Deutsch-russische Seelenwanderung – ein VersuchOroschakoff, Haralampi G., Künstler bild © Diana Hohenthal

Deutsch-russische Seelenwanderung – ein Versuch

Zur Charakterisierung der Deutschen erzählen Russen gerne den Witz von den aufsässigen Proletariern, die Unter den Linden demonstrieren, bis sie auf eine behördliche Tafel „Durchgang verboten“ stoßen, worauf die Revolution ausfällt. „Ja, es darf darüber gelacht werden – bis zum Frösteln, bis zur weltumspannenden Gänsehaut, bis zu Tränen“, schrieb Heinrich Böll 1979 über jene Kreise des Widerstandes, denen die „Bindung an den Osten“ als die „zweite Möglichkeit der Deutschen“ erschien. Tränen des Hohns wandeln sich oft zu solchen des Schmerzes. Energieprobleme sind nicht nur physikalischer Natur – Quellen versiegen, hoffentlich nicht endgültig und irreparabel.

Dostojewskij, der Dichter der russischen Seelenkrankheit, die zu seiner Zeit noch schleichend gewesen war, beschreibt die zerrissene Seele im alten Geist des Ostens, der in dramatischer Wucht mit dem neuen Geist des Westens ringt. Es sind Bilder von kommenden Revolutionen im Wettkampf zwischen den prometheischen und dem messianischen Geiste. Sie spiegeln die tiefe Gespaltenheit der russischen Seele wieder, die sich widerstrebenden Kräfte darin, die westliche Thesen umkehren und im Endeffekt an die alte Frage branden, was daran europäisch ist, was russisch und was asiatisch. Nicht Europa ist in Gefahr, in eine russische Katastrophe hineingerissen zu werden, sondern Russland in die der europäischen Selbstzersetzung. Der lauernde Revanchismus auf beiden Seiten entfernt uns voneinander und verspricht für die nötige Zusammenarbeit in der Zukunft nichts Gutes.

Wer über die geistige Auseinandersetzung zwischen Russen und Deutschen, zwischen Ost und West, mit dem Ziel einer beide Seiten bereichernden Kulturerfahrung nachdenkt, über diese Notwendigkeit der Einbeziehung, muss nicht zwangsläufig die politische Sorge in den Vordergrund der Auseinandersetzung setzen – so dringend diese auch erscheinen mag. Er muss sich auch nicht um die üblichen Übertreibungen, Ungenauigkeiten und Täuschungsmanöver kümmern – Propaganda gehört zum Geschäft, wenn sich widerstrebende geo-strategische Interessensblöcke gegenüberstehen. Das Augenmerk richtet sich stattdessen auf die Wiederbelebung der spirituellen Kräfte.

Im Gegensatz zur kompakten Bürgerlichkeit deutscher Prägung, die den Besitz vergöttert und in letzter Instanz die eigene Gesundheit, hat der russische Mensch dieses fest verwurzelte Gefühl für Privatbesitz nicht gekannt. Auf geniale Weise beschrieben in Lew Tolstois „Krieg und Frieden“, als Natascha Rostowa anlässlich der Frage, ob man Besitz oder Verwundete aufladen solle, empört ausruft: „Sind wir denn Deutsche?“. Die Räumung des brennenden Moskau im Jahre 1812 stellt ein entscheidendes Ereignis in der oft gewalttätigen tausendjährigen russischen Geschichte dar und verweist mühelos auf den ungeteilten Besitzanspruch geistigen Ursprungs im sog. „russischen Menschen“ hin. Nicht nur bei Napoleon oder Hitler bezeugte das russische Volk den totalen Kampfeswillen in seiner schier einzigartigen Opferbereitschaft. Trotzdem hat sich die russische Gesellschaft, bei aller Leidensfähigkeit, niemals kampflos aufgegeben.

Paradoxerweise sind die heutigen Luxusexzesse russischer Oligarchen, welche die neidisch-lüsterne Öffentlichkeit unterhalten, (und für den letzten Rest von Glamour in einer ansonsten dünnlippig beäugten Regelhaftigkeit sorgen) im Grunde die Weiterführung dieser geistigen Haltung ehemaliger Besitzloser, verankert im atemlosen Hier und Jetzt der digitalisierten Geldvernichtungsmaschinen. Es wäre zu fragen, ob sich nicht erst wegen der marxistischen Indoktrinierung dieses Gefühl für Besitz (und Balkanisierung) in der Sowjet-Union und ihren osteuropäischer Satelliten entwickelt hat. Ob nicht hinter dem Rücken der Weltbeglückungsformel (nicht nur dem Wesen nach deutsch) diese unerwünschte Verwestlichung eingesetzt hat? Im Zeitalter permanenter Vermehrung digitaler Geldströme bei fortschreitender Verarmung breiter Massen ist die Schwärmerei für geistige Erneuerung vorhanden: hämische Denunziation ist dabei fehl am Platz und sollte verantwortlich von jenen Kreisen, die mediale Deutungshoheit beanspruchen, verwaltet werden. Das Wiederentdecken, ja Wiedererstarken der orthodoxen Kirche, beinhaltet einen religiösen Enthusiasmus, der deutlich von sektiererischen Einflüssen unterschieden werden muss und einen geistigen Nährboden für die Selbstbefragung beinhaltet. Doch wie kann ein Dialog mit jenen geführt werden, die roboterhaft wie permanent Meinungsvielfalt einfordern, jedoch Meinung nicht aushalten?

Nach all den Kriegen des 20. Jahrhunderts, nach Völkervernichtung und Hiroshima, ist der Begriff der Ganzheit seiner spirituellen Kraft beraubt. Er ist genau genommen zur bloßen Information verkommen. Er stammt aus anderen Zonen, anderen Zeiten, untergegangenen Welten mit ihrer unbegreiflichen Duldsamkeit. Unsere Zeitgenossen haben sich von diesem Begriff immer weiter entfernt, individualisiert und dabei so erstaunlich toleranzlos, bei permanenter Beteuerung des Gegenteiligen. Sie haben das Rückgrat der Welt gebrochen. Je weniger Religion es gibt, umso mehr Staat wird nötig. So entsteht der totale (nicht totalitäre) Staat als gelebte Sozialform der Gottlosigkeit im gelenkten Hedonismus. Dieser totale Staat kann nur in der Demokratie verwirklicht werden, niemals in der Monarchie. Er muss Hochkulturen absorbieren und nivellieren. Langsam, unmerklich, Stück für Stück, wird die Freiheit zuerst der „Sicherheit“ geopfert, wird ständig die Angst geschürt, genährt, um dann in den Kopf und in die Sprache einzugreifen. Währenddessen bewegen sich die Systeme wie gewaltige Apparate – gesichtslos, leer und informationssüchtig. In dieser sinnentleerten Welt, die allem Wirtschaftlichen den Vorrang lässt, in dieser technischen Betonwüste könnte Russland sich seiner alten Kräfte erinnern. Jener Kräfte, die Europa negiert, um sie zu verlebendigen: Regionalität und Eigenart. Der Weg in die neue Renaissance ist möglich – gehen müssen wir ihn gemeinsam.

Dieser russische Kontinent, ein christlicher Teil Asiens, hat seine Kräfte noch nicht verbraucht. Sie liegen weit verstreut und bedürfen der Ergänzung, ja der Bestärkung, und doch sind sie spürbar und ein vitales Zeichen der Erneuerung Europas. Meine Worte klingen romantisch, fast beschwörend – so sei es. Trotz der gegenseitigen Arroganz, des Misstrauens, trotz der vorhandenen Dummheit, die im Laufe der jüngsten Geschichte nicht geringer geworden ist, ist die gedachte Annäherung zwischen Russen und Deutschen keine Sehnsuchtsformel: die oft verspottete „russische Seele“ existiert. Sie hat ihr experimentierfreudiges spielerisches Talent und ihre Fatalität nicht gänzlich eingebüßt. Während der „gute Deutsche“ sich selbst applaudiert, so angestrengt weltoffen die Vernunft vergottet und dabei so stolz darauf ist, die unzuverlässigen Gefühle im Zaum zu halten, wird er zum Polizeichef der Eigenwahrnehmung im gelebten Moralimperialismus. Er muss die Welt durch seine überragende Menschlichkeit verblüffen – diese Darstellung schier unbegrenzter Hilfsbereitschaft und vorbildhafter Organisation. Deutschland zeigt der Welt, wie es vorangeht. Im Gegensatz dazu stellt das Elementare, das Maskuline, das Maßlose im Russen, noch bis vor kurzem eine willkommene Bereicherung, eine Bedrohung dar. So wird es auch medial vermittelt.

In unseren so sorgsam gehüteten Wohlfühlbiotopen schleicht sich langsam ein Unwohlsein ein, mit klar formuliertem Feindbild im Osten. Doch geht es nicht um Verdammnis, noch ums Seelenheil, sondern um das Leben im gemeinsamen Raum. Im notwendig Kommenden. Den Medien zum Trotz wird der messianische Mensch dem verhangenen Bild einer höheren spirituellen Ordnung folgen und die zweckgebundene Welt erneuern. Heraklit wollte in diesem Zusammenhang von der „Rhythmik des Weltgeschehen“ sprechen. In der Neuzeit mit ihrem fortschrittbesessenen Machtwillen, ist diese ewige Wellenbewegung in Vergessenheit geraten. Dieser Zustand kann der Bewegung selbst nichts anhaben. Es sind die Zwischenzeiten, in denen die Empfindung des Verlustes geistigen Eigentums aufkommt. Zeiten des Wandelns, der Verirrung und Verwirrung von Begriffen und Möglichkeiten. Dostojewskij spricht in diesem Zusammenhang von der Sphinx als Selbsterneuerung, die als Phoenix wieder aufersteht, um die Völker zu erleuchten. Er meinte damals, den russischen Menschen darin zu erkennen. Dieser Seelenmensch hat Sachlichkeit nötig. Doch wer wie wir den Himmel auf Erden ausbreiten will, erschafft nicht selten die Hölle – es gibt keine schrecklichere Herrschaft, als jene der militanten Tugend.

In unserer Wohlstandsgesellschaft sind die antiken Figuren, das Christentum nur mehr Erinnerung, Ruhepunkt, Liebhaberei, Geld oder Angst – kein Schicksal mehr. Die russischen Denker stattdessen stellen sich nach wie vor die Frage: „Was sind wir im Verhältnis zu Europa? Minder? Jünger? Andersgeartet? Leben wir in einer Perspektive? Sind wir Nachahmer oder Vorboten einer kommenden Weltkultur?“ Gültige Fragen. So wird Geschichte zum bestimmenden Faktor der Kulturphilosophie, zu ihrem Sinn und nimmt uns an die Hand. Gibt es eine Identität im Fragmentarischen? In Zeiten des Wandelns sollten wir uns dieser Frage stellen.

Natürlich bedarf die Jugend (und im Zweifel nicht nur sie) einer Anleitung, einer möglichen Antwort auf die Frage „Was soll man tun?“. Mit üblichen, parteigeprüften Gemeinplätzen und Opportunismus auf allen Seiten werden wir uns dieser Frage nicht widmen können. Berufspolitiker sind aus dem üblichen Lebensgleis herausgeschleudert und man sollte tunlichst vermeiden, ihnen junge Seelen anzuvertrauen. Wer nicht für den morgigen Tag einsteht, übernimmt Verantwortung ausschließlich für sich selbst, unabhängig vom Talent der Empathiedarstellung. Wer sich darüber hinaus andauernd nach dem Mittelmaß orientiert (Konsensdemokratie), rechtfertigt die Durchschnittlichkeit, erklärt sie zur Norm und ist sein eigener Gebrauchtwarenhändler.

In diesem Sinn stellt der Gegensatz zwischen Slawophilen und Westlern (Putinversteher/-verächter) einen relevanten Richtungsstreit dar, welcher auf das Original im 19. Jhd. verweist. Damals war diese Schicksalsfrage eine gruppendynamische, und wurde romantisch, visionär und utopisch geführt. Wenn wir uns nun nach dem Wort Nietzsches der „Genealogie“ dieser Bewegungen widmen, müssen wir neben den theoretischen, wissenschaftlichen und philosophischen Aspekten auch die geostrategischen Interessen berücksichtigen.

Die Begegnung mit Europa während des 18. Jahrhunderts, mit europäischer Bildung und Kritikfähigkeit an der Gegenwart, konfrontierten das kaiserliche Russland Katharinas der Großen mit seinen eigenen Mängeln, führten aber nicht zwangsläufig zu breiter emotionaler innerer Auflehnung. Das Sichtbarwerden der russischen Wirklichkeit außerhalb der Paläste und der Weltläufigkeit der Aristokratie, mit Analphabetismus, Alkoholismus, Korruption, Schlampigkeit und bis in die niederen Ränge vorherrschenden Despotismus erzeugten in der Konfrontation mit dem westlichen Kulturgut eine breite Reaktion gegen den Rationalismus der Aufklärung. Die vorhandenen Probleme benennend, widmete sich die „Intelligenzija“ der Beseitigung der „Verderbnis der Sitten in Russland“ um das nationale Selbstbewusstsein zu heben und die slawische Volkskultur zu bewahren. Man begann sich durch die Teilhabe in Europa ein kritisches Urteil zuzutrauen und wurde empfindlicher für das herablassende und in der Regel negative Urteil von außen. Interessanterweise hatte die fortschreitende geistige und kulturelle Europäisierung während des 18. Jahrhunderts das Bewusstsein für die eigene Lage geschärft und den Glauben an die eigenen Fähigkeiten gestärkt. Inwieweit das Volk von diesen epochalen Umwälzungen berührt wurde, bleibt im Ungefähren.

Mit Zar Alexander I. entstand schlagartig eine andere Wahrnehmung des bis dahin als „finsterer asiatischer Despotismus“ benannten Russlands. Alexanders Vorfahren (in der Mehrzahl Deutsche) hatten einen beispiellosen Siegeszug auf dem Weg zum Imperium beschritten: seit der Eroberung Aserbaidschans im Persischen Krieg (1722-1733) waren in rascher Folge die Khanate der Kasachen, Baschkiren sowie die Fürstentümer Abchasien und Ossetien russisch geworden und damit die westlichen Gebiete des Kaspischen Meeres sowie die nördlichen Gebiete des Schwarzen Meeres. In einem beispiellosen Tempo entstanden des weiteren Häfen, Handels- und Administrationszentren sowie Verkehrswege, von autonomen Kosakenabteilungen gesichert. Im nächsten Russisch-Türkischen Krieg wurde der Groß-Khan der Krim besiegt und das Khanat Baschkiristan unterworfen. Damit wurde die Konsolidierung des Schwarzen Meeres mit der Rückgewinnung des byzantinischen Erbes verbunden und die dreihundert Jahre währende Mongolenherrschaft endgültig überwunden. Das Osmanische Reich musste im Frieden von Kütschük-Kainardschi Russland als Schutzherr aller orthodoxen Christen in seinem über drei Kontinente gespannten Weltreich anerkennen und die Okkupation der Mani (Pelepones) hinnehmen.

Als Fürst Orloff 1779 das russische Protektorat über die Ionischen Inseln einrichtete, verfügte Russland zum ersten Mal über direkte Wege zum Mittelmeer und wurde im Inneren mit der griechischen Idee des Pan-Orthodoxismus konfrontiert. Großbritannien reagierte nervös auf diese stetigen Erfolge in einer Region, die London als „naturgegebenes Recht der Zivilisation“ ansah (etwas weniger hochtrabend gesagt, ging es um dessen Sicherung der eigenen Handelsdominanz). Als sich der Hetmann der Saporoger Kosaken dem Zaren unterstellte und dem andauernden Druck vonseiten der Osmanen und Persern schutzlos ausgeliefert sah, 1801 das Königreich Georgien und die Fürstentümer Mingrelien und Inkerman freiwillig folgten, war das Schwarze Meer bereits ein Russisches geworden. Wien, als Zentrum der Donau, eifersüchtig auf seine Vormachtstellung am Balkan, reagierte geradezu panisch auf diesen Expansionszug Russlands: es fürchtete zu Recht eine ernsthafte Destabilisierung innerhalb seiner eigenen, unterdrückten slawischen Mehrheit.

Wir erleben gerade eine beispiellose Völkerwanderung, als direkte Folge erbitterter Kämpfe um die Neuordnung im Nahen Osten und Zentralasiens. Was als amerikanische Intervention begonnen hatte, erinnert mittlerweile an die Zustände im 19. Jahrhundert, als sich die rivalisierenden Höfe in einem unaufhörlichen Strudel gegenseitiger Erpressungen mit wechselnden Bündnissen gegenüberstanden, um am Ende durch die eigene Unverantwortlichkeit und Verblendung den kollektiven Selbstmord des alten Europas herbeizuführen. Das Wiedererwachen der „Orientalischen Frage“ hatte sich unerkannt wohl schon im Zerfall Jugoslawiens abzuzeichnen begonnen und sah darin das geschwächte Russland isoliert im amerikanisch- europäischen Konzert.

Schon einmal war Russland auf eigenem Boden geschlagen und erniedrigt worden: Der Krimkrieg. Dieser erste moderne Weltkrieg zur Mitte des 19. Jahrhunderts setzte neben der Ernüchterung über die eigenen Schwächen die Verzweiflung über die eigene isolierte Position. Diese tiefsitzende Beleidigung führte in der Folge in die gesellschaftliche Depression und bereitete den Boden für eine nihilistische Terrororganisation vor. Attentate, Überfälle und drakonische Gegenmaßnahmen waren die Folge.

Die Antwort begann sich aus den Kreisen panorthodoxer Denker herauszubilden. Im Gegensatz zu Aufklärung und den Rationalismus übernahmen die ersten Slawophilen (Jan Kollár und Pavel Šafaric) von den deutschen Nationalisten den Begriff „Volk“, verbanden ihn mit der deutschen Romantik und entwickelten unter dem Einfluss Herders den Begriff des Panslawismus. Er war die Antwort auf die Westler, die alles Europäische bewunderten und zu Recht darauf hinwiesen, dass die Slawen weder sich selbst noch ihre Gegner richtig einzuschätzen vermögen, weil sie unfähig zur Sachlichkeit und Pragmatismus seien. Im Gegensatz dazu betonten die Slawophilen das gemeinsame byzantinische Erbe sowie die Abstammungs-, Sprach- und Sittenähnlichkeit unter den slawischen Völkern. Im Jahr 1848 fand der erste Slawenkongress in Prag statt. Bakunin wies den polnischen Allmachtsanspruch zurück (das Märtyrertum nach Mickiewicz) und sprach erstmals Russland die Führerrolle zu. Männer wie Aksakoff und Samarin dachten an ein großslawisches Weltreich, um erlittene Misserfolge zu kompensieren. Ihre Schüler, wie Danilewskij, gingen weiter und wollten den Beweis führen, dass der germanisch-lateinische Kulturtyp seine historische Aufgabe erfüllt hat, während der angelsächsische Kapitalismus die Menschen zu Arbeitersklaven oder Konsumenten degradiert und sahen im vereinigten Slawentum die Erneuerung der hellenischen Wurzeln sowie die Orthodoxie als vereinigendes Band bis in die Antike hinein. „Russland werde damit zum Sinn und Vollender der Weltgeschichte.“

Die neu gegründeten slawischen Wohltätigkeitskomitees in Moskau, St. Petersburg, Kiew, Odessa, Sofia und Prag förderten die kulturelle Betreuung sowie die Verbreitung der slawophilen Idee (Ignatieff, Naryschkin, I. Aksakoff, Oroschakoff, Rudanowskij). Diese Bewegung wurde von den Westlern als „sinnlose Übertreibung, Phantasmagorie und Rückschritt in finstere mittelalterliche Zeiten“ gebrandmarkt. Man sah das Wohl Russlands einzig im Sturz des Zarenregimes, in der Säkularisierung der Kirche sowie in der Übernahme liberalökonomischer Programme aus Europa auf dem Weg zu einer parlamentarischen Demokratie gleichberechtigter Bürger (heute würde man Regime Change und Nation Building dazu sagen). Beide Parteien übersahen dabei gravierende Mängel: die Panslawisten die simple Wahrheit, dass nicht alle Slawen orthodox waren, und die Westler, dass es weder funktionierende Institutionen gab noch den nötigen Bildungsgrad der ländlichen Bevölkerung. Insofern blockierten sie sich gegenseitig und öffneten einen Raum, den nach der Bauernbefreiung durch Alexander II., entschlossen und gefährlich extremistische und terroristische Vereinigungen ausfüllten. Der staatliche Zerfall des Vielvölkerreiches mündet in eine Orgie der Gewalt im Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg.

Heute stehen wir vor epochalen Umwälzungen und sollten nicht blind und taub für die Anzeichen der Veränderung sein. Das wiedererstarkte Russland ist nicht der Feind Europas. Er ist ein eigenständiger Kulturraum von großem Reichtum und Möglichkeiten. Die Probleme können wir nur gemeinsam sowie gleichberechtigt lösen. Noch ist es nicht zu spät dafür.

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