[von Leo Ensel] Militärische Niederlagen müssen ideologisch verbrämt werden. Anders sind sie kaum zu ertragen. Stellt man es allerdings geschickt an, so kann man auch aus einer Niederlage eine Menge Kapital schlagen. In Kiew arbeitet man bereits daran.
Es ist nicht die Frage, ob – es ist nur noch die Frage, wann sie kommen wird: die neue Dolchstoßlegende! Und wer die Ohren scharf spitzt, kann ihre Vorboten in zarten Ansätzen bereits jetzt vernehmen.
Früher oder später wird – sollte der Ukrainekrieg (was freilich nicht ausgeschlossen ist) nicht doch noch zu einem europaweiten, wenn nicht zum Dritten Weltkrieg eskalieren – zumindest ein Waffenstillstand geschlossen werden. Das Land, das sich dann noch Ukraine nennt, wird territorial erheblich geschrumpft sein. Nicht nur die Krim und der Donbass – beides Gebiete mit einer Bevölkerungsmehrheit, die Kiew nie geliebt hat und die es im Falle eines höchst unwahrscheinlichen Sieges vermutlich Richtung Osten vertreiben würde –, auch die südlichen Regionen Cherson und Saporoschje, im Worst Case bis einschließlich Odessa oder gar an die Grenze zu Moldau und Rumänien, wird sich Russland definitiv unter den Nagel gerissen haben.
Die neue ‚Berliner Mauer‘
Zwischen der westlichen Restukraine und dem aufgeblähten Russland wird eine scharf bewaffnete Demarkationslinie, eine neue ‚Berliner Mauer‘ verlaufen, die die Blockkonfrontation des XXI. Jahrhunderts markiert. Eine Bruchlinie, die – Samuel Huntington lässt grüßen – von Norden nach Süden zwischen Finnland, dem Baltikum und Polen auf der westlichen und Russland wie Belarus auf der östlichen Seite verlaufend, die Ukraine zerteilen wird. Die Restukraine wird entweder, eher unwahrscheinlich, tatsächlich Mitglied der NATO sein oder, wahrscheinlicher, natoähnliche bilaterale Verträge über Sicherheitsgarantien mit einer Reihe westlicher Staaten abgeschlossen haben.
Mit einem Wort: Die Ukraine wird das ‚neue geteilte Deutschland‘ im kommenden zweiten Kalten Krieg sein!
Ein Zustand, mit dem man sich in Kiew – sollte dies zur westlichen Restukraine gehören – niemals abfinden wird. Jährliche Gedenkfeiern zum 24. Februar werden nicht nur dort, sondern in der gesamten EU an den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg und die Einverleibung ehemals zur Ukraine gehörender Gebiete erinnern. Und wie im Westdeutschland der Fünfziger und Sechziger Jahre werden Parolen à la „Zweigeteilt niemals!“ Dauerkonjunktur haben. Ziel wird sein, die Wunde möglichst lange offen zu halten.
Fehlt nur noch die ideologische Begleitmusik. Und die ist schnell geliefert. Ein Griff in die historische Mottenkiste genügt.
„… und Europa hat es nie gedankt!“
Russland hatte es bereits im 13. Jahrhundert im Abwehrkampf gegen die Mongolen vorgemacht, ein Jahrhundert später zog 1389 Serbien mit der verlorenen Schlacht am Amselfeld gegen die Osmanen nach und dann war Polen als „Christus unter den Völkern“ einige Jahrhunderte danach mehrfach an der Reihe: Stets ging es darum, das christliche Abendland vor den aus den endlosen Steppen des unzivilisierten Ostens vorrückenden barbarischen Horden zu retten. Und Europa – genau das ist der entscheidende Kern des Mythos – hatte es nie gedankt!
Nun ist also die Ukraine dran.
Die demokratische Ukraine, Vorposten westlicher Werte und tapfere Verteidigerin der ‚regelbasierten Weltordnung‘, hat sich – so wird es bald tönen – für Europas Freiheit geopfert. Und der Westen sah däumchendrehend zu! Die absehbaren Vorwürfe: Der Westen habe die Ukraine zu spät und nicht ausreichend militärisch unterstützt, er habe es ihr untersagt, weitreichende Waffensysteme in der Tiefe russischen Terrains einzusetzen und keinen einzigen NATO-Soldaten geopfert. Schuld werden wahlweise Donald Trump – sollte er im November wieder zum US-Präsidenten gewählt werden – oder die Europäische Union, ganz sicher aber das russlandfreundliche Deutschland sein, das, als die Gefahr noch abwendbar war, dem bedrohten Lande nichts als ein paar lumpige Helme zur Verfügung stellte.
Die neue Dolchstoßlegende wird sich lohnen. Sie wird nicht nur eigene Schuld kaschieren – immerhin führte Kiew bis zum russische Überfall im Februar 2022 fast acht Jahre lang Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Donbass, um die 13.000 Menschen starben –, sie wird das ideale Erpressungsmittel sein, um das westliche schlechte Gewissen ad infinitum zu melken.
Nun, so wird man lärmen, muss der Westen für das von ihm angerichtete Desaster wenigstens kräftig zahlen! In Gestalt (EU hin) des teuren Wiederaufbaus der Restukraine und (NATO her) von noch teureren endlosen Waffenlieferungen für den neuen Frontstaat.
Die ‚List der Vernunft‘?
Aber vielleicht gibt es ja doch so etwas wie die Hegel‘sche „List der Vernunft“, vielleicht könnte die Ideologie diesmal sogar etwas zum Guten wenden, vielleicht wird – es wäre ein ‚Salto vitale‘ der Geschichte – die kommende Dolchstoßlegende einen Waffenstillstand ja überhaupt erst ermöglichen! Der Publizist Florian Rötzer hat kürzlich auf der Plattform Overton ein aufregendes Gedankenexperiment angestellt.
Könnte es vielleicht sein, dass der ukrainische Nochpräsident Wolodymyr Selenskij, der gerade in der westlichen Welt mit einem sogenannten „Siegesplan“ hausieren geht, der so fernab aller Realität ist, dass einem die Haare zu Berge stehen (und für den er von Biden über Harris bis Trump nichts als Absagen kassierte), dass Selenskij diesen Plan nicht etwa präsentiert, um ihn umzusetzen, sondern damit er scheitert? Nach dem Motto: „Ich mache Ihnen ein Angebot, das Sie ablehnen können, nein: sollen!“?
Florian Rötzer: „Ein Grund, warum Selenskij trotzdem mit unrealistischen Forderungen auftritt und weiter auf militärischen Sieg setzt, könnte darin bestehen, dass er dann, wenn er einen Waffenstillstand eingehen und Friedensverhandlungen beginnen muss, auf die Unterstützerstaaten zeigen kann, die nicht ausreichend Hilfe gewährt haben und er gezwungen sei, dies zu tun. Verräter wäre dann die Nato, die die Ukraine im Stich gelassen habe, aber nicht seine Regierung. Für die wäre es fatal, wenn die Verhandlungen zu einem ähnlichen Ergebnis wie die kämen, die Selenskij vermutlich auf Druck oder Anraten von Boris Johnson und Washington abgebrochen hatte. Das würde die Ukrainer gegen ihn aufbringen, die nicht für den Krieg waren und dann sagen werden: Wofür war das alles gut?“
Kurz: Die kommende Dolchstoßlegende mit der Schuldzuweisung an den Westen wäre demnach für Selenskij, sollte er ein Ende der Kampfhandlungen tatsächlich anstreben, ein raffinierter Trick, vor allem gegenüber den Zehntausenden schwer bewaffneten rechtsradikalen Banderakriegern nicht als Verräter dazustehen. Vielleicht könnte er so ja noch den Kopf aus der Schlinge ziehen, bevor die eigenen Leute ihn erhängt haben.
Es wäre nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass man nicht etwa mit Moral, sondern mit der Unmoraletwas zum Besseren gewendet hätte…
COMMENTS
Mit der „Dolchstoßlegende“, dass in der Ukraine auch das „christliche“ Abendland verteidigt werde, wird heute schon der Stellvertreterkrieg Deutschlands und der NATO gegen Russland in der Ukraine begründet. Wobei nicht erwähnt wird, dass das „christliche“ Abendland spätestens nach dem Ersten Weltkrieg untergegangen ist, wie Oswald Spengler das 1918 festgestellt hat. Dabei hat Spengler in seinem gleichnamigen Wälzer Russland nur wenige aber interessante Zeilen gewidmet, wenn er schreibt, „das Christentum Tolstojs war ein Missverständnis, die Zukunft gehört dem Christentum Dostojewskijs“. Und der erste Generalsekretär der NATO hat deren Ziele wie folgt erklärt: „Die Amerikaner in Europa zu halten, die Russen draußen zu halten und die Deutschen klein zu halten“. Daran hat sich nichts geändert außer, dass sich das Ziel des „Kleinhaltens Deutschlands“ erst jetzt beginnt abzuzeichnen.