Die Supermächte, die Salzburger Festspiele und ein neuer Blick auf die Weltlage

Die Supermächte, die Salzburger Festspiele und ein neuer Blick auf die Weltlage

[von Michael Schütz] Sollten Sie, liebe Leserin, werter Leser, sich jetzt fragen, was die Salzburger Festspiele mit den Supermächten zu tun haben könnten, so lautet die Antwort – wie Sie wahrscheinlich schon vermutet haben: Nichts!

Also genau genommen: fast nichts. Denn im Rahmen des heurigen Festivals in Salzburg (2021) wurde der Begriff „Supermacht“ an prominenter Stelle einfach mal so ins Publikum geworfen und daher wollen wir hier diesen Moment näher betrachten:

Die Salzburger Festspiele werden (in Zeiten der „Normalität“) mit einem Festakt eröffnet, bei dem, neben Vertretern verschiedener offizieller Institutionen auch ein Festredner zu dem eingeladenen, „hoch-erlauchten“ Publikum spricht. Zur Auflockerung dieses über weite Strecken durchaus anspruchsvollen Geschehens lässt dabei traditioneller Weise das Salzburger Mozarteum-Orchester einige meisterliche Töne erklingen, heuer unter der Leitung von Ingo Metzmacher.

Bei der diesjährigen Eröffnung war der Philosoph und ehemalige deutsche Kulturpolitiker Julian Nida-Rümelin als Festredner geladen. Nida-Rümelin ist ein großer Redner und er hat in seiner Rede, in denen er sich mit Utopien und Dystopien der Gegenwart auseinander gesetzt hat, einige Dinge gesagt, die vor einem prominenten Publikum endlich ausgesprochen gehörten. Trotzdem hat seine Rede aus Sicht des Autors den einen oder anderen Satz aufgewiesen, den es sich lohnt, zu hinterfragen. Und da wäre eben auch dieser Verweis Nida-Rümelins auf die Supermächte gewesen.

Der Kommentator der Fernseh-Übertragung des Festaktes fasste die Rede Nida-Rümelins  mit folgenden schlanken Worten zusammen:

„Die großen Utopien, wie etwa der  reale Sozialismus, aber auch die Fukuyama Utopie vom Sieg der westlichen Welt oder die neoliberale Utopie haben ihre Potentiale erschöpft. Mit dem Ende der Bipolarität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seien auch die Utopien zusammengebrochen. Aktuell würden statt dessen drei große Dystopien die Vorstellung der Menschen regieren, der Klimawandel, ein drohender Atomkrieg oder auch die Digitalisierung. Antwort könnte hier nur eine humanistische Vision liefern, und diese müsste auf Grundlage der Demokratie entstehen.“

In dem Abschnitt, in dem es um die Dystopie eines drohenden Atomkriegs gegangen ist, sagte Nida-Rümelin folgendes:

„Die zweite Dystopie ist – die Debatte darüber ist interessanterweise bislang überwiegend auf Fachzirkel beschränkt – ein möglicherweise drohender Atomkrieg in einer Welt, in der neue Supermächte sich gerade formieren. Eine neue Supermacht, das kann nicht mehr bezweifelt werden, ist China mit 1,3 Milliarden Einwohnern, einem gigantischen Wirtschaftswachstum, einer massiven Aufrüstung. Aber auch Indien geht seinen eigenen Weg. Und eine vermeintliche Mittelmacht von lediglich regionaler Bedeutung, wie Obama meinte oder hoffte, will sich nicht abdrängen lassen und geriert sich ebenfalls als Supermacht. Das macht die Dinge unübersichtlich, multipolar und gefährlich. Und jedenfalls in Fachkreisen wird gesagt, noch nie war die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearkriegs so groß wie heute. Man mag es kaum glauben – ich glaube es nicht – aber Fachleute sagen das.“ (Zitiert nach der Wortlaut-Wiedergabe der Reden durch die Salzburger Nachrichten vom 26. Juli 2021)

Der Autor fasst also die Worte Nida-Rümelins zusammen: es gibt definitiv eine neue Supermacht, nämlich China, Indien dreht sein eigenes Ding und dann gibt es da noch eine Macht, na ja, die sich als Supermacht lediglich geriert – was laut Duden ein gehobener Ausdruck für „sich benehmen“, bzw. „auftreten als“ ist.

Der Redner will den Namen dieser, offenbar, Möchtegern-Supermacht nicht nennen, vertraut aber darauf, dass sein Publikum die Anspielung versteht. So schafft man Verschworenheit zwischen Redner und Zuhörer. Eh schon wissen. Klar. Wir verstehen uns.

In Wirklichkeit ist jedoch nichts so klar, wie es bei dieser Festrede geschienen hat. Hat hier Nida-Rümelin gar an ein bekanntes Feindbild des Westens gerührt? Denn die Europäische Union wird er mit dieser, anscheinend, Möchtegern-Supermacht kaum gemeint haben. Sollte es tatsächlich die Anspielung an dieses Feindbild gewesen sein, dann wäre dieser Redeabschnitt allerdings sehr kontraproduktiv, in Bezug auf das, was die Festspielgründer vor 101 Jahren mit den Salzburger Festspielen erreichen wollten. Nämlich von Salzburg aus die nach dem Ersten Weltkrieg zerrissenen Fäden der europäischen Kulturgemeinschaft wieder anzuknüpfen.

Einerseits: ist es tatsächlich so, wie Nida-Rümelin gesagt hat, dass die Welt durch neu aufgetretene faktische oder nicht-faktische Supermächte unübersichtlich, multipolar und gefährlich geworden ist? Der Autor hat es etwas anders wahrgenommen: Es war doch der Zusammenbruch der Bipolariät (genauer: der Polarität) mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, der die Weltgeschichte zur Entgleisung gebracht hat.

Zudem ist der Begriff „multipolar“ eine interessante Wort-Neuschöpfung, die zwar in aller Munde ist, aber existenzfähig kann eine solche Multipolarität genauso wenig sein, wie die eben abtretende Mono- od. Unipolarität. Unsere Existenz ist – zumindest bisher ist das so gewesen – polar organisiert. Das heißt, dass das Ganze aus zwei entgegengesetzten Polen besteht, die zusammen eine Einheit bilden. Die Welt faltet sich dann zwischen beiden Polen auf. Der Autor sieht im Moment keine Hinweise darauf, dass sich an dieser Ordnung etwas ändern würde.

Multipolarität wäre also tatsächlich gefährlich, aber vielleicht sollten wir die momentane Weltlage eher als Ausdifferenzierungsprozess ansehen, aus dem sich wieder eine polare geopolitische Ordnung herausbilden wird. Diese neue polare Ordnung wird nicht unbedingt China versus USA heißen. Wahrscheinlicher geht es um zwei Sicherheits- und Entwicklungsmodelle, die sich gegenüberstehen, konkurrieren und kooperieren.

Anderseits: Der Begriff „Supermacht“ wird nach den aktuellen Ereignissen in Afghanistan einer Revision unterzogen werden müssen. Man geht wahrscheinlich kaum fehl in der Annahme, wenn man die Ereignisse in Afghanistan als einen Schlüsselmoment des 21. Jahrhunderts sieht, als einen Wendepunkt, der mittel- und langfristig vieles ändern wird.

Nichts macht deutlicher als das Geschehen in Afghanistan, dass wir mit neuen Begriffen arbeiten müssen, die das Weltgeschehen adäquater abbilden können. Mit den neuen Begriffen ändert sich auch unser Blick auf die Welt und damit verändert sich letztendlich auch die Welt selbst. Wir werden folglich auch zu einer ganz anderen Einschätzung der Weltlage gelangen, als der heurige Festspielredner, wenn wir die Begrifflichkeiten den Veränderungen anpassen.

Welche Eigenschaft müssen also Mächte des 21. Jahrhunderts mitbringen, damit sie eine Rolle als Führungsmacht beanspruchen können? Der Bedarf ergibt sich aus dem Mangel und der Mangel den die westliche Wertegemeinschaft in Afghanistan und nicht nur dort erkennen hat lassen, liegt in ihrer Unfähigkeit, eine stabile Entwicklungsperspektive aufzuzeigen.

Wieso der Westen diese Fähigkeit zur Perspektivmacht, nicht besitzt, hat vielerlei Gründe. Wenn es z. B. die europäischen Wertedemokratien in Bezug auf die Okkupation Afghanistans zwanzig Jahre lang nicht geschafft haben, diese offensichtlich nicht adäquate Entscheidung zu revidieren, dann können sie kaum den Anspruch stellen, eine Perspektivmacht zu sein. Das politische System dieser Wertedemokratien wirkt hier deutlich überfordert und nicht ausreichend erkenntnisfähig.

Dafür hat der syrische Staatschef Assad die fehlende Kraft des Westens zur Perspektivmacht sehr wohl wahrgenommen, als er einmal – so erinnert das der Autor –in einem Interview gesagt hat, dass die westliche Welt immer nur nehme, aber nicht geben wolle.

Dagegen haben Russland und China aufgezeigt, wie man aus eigenen Interessen sog. „win-win“- Situationen herstellen kann und somit auch für das Gegenüber Entwicklungsperspektiven setzen kann: Russland etwa mit der Rettung des Syrischen Staates, dem Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan, seiner Impfdiplomatie, auf der Krim und manch anderem mehr. Von Chinas Neuer Seidenstraße gar nicht zu reden. Anstatt nun eigene Entwicklungsperspektiven zu kreieren, bekämpft der Wertewesten die Perspektiven, die von den Anderen aufgebaut werden.

Mit einer solchen Vorgangsweise wird der Westen ganz sicher niemanden überzeugen können und weiter an Einfluss verlieren. Es wäre daher erwartbar, dass in Folge der Ereignisse in Afghanistan auch auf der mittel-osteuropäischen Bruchlinie zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer sich die Kräfte mittelfristig wieder stärker gegen Osten orientieren werden.

Nun sind die beiden Perspektivmächte Russland und China durch die Ereignisse in Afghanistan geradezu dazu genötigt worden, sich aktiv mit der weiteren Entwicklung in diesem Land und der Region zu beschäftigen. Die Möglichkeiten dieser beiden Mächte scheinen vorerst allerdings begrenzt. Es treten weitere Akteure in das Blickfeld, die versuchen werden, ihren eigenen Einfluss zum Schaden der anderen zu maximieren. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, dass auch in den nächsten vierzig Jahren in der Region keine Stabilität herrschen wird. Präsident Putin hat nach dem Rückzug des Westens aus Afghanistan in einer Rede vom Kampf jeder gegen jeden gesprochen. Steht also der große Showdown in Zentralasien erst noch bevor? Russland und China müssen hier zunächst einmal für die unmittelbare eigene Sicherheit und Stabilität sorgen.

Sieht man allerdings die aktuellen Ereignisse in Afghanistan als einen Wendepunkt in der Weltgeschichte an, dann werden früher oder später die Tore für einen Politikwechsel offenstehen. In einem von der UNO aufgesetzten internationalen Verhandlungsprozess werden die beiden Perspektivmächte Russland und China die zentrale Rolle spielen. Der Westen muss sich diesem Verhandlungsprozess ohne wenn und aber verschreiben, nur so kann er seine verlorengegangene Glaubwürdigkeit und Autorität – teilweise – wiedergewinnen.

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    Horst Beger 3 Jahren

    Michael Schütz weist zu Recht darauf hin, dass die Salzburger Festspiele, die angeblich vor 101 Jahren gegründet wurden, „um an die durch den Ersten Weltkrieg zerrissenen Fäden der europäischen Kulturgemeinschaft wieder anzuknüpfen“, fast nichts mit den heutigen Supermächten zu tun haben. Wobei anzumerken ist, dass die europäische Kulturgemeinschaft lange vor dem Ersten Weltkrieg untergegangen ist, sonst hätte es nicht zu dem lange und gut vorbereitetem Ersten Weltkrieg kommen können. Die katholischen Gründungsväter der Europäischen Union und deren Nachfolger glaubten zwar, das untergegangene Abendland noch einmal wiederbeleben zu können, indem sie sich im Rahmen der NATO bedingungslos der amerikanischen Supermacht als deren Fremdenlegion anschlossen, um so den verlorenen Ersten und Zweiten Weltkrieg gegen Russland im nachhinein doch noch gewinnen zu können. Dass die „Möchtegern-Supermacht“ Russland einen Strich durch diese Rechnung gemacht hat und so nicht nur das russische Christentum gerettet hat, sondern das Christentum überhaupt, ist den kalten Kriegern des Westens so unbegreiflich, dass sie glauben, dem nur mit militärischer Aufrüstung entgegen treten zu können. Wer das genauer erfassen will, der lese die Erzählung „Der Großinquisitor“ des Dichterphilosophen Fjodor Michailowitsch Dostojewskij.

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