übernahm, waren die Bürger verständlicherweise verunsichert.

Unbestritten ist, dass im Zuge der russischen Militäraktion nirgendwo in der Ukraine lebenswichtige Einrichtungen zerstört wurden. Dagegen hat die ukrainische Armee in den Donbass-Republiken nachweislich auf zivile Objekte gezielt. Da Mariupol künftig zur Donezker Verwaltungseinheit gehören wird, welche entweder eine autonome Region innerhalb der Ukraine oder ein eigener Staat sein wird, wäre es aus russischer Sicht töricht, die Stadt zu verwüsten und die Bevölkerung durch Bombardements gegen sich aufzubringen. Die Frage nach dem „Cui bono“ weist vielmehr auf das Asow-Bataillon als Verursacher der Zerstörungen. Dies konnten nicht einmal westliche Medien ganz verschweigen, als sie die Verminung der Fluchtwege thematisierten.

Mit großer Wahrscheinlichkeit gehen die spektakulären Angriffe auf die Geburtsstation und das Theatergebäude in Mariupol auf das Konto der ukrainischen Seite. Dafür gibt es zahlreiche Hinweise, wenn auch keine gesicherten Belege. Wenn solche nach der Einnahme der Stadt präsentiert werden, dürften westliche Medien – wie damals bei der Eroberung Ost-Aleppos durch die syrische Armee – durch Desinteresse und Abwesenheit bei den Pressekonferenzen glänzen.

Ein Eindringen in die Stadt wird den Kämpfern auf der Separatistenseite nur unter beträchtlichen Opfern gelingen. Aus demselben Grund sah sich im Jahr 2014 Kiew außerstande, Donezk und Lugansk einzunehmen. Trotz der zu erwartenden hohen Verluste kann jedoch die geplante Eroberung Mariupols angesichts der Leiden der Zivilbevölkerung nicht abgebrochen werden. Nach Aussagen von Geflüchteten entwickelt sich deren Lage immer dramatischer. Während westliche Medien die Augen verschließen oder weiterhin behaupten, die ukrainische Armee würde die Zivilisten verteidigen, werden Frauen und Kinder als Schutzschilde benutzt, Männer mit Gewaltandrohung zum bewaffneten Dienst gezwungen, Militärgerät in Wohngebieten platziert und Flüchtlinge beschossen.

Gründe für den Marsch auf Mariupol und eine mögliche Alternative

Für die Eroberung Mariupols als Ziel der Militäraktion sprach neben geografisch-strategischen Überlegungen das Bestreben, das Asow-Regiment als bedeutende Anlaufstelle für Rechtsextremisten im Rahmen der Entnazifizierungskampagne zu vernichten. Doch offenbar bestanden zu Beginn der militärischen Operation unrealistische Erwartungen, was inzwischen zu Abstrichen beim Entnazifizierungsvorhaben geführt hat. So wird der russische Außenminister Sergei Lawrow am 18. März zitiert, „die Entnazifizierung der Ukraine bedeute die Aufhebung aller Gesetze, die die russischsprachige Bevölkerung des Landes diskriminierten“.

Da die Einheiten der Separatisten bereits nach Mariupol marschierten, als die russische Armee sich auf andere Frontabschnitte im Süden und Norden der Ukraine konzentrierte, war die Donezker Führung augenscheinlich die treibende Kraft hinter der Aktion. Vernachlässigt wurde, dass das Gros der ukrainischen Armee sich im Ostteil des Landes befand, sodass die gesetzte Aufgabe kaum ohne massive Unterstützung Russlands zu Luft und zu Lande zu bewältigen war. Der Handlungswille der ukrainischen Militäreinheiten, der sich im verstärkten Raketenbeschuss der Donbass-Städte Mitte Februar artikulierte und durch später erbeutete Dokumente belegt wurde, wurde in Donezk sichtlich unterschätzt. Allein eine hohe Kampfmoral reicht nicht, sie verleitet vielmehr zur Fehlbeurteilung der eigenen Kräfte.

Eine Erklärung von Moskau und Donezk, auf militärische Schläge gegen Mariupol zu verzichten und lediglich die Zufahrtswege zu kontrollieren, hätte der Stadt das gegenwärtige Schicksal wohl erspart. Zwar wären Übergriffe auf Bürger, die als russlandfreundlich gelten, nicht zu vermeiden gewesen. Dies ist aktuelle Praxis in der gesamten Ukraine, und vermutlich wären die Asow-Kräfte in Mariupol rabiater mit Oppositionellen verfahren als anderswo. Dies wird jedoch durch das Vorrücken der prorussischen Verbände nicht verhindert, im Gegenteil dürften die faschistischen Kräfte innerhalb der Bataillone nun noch erbarmungsloser agieren. Zumal sie sich der Tatsache bewusst sind, dass der Tod auf sie wartet, da Kiew den russischen Vorschlag einer Niederlegung der Waffen und freien Geleits abgelehnt hat.

Eine Einnahme Mariupols durch russisches und Donezker Militär dürfte die Verhandlungspositionen nicht sonderlich beeinflussen. Der wichtigste „Trumpf“ Russlands im bewaffneten Konflikt mit der Ukraine ist die Erlahmung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, an der die Kiewer Führung in hohem Maß selbst beteiligt ist. Eine massive Evakuierung der Bürger wäre angesichts der Versicherung Russlands, zivile Objekte zu schonen, nicht nötig gewesen. Noch verheerender erwies sich die Austeilung von Waffen an Zivilisten, die zu Chaos und ausufernder Kriminalität führte. Neben dem Zusammenbruch der öffentlichen Dienste dürfte dies ein gewichtiger Grund für die Fluchtbewegung sein.

Wiederholt haben westliche Medien auf Schwierigkeiten Russlands bei der Logistik und der Versorgung der eigenen Armeeeinheiten verwiesen. Unerwähnt bleibt, dass Kiew vor weitaus größeren Herausforderungen steht. Millionen Geflüchtete in der Westukraine, überwiegend Frauen und Kinder, müssen einquartiert und versorgt werden. Noch größere logistische Probleme dürfte der Unterhalt hunderttausender Männer in Kiew, Charkiw und anderen Städten verursachen, die Barrikaden errichten und an geschützten Stellen auf das Eintreffen russischer Militäreinheiten warten.

Weder ist es dem Westen gelungen, Russland international zu isolieren, noch sind USA und Nato bereit, der Bitte Wolodymyr Selenskyjs zu folgen und eine Flugverbotszone zu errichten. Da die russische Streitkräften offenkundig in der Lage sind, den Zustrom von Söldnern und Waffen aus dem Westen zu unterbinden, brauchen sie nur ihre gegenwärtigen Positionen halten und jeweils dann vorrücken, wenn dies ohne Risiko möglich ist. Angesichts solcher Umstände sollte die Ukraine an einem baldigen Friedensschluss interessiert sein.

Wie an die Öffentlichkeit durchgesickerte Forderungen und rote Linien signalisieren, ist der künftige Status sowohl der Krim als auch der abtrünnigen Donbass-Regionen Gegenstand der Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau. Unabhängig davon, ob Donezk und Lugansk eine weitgehende Autonomie erhalten, ob sie in die Unabhängigkeit entlassen werden oder ob Referenden angesetzt werden, dürfte Russland einen Abzug der ukrainischen Truppen aus der Donbass-Region inklusive Mariupol durchsetzen können. Es wäre quasi eine Gegenleistung für den Rückzug des russischen Militärs von ukrainischem Gebiet. Auf diese Weise hätte Mariupol vor Zerstörungen gerettet werden können. Die enormen Wiederaufbaukosten, die letztlich wohl Russland zu stemmen hat, wären vermieden worden.

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