Das erste Opfer im Kriege – Über Genozide, Entnazifizierungsaktionen, Vernichtungskriege und Opferkonstruktionen© ai/russland.news

Das erste Opfer im Kriege – Über Genozide, Entnazifizierungsaktionen, Vernichtungskriege und Opferkonstruktionen

[von Leo Ensel] Kriegszeiten sind Zeiten der Demagogie, der Propaganda und der Lügen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine. Und zwar für alle Seiten.

Nicht umsonst lautet ein bekanntes Sprichwort: „Das erste Opfer in einem Krieg ist immer die Wahrheit!“ Kriegszeiten sind Zeiten der Desinformation, der falschen Erzählungen, der verdrehten Worte, aus denen sich propagandistisches und politisches Kapital schlagen lässt. Vulgo: Zeiten der Lüge. Und zwar auf allen Seiten.

Genozid“

Kommen wir zunächst zur Seite des Aggressors. Hier fuhr Präsident Putin von Beginn an die schärfsten politischen Geschütze auf, die die russische Propaganda im Angebot hat. Im Donbass sollte angeblich ein „Genozid“ an der dortigen russischen oder mit Russland sympathisierenden Bevölkerung – ja, was eigentlich? – beendet oder wenigstens verhindert werden. Ziel der „Militäroperation“ gegen die Ukraine sei es, so Putin, diese zu „entnazifizieren und entmilitarisieren“.

An dieser Argumentation stimmt am ehesten noch das letzte Wort. Ansonsten ist so gut wie alles falsch!

Leider muss man dem russischen Präsidenten gegenüber fairerweise einräumen, dass zumindest der Missbrauch des Wortes „Genozid“ durchaus nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Der Westen hat ihm auch hier – wie bei dessen vergeblicher „Regime Change-Operation“ in der Ukraine – bereits vor Jahrzehnten eine Steilvorlage geliefert: im unsäglichen Auschwitzvergleich, mit dem der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer seiner Partei, den GRÜNEN, und der nicht gerade kriegslüsternen deutschen Öffentlichkeit im Frühjahr 1999 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien schmackhaft gemacht hatte. – Schauen wir uns den Genozid-Vorwurf genauer an.

Unternimmt man die etwas zynisch anmutende Gedankenoperation, die Begriffe „Kriegsopfer“, „Massaker“ und „Genozid“ auf einer Ordinalskala mit fließenden Übergängen anzuordnen, so lässt sich folgendes konstatieren: In jedem Krieg kommen Menschen, in der überwiegenden Mehrzahl Zivilisten, ums Leben: Kriegsopfer, mal als sogenannte „Kollateralschäden“ – eine ebenfalls originär westliche Wortkreation – billigend in Kauf genommen, mal als Terrorakte zur Einschüchterung der Bevölkerung von den Tätern bewusst intendiert. „Massaker“ sind Aktionen punktueller Massenmorde, wie sie beispielsweise die Einsatzgruppen der SS 1942/43 im Rahmen des sogenannten „Antipartisanenkampfes“ in hunderten weißrussischen Dörfern oder amerikanische GIs im vietnamesischen My Lai verübten. Selbst die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki könnten wohl noch unter diesem Begriff klassifiziert werden.

Beim Begriff „Genozid“ („Völkermord“) liegt die Messlatte allerdings sehr hoch. Immerhin geht es hier definitionsgemäß um die Ausrottung – oder jedenfalls deren Versuch – eines ganzen Volkes bzw. einer Volksgruppe oder, wie man heute eher sagen würde, einer gesamten Ethnie. Hiervon könnten, sofern sie dazu noch in der Lage wären, zum Beispiel die amerikanischen Ureinwohner fast sämtlicher Stämme, die Hereros in Namibia, die Armenier im Osmanischen Reich und die europäischen Juden ein infernalisches Lied singen.

Bezogen auf den Donbass steht OSZE-Angaben zufolge fest, dass der Krieg, den die Kiewer Zentralmacht, Seite an Seite mit rechtsextremen Freikorpsverbänden, seit April 2014 (!) gegen die von Russland clandestin oder offen unterstützten Rebellenrepubliken Donezk und Lugansk führt, bereits im Herbst 2021 rund 14.000 Menschen das Leben gekostet hatte. Darunter um die 3.400 Zivilisten. Auszuschließen ist, wie bei allen Kriegen, ebenfalls nicht, dass es hierbei auch zu lokalen Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen sein mag. Ein schreckliches Massaker an der russischstämmigen ukrainischen Bevölkerung steht jedenfalls zweifelsfrei fest: Das Massaker in Odessa vom 2. Mai 2014, bei dem ‚prorussische Demonstranten‘ von militanten ‚pro Maidan-Aktivisten‘ in das dortige Gewerkschaftgebäude getrieben wurden, das anschließend in Brand gesetzt wurde. Mindestens 50 ‚prorussische Demonstranten‘ kamen bei dieser „Aktion“ ums Leben, die meisten verbrannten lebendigen Leibes oder erstickten, andere stürzten sich aus den Fenstern in den Tod, während Ukrainer draußen das Gebäude abriegelten. Bis heute sind weder die näheren Umstände offiziell aufgeklärt noch die Täter zur Rechenschaft gezogen. In der westlichen Berichterstattung ist immer noch, wenn überhaupt, von diesem Massaker bestenfalls am Rande die Rede.

Lässt sich aus alledem folgern, im Donbass habe ein „Genozid“ stattgefunden oder dieser habe zumindest für den Fall einer Rückeroberung durch die Kiewer Zentralgewalt gedroht? Auch wenn im letzteren Falle schreckliche Massaker an der Zivilbevölkerung, nicht zuletzt durch ultranationalistische Paramilitärs, zumindest nicht auszuschließen gewesen wären, halte ich den Begriff „Genozid“ hier für entschieden zu hoch gegriffen. (Einzuräumen ist allerdings, dass die sehr weite völkerrechtliche Definition des Begriffes „Genozid“ zum inflationären Gebrauch förmlich einlädt: Allein die, ihrerseits schwer nachweisbare, Ausrottungsabsicht reicht – unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Opfer!) Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass dieser Begriff von russischer Seite bereits im Sommer 2008 bemüht wurde, als georgische Truppen die abtrünnige Region Südossetien angegriffen hatten. Der georgische Angriff hatte damals 162 Menschen der südossetischen Bevölkerung das Leben gekostet, was aber bei allem Kriegsleid den Begriff „Genozid“ keineswegs rechtfertigt. (Das Gleiche gilt vice versa auch für die Ereignisse in Butscha, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ebenfalls zu Unrecht einen „Völkermord“ nennt.)

„Entnazifizieren“

Neben einer „Entmilitarisierung“ des Landes und der Beendigung bzw. Verhinderung eines angeblichen „Genozids“, ist laut Putin das Ziel der russischen Invasion in die Ukraine, diese zu „entnazifizieren“. Insbesondere die Regierung um den gegenwärtigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat er mehrfach als eine „Bande von Drogenabhängigen, Neonazis und Terroristen“ bezeichnet. – Was ist von diesem Vorwurf zu halten?

Zweifellos spielten bei dem gewaltsamen Umsturz vom 22. Februar 2014 auf dem Kiewer Euromaidan bewaffnete ultranationalistische Gruppierungen aus der Westukraine eine entscheidende – möglicherweise die entscheidende – Rolle. Und in der postwendend verfassungswidrig installierten Umsturzregierung unter Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk – das von der Verfassung für die Absetzung eines Präsidenten vorgeschriebene Quorum wurde verfehlt und der auch nach westlichen Standards demokratisch gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch war unter dem Druck der Ereignisse geflohen – befanden sich drei Minister mit rechtsextremem Hintergrund. Dennoch war die russische Bezeichnung der „Kiewer faschistischen Putsch-Junta“ propagandistisch überzogen. (In Russland weiß man sehr genau, dass man die Legitimation der eigenen Bevölkerung für noch so fragwürdige Militäreinsätze am ehesten erhält, wenn diese sich gegen tatsächliche oder angebliche Faschisten richten.)

Der gegenwärtige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist jedenfalls demokratisch gewählt und definitiv kein Nazi. Ihm die Legitimation abzusprechen, weil im Februar 2014 ein Putsch verübt wurde – er also ein indirekter Erbe dieses gewaltsamen Umsturzes ist –, das wäre von derselben schrägen Logik, wie wenn man die Legitimität der Präsidentschaft Wladimir Putins ausgerechnet mit dem Argument infragestellen würde, dass dessen Vorgänger Boris Jelzin ja im Herbst 1993 gegen das eigene Parlament geputscht hatte, um seine Macht zu sichern!

Nach wie vor gibt es vor allem in der Westukraine, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Bandera-Tradition, ultrarechte Gruppierungen, die mit der Naziideologie sympathisieren und als paramilitärische Söldnerbanden am Krieg gegen die Rebellenrepubliken im Donbass maßgeblich beteiligt waren. Analoge Gruppierungen gibt es aber – siehe Prigoschins Privatarmee mit dem bezeichnenden Namen „Wagner“, die sich in Habitus und Skrupellosigkeit von ihren ukrainischen Asow-Kontrahenten kaum unterscheidet – auch in Russland. Aber eine externe Militäraggression wäre in beiden Fällen das denkbar ungeeigneteste Mittel, sie aus der Welt zu schaffen.

„Vernichtungskrieg“

Der zweifelhafte Umgang mit der Wahrheit ist allerdings durchaus kein Privileg Wladimir Putins. Auch die Ukraine und der Westen bedienen sich Argumentationen, die man guten Gewissens als demagogisch bezeichnen kann.

So wird seit Frühjahr letzten Jahres immer wieder in Kiew erklärt – und von den deutschen Leitmedien begierig nachgebetet –, Russland führe gerade einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Ukraine. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz griff vor einem Jahr in einer Rede die Formel von „Russlands grausamem Angriffs- und Vernichtungskrieg“ dankbar auf.

Die Verwendung dieses Begriffes ist schlichter Etikettenschwindel – selbst wenn man, zu Recht oder zu Unrecht, unterstellt, Putins Ziel sei es, die Ukraine als Staat zu zerschlagen. Was ein veritabler „Vernichtungskrieg“ ist, das haben Wehrmacht und SS zwischen 1941 und 1944 während des deutschen Überfalles auf die Sowjetunion unter Beweis gestellt. Dieser Krieg war von Anfang an als Krieg gegen weite Teile der Zivilbevölkerung geplant. Laut Himmler sollte die sowjetische Bevölkerung um 30 Millionen Menschen – die meisten via Hungertod – dezimiert werden. (Ein national-sozialistisches Planziel, das die Aggressoren mit fast 27 Millionen Toten annähernd erreicht haben.) Allein die Zahl der jüdischen Opfer bei den systematischen Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD belief sich in jedem weißrussischen oder ukrainischen Kuhkaff auf Ziffern im mindestens vierstelligen Bereich.

Wieviele Opfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung der russische Angriffskrieg bislang auch immer gefordert haben mag – laut Zählungen der UN (Stand: 7. Juli 2023) wurden mehr als 9.000 Personen registriert –, mit den systematischen Ausrottungsaktionen der deutschen Besatzer in der Sowjetunion können sie keinesfalls unter demselben Begriff klassifiziert werden!

Und so man wird den Eindruck nicht los, dass bei dieser Gelegenheit mit der gegenwärtigen Verwendung des Begriffes „Vernichtungskrieg“ und der neuerdings so beliebten Gleichung „Putin ist Hitler“ auf recht billige und komfortable Weise die deutsche Vergangenheit entsorgt werden soll …

Holodomor und Holocaust oder:

Nur ukrainische Opfer? – Die Ukrainer nur Opfer?

Ebenso übernimmt man hierzulande völlig unkritisch den ukrainischen Vorwurf, Russland sei für den „Holodomor“ – die um die drei Millionen ukrainischen Hungertoten 1932/33 im Zuge der Zwangskollektivierung – verantwortlich. Hier handelt es sich um einen in den meisten postsowjetischen Ländern mittlerweile äußerst beliebten geschichtsrevisionistischen Narrativ, den ich in anderem Zusammenhang einmal etwas akademisch-sperrisch als „posthume Renationalisierung der Sowjetgeschichte“ bezeichnet habe und der auf folgenden simplen Satz hinausläuft: Schuld am Kommunismus waren immer nur die Russen! Nicht Vertreter einer bestimmten Ideologie – Bolschewiki, Kommunisten oder der KGB – waren also dieser Argumentation zufolge die Täter, sondern Vertreter einer bestimmten Nation. Dasselbe gilt für die Opfer: Opfer waren nicht Kulaken, Kleinbauern, Adlige, Priester, Dissidenten, unliebsame Wissenschaftler und Künstler, sondern schlicht alle Völker der ehemaligen Sowjetunion – außer den Russen!

Wie voluntaristisch diese Konstruktion ist, zeigt sich nicht zuletzt bezogen auf die genannte Hungerkatastrophe Anfang der Dreißiger Jahre. Gehungert wurde nämlich auch außerhalb der Ukraine: Nicht zuletzt in den fruchtbaren Kuban- und Schwarzerdegebieten, im Nordkaukasus und in Kasachstan. Auch Russen sind dieser staatlich induzierten Hungerkatastrophe zu Hunderttausenden zum Opfer gefallen.

Der Hauptverantwortliche für die Millionen Hungertoten, ein gewisser Josif Wissorjanowitsch Stalin, war übrigens – wie sein enger Mitarbeiter, der Leiter der gefürchteten Geheimdienste, Lawrenti Berija – gar kein Russe, sondern Georgier! – Kurz: Die ganze Argumentation stimmt hinten und vorne nicht. Sie wird nicht dadurch besser, dass der Westen sie auch noch nachbetet.

Auf ähnlich fragwürdige Weise werden seit Kriegsbeginn nun die ukrainischen Holocaust-Opfer für eine angebliche besondere deutsche Verantwortung der Ukraine gegenüber in Anspruch genommen. Ja, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine haben die Einsatzgruppen C und D der SS unter tatkräftiger Unterstützung der Wehrmacht grausigste Massaker an der jüdischen Bevölkerung verübt – unter anderem in Babij Yar im Norden von Kiew, Kamanezk-Podolsk und Odessa –, denen insgesamt Hunderttausende ukrainische Juden zum Opfer fielen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941 in nahezu ganz Ostgalizien, der heutigen Westukraine, zu brutalsten blutigen Pogromen der ukrainischen Bevölkerung an den ortsansässigen Juden kam, denen allein in Lemberg (Lviv) um die 4.000 Juden zum Opfer fielen, die allerdings weder Präsident Selenskyj noch seine Verbündeten im Westen auch nur mit einem Wort erwähnen.

Statt dessen führt man die jüdischen Holocaust-Opfer lieber dann ‚ins Feld‘, wenn, wie im März letzten Jahres, ausgerechnet in der unmittelbaren Umgebung von Babij Yar, wo Ende September 1941 Einsatzgruppen der SS mit logistischer Unterstützung durch Wehrmacht und ukrainische Hilfspolizisten innerhalb von zwei Tagen 33.771 Juden erschossen hatten, ein Kiewer Rundfunksender von russischen Granaten getroffen wird. Andriy Yermak vom ukrainischen Präsidialamt tönte vollmundig auf Twitter: „Diese Verbrecher töten zum zweiten Mal die Opfer des Holocaust.“ Später legte man noch einen drauf. Nun hieß es: „Die ganze Ukraine ist jetzt zu Babij Yar geworden!“

Es ist halt immer bequemer, Opfer zu sein!

Kommen wir zum Schluss zu unserem Ausgangspunkt zurück: Kriegszeiten sind Zeiten der Demagogie, der falschen Erzählungen, der Lügen. Zur Deeskalation gehört auch das mühsame Geschäft, sie richtigzustellen. Beliebt macht man sich damit weder auf der einen noch auf der anderen Seite.

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