Der Wahlkampf war ungewöhnlich schmutzig. Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen sind vorbereitet und wahrscheinlich.
Die Ukraine ist auch nach dem Umbruch von 2014 im Schlamm steckengeblieben (Eine ausführliche Bilanz finden Sie hier, hier und hier.) Vielleicht geben die Wahlen neuen Schwung, sich aus ihm zu befreien? (Zu den Kandidaten siehe hier.)
Der Überraschungskandidat Wolodymyr Selenskyj führt die Umfragen an, seit er seine Kandidatur bekannt gegeben hat. Präsident Poroschenko und Politveteranin Timoschenko – die anderen aussichtsreichsten Bewerber – wechseln einander in den Umfragen bis in den Februar hinein an Stelle zwei ab. Dann lässt Poroschenko seine Widersacherin hinter sich. Selenskyi aber bleibt ihm weiterhin deutlich voraus.
Und dann passiert etwas.
Skandale
Oleh Hladkovskiy ist ein enger Gefährte Präsident Poroschenkos und Erster Stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats. Am 26. Februar wird bekannt, sein Sohn war führender Kopf einer Gang, die
– abgenutzte Ersatzteile aus Russland erwarb und sie stark überteuert der ukrainischen Armee überließ;
– den ukrainischen Streitkräften Ersatzteile verkaufte, die diese selbst bereits als unbrauchbar ausgesondert hatten;
– Waffen an die Rebellen im Donbass verkaufte.
Ein Unternehmen, das dem Staatsoberhaupt direkt gehörte, war an den genannten Vorgängen beteiligt.
Hladkovskiy sen. nimmt sofort von seinen Abschied von den Ämtern. Hat er aus den kriminellen Machenschaften seines Sohns Profit gezogen? Sie könnten ukrainischen Soldaten das Leben gekostet haben. Und: was wusste der Präsident?
Timoschenko strengt unverzüglich im Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Poroschenko an. Selenskyi klagt an, dieser sei durch Blutvergießen an die Macht gekommen und profitiere auch bei den genannten Verbrechen davon. – Man beachte den Unterton Selenskyis. Seine Anhänger sehen den Maidan oft kritisch oder ablehnend.
Der Präsident kündigt genau an dem Tag, an dem die Machenschaften bekannt werden, eine deutliche Rentenerhöhung an … Poroschenko ist in der Defensive. Timoschenko schiebt sich in den Umfragen an ihm vorbei an die zweite Stelle. Bekannte Reformer verlassen die Parlamentsfraktion, die Poroschenkos Namen trägt.
Wenig später findet die Polizei hochentwickelte Abhöreinrichtungen in Selenskyis Wahlkampfzentrale. Der Poroschenko unterstehende Geheimdienst bestreitet nicht, sie dort platziert zu haben. Aber nicht etwa, um den Präsidentschaftskandidaten abzuhören, sondern um zu verhindern, dass die Russen dies tun! Der Nachrichtendienst hatte bereits vor Eingriffen des Kremls in den Wahlprozess gewarnt. Der Geheimdienst geht in die Offensive und eröffnet ein Verfahren gegen den Chef der Polizei, Innenminister Awakow. Dieser könnte immerhin auf der Gehaltsliste Moskaus stehen.
Auch Awakow schaltet einen Gang höher: Von ihm gedeckte, wenn nicht angeleitete Rechtsradikale beginnen, Poroschenkos Wahlkampf massiv zu stören. Es gibt zahlreiche Verletzte.
Der Innenminister und das Staatsoberhaupt sind verfeindet. Sie stehen unterschiedlichen Interessengruppen vor. Awakow wirft Poroschenkos Team vor, Wählerstimmen in großem Maßstab zu kaufen. Dem Präsidenten unterstehende Rechtsschutzorgane drangsalieren die Opposition, so ein weiterer Vorwurf. Hierfür gibt es zahlreiche Indizien: Präsidentschaftskandidat Anatolij Hryzenko wird vom Generalstaatsanwalt beschuldigt, für die Armee bestimmte Gelder zu stehlen. Dabei gehört Hryzenko, der bei der Wahl bis zu zehn Prozent der Stimmen gewinnen könnte, wohl zu den saubersten Politikern der Ukraine. Vor allem unter den Patrioten genießt er einen ausgezeichneten Ruf, genau diese will jedoch Poroschenko gewinnen. Die „Anti-Korruptions-Agentur“ widmet sich Selenskyi. Auch um Timoschenko kümmert man sich. Zahlreiche ihrer Parteibüros werden durchsucht, da die Kandidatin versuche, Wähler zu kaufen … Und zumindest ein Versuch des Timoschenko-Lagers, jemanden zu kaufen, ist gut dokumentiert:
Timoschenko und Timoschenko
Es gibt zwei Präsidentschaftskandidaten dieses Namens, Julija und Juri. Letzterer spielte im öffentlichen Leben der Ukraine zu keinem Zeitpunkt irgendeine Rolle, er macht auch keinen Wahlkampf. Juri wurde vom Poroschenko-Lager ins Rennen geschickt, damit irrtümlich bei ihm und nicht bei Julija auf dem Wahlschein das Kreuz gemacht wird. Die Anhänger der Kandidatin sind häufig älter bis betagt. Und der Wahlzettel mit den 39 Kandidaten misst in der ukrainischen Geschichte beispiellos lange 83 cm. So könnten sich doch einige tausend Wähler irren!? In einem Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz zwei – der für die Stichwahl am 21. April qualifiziert – könnte das den Ausschlag geben.
Am 6. März verhaftet der ukrainische Nachrichtendienst mehrere Personen, die wohl zu Timoschenkos Team gehören. Also dem Julijas. Die Beschuldigten hatten den Versuch unternommen, Juri mit der Zahlung von umgerechnet mehr als 160.000 Euro davon zu überzeugen, seine Kandidatur zurückzuziehen. Juri weist diesen Bestechungsversuch jedoch zurück.
Widmen wir uns unserem
Überraschungskandidaten
Die wichtigste Informationsquelle ist für 85 Prozent der Ukrainer das Fernsehen. Die zentralen Anstalten sind in Hand von Oligarchen. – Bei den bedeutendsten Onlinemedien sind die Eigentumsverhältnisse vielfältiger, aber nicht grundsätzlich anders. – Die unterschiedlichen Fernsehsender protegieren im Wahlkampf durchaus unterschiedliche Prätendenten für das höchste Staatsamt, die Eigner haben schließlich divergierende Interessen. Aber alle großen Sender zeichnen den amtierenden Präsidenten in einem günstigen Licht. Die Oligarchen, denen die Sender gehören, wollen es sich mit dem mächtigsten nicht verderben. Er könnte es immerhin weitere fünf Jahre bleiben.
Der zweitwichtigste Fernsehsender der Ukraine ist die Ausnahme von dieser Regel: Kolomoyskyis „1+1“ kritisiert Poroschenko und berichtet außerdem ausschließlich positiv über Selenskyi. Schürt dies nicht den Verdacht, dass der Kandidat ein Werkzeug des Oligarchen ist? Oder will der Oligarch einfach nur seinem Feind Poroschenko Schaden zufügen? Aber auch die Herkunft der Wahlkampfgelder Selenskyis ist unklar. – Die anderen führenden Kandidaten geben jedoch ebenfalls weit mehr aus, als ihnen offiziell zur Verfügung steht.
Sowohl Kolomoyskyi als auch Selenskyi bestreiten politische Absprachen. Der Oligarch erklärt bspw. am 23. März, ein Mann mit einem niedrigen IQ und geringerer Gelehrsamkeit (womit er von sich selbst sprach …) könne einen intelligenteren und begabten (also Selenskyi!) nicht beeinflussen.
Diese doppelbödige Ironie ist typisch Kolomyoskyi, der fraglos schlitzohrigen Humor besitzt. Der Oligarch besitzt neben der ukrainischen auch noch die Staatsangehörigkeiten Zyperns und Israels. Als er in der Ukraine kritisch darauf angesprochen wurde meinte er: „Die <ukrainische> Verfassung untersagt eine doppelte Staatsangehörigkeit, aber keine dreifache.“ Natürlich zog der Gesetzesbruch auch in diesem Fall keine Konsequenzen nach sich.
Am 27. März startete die dritte Staffel der 2015 angelaufenen Reihe „Diener des Volkes“ auf 1+1. Wolodymyr Selenskyj steht in der Hauptrolle. Der Inhalt: Der Diener des Volkes (Selenskyi) kämpft gegen einen Dunkelmann und eine Dunkelfrau, die Poroschenko und Timoschenko ähneln, also Julija …
Wahlprogramme
Poroschenko ist nervös. Die beiden Hauptkonkurrenten haben angekündigt, ihn strafrechtlich zu belangen, seine Wiederwahl ist fraglich. Wohl aus diesem Grund hat er den ukrainischen Generalstaatsanwalt damit beauftragt, mit einem aufsehenerregenden Vorwurf an die Öffentlichkeit zu gehen: Die US-Botschafterin habe ihm eine Namensliste von Individuen gegeben, die nicht angerührt werden sollten. Der ukrainische Präsident möchte entweder Sympathiepunkte bei seinem amerikanischen Amtskollegen gewinnen, denn die US-Diplomatin, deren Abberufung ohnehin bevorsteht, lässt an ihrer Verachtung der Administration in Washington keine Zweifel aufkommen. Oder die Botschaft des noch amtierenden ukrainischen Staatsoberhaupts lautet: Ich bin bereit und in der Lage mit Dreck zurückzuwerfen und könnte die USA durchaus ernsthaft in Verlegenheit stürzen. – Oder sind bei Poroschenko einfach die Nerven durchgegangen?
Alle drei Prätendenten sind ihrer Wahlkampflinie vom Jahreswechsel treu geblieben (http://www.cwipperfuerth.de/2019/03/28/die-kandidaten-des-ukrainischen-praesidentschaftswahlkampfs/).
Poroschenko präsentiert sich als Verfechter der Ukrainisierung und notwendiger Garant der Unabhängigkeit des Landes. Am 17. März sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung: „Es ist Ziel dieser Wahlen, unsere wirkliche Unabhängigkeit von Russland zu wahren.“ Hierzu sei mit seiner Wiederwahl nur ein kleiner Schritt erforderlich. Das Land „ist der EU- und NATO-Mitgliedschaft so nahe wie nie“. Am Ende seiner zweiten Amtsperiode stünde sie kurz bevor. Die Krim und der Donbass sollten mit politischen und diplomatischen Mitteln wiedergewonnen werden, nicht militärisch. Aber „der Weg zum Frieden liegt in einer weiteren Stärkung der Armee“. Hierfür kündigte er an, mit Beginn seiner neuen Amtsperiode ein Programm für Militärraketen aufzulegen.
Timoschenkos Zielgruppe sind insbesondere die Armen. Der Durchschnittslohn in der Ukraine ist etwa 20% niedriger als 2013. Sie findet starke Worte gegen die Politik des IWF, der nicht zuletzt eine starke Erhöhung der bis 2014 sehr niedrigen Energiepreise gefordert hatte. Diejenigen für Gas wurden in den letzten Jahren um 800% erhöht. Und sie verspricht, gegen die Oligarchen vorzugehen.
Selenskyi wendet sich als einziger der Spitzenkandidaten gegen die Politik der Ukrainisierung. Auch er kündigt eine verschärfte Anti-Korruptionsgesetzgebung an, er hält sich mit Versprechungen aber grundsätzlich stärker zurück als die Konkurrenz. Sein Wahlkampf war wenig politisch, bestand meist aus Konzerten oder Comedy Shows. Negativ gesagt: So können verschiedene Wählergruppen das in ihn hinein projizieren, was sie sehen wollen. Positiv ausgedrückt: Er heizt die in der Ukraine ohnedies wallenden Emotionen nicht noch weiter an. Selenskyi ist der am wenigsten populistische bzw. demagogische der drei Spitzenkandidaten. Strebt er ein „versöhnen statt spalten“ an. Oder ist er Kolomoyskyis Trojanisches Pferd, ob aus Naivität oder Berechnung?
Die letzten Umfragen
Alle Demoskopen sehen Selenskyi nach wie vor an führender Position, wenngleich weit unter der 50%-Hürde. Ob am 31. März jedoch Poroschenko an zweiter Stelle liegt oder sich mit Timoschenko ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern ist umstritten.
Es gibt ernstzunehmende Zweifel, ob Selenskyi am Wahltag einen so hohen Prozentsatz gewinnt wie die Umfragen prognostizieren: Die Neigung, tatsächlich zur Wahl zu gehen ist bei den Anhängern der beiden Widersacher deutlich höher. Selenskyis Anhängerschaft konzentriert sich in der Ost- und Südukraine, wo 2014 Millionen Menschen den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ferngeblieben sind. Werden sie jetzt den Eindruck gewinnen, eine wählbare Alternative auf dem Stimmzettel zu finden?
Selenskyi verfügt auch weder über Timoschenkos Parteibasis, noch über die administrativen Ressourcen des Präsidenten. Seine Wahlkampfbüros befinden sich lediglich in den großen Städten, in der Weite des Landes ist er praktisch nicht präsent. Selenskyis Mitarbeiter sind politische Neulinge. Außerdem sind seine Anhänger überproportional jung. Und bei den jüngeren liegt die Wahlbeteiligung auch in der Ukraine deutlich unter derjenigen älterer. Werden die Jungen dieses Mal ihre Stimme abgeben?
Zu guter Letzt: Selenskyis neue Partei „Diener des Volkes“ ist nur in einem Drittel der regionalen Wahlkommissionen vertreten.
Indizien für Verfälschung des Wählerwillens
Die zentrale Wahlkommission setzt sich in ihrer großen Mehrheit aus Gefolgsleuten Poroschenkos zusammen. Vertreter des „russlandfreundlichen“ „Oppositionsblocks“ gehören ihr gar nicht an, obwohl dieser rund jeden achten Wähler repräsentiert.
Der mächtige Innenminister und die starke Partei Timoschenkos werden Verfälschungen des Wahlergebnisses entgegentreten, zumindest falls sie zugunsten Poroschenkos versucht werden. Andererseits konnte Timoschenkos Partei nicht einmal verhindern, dass „Juri“ Kandidat werden konnte, um „Julija“ Stimmen wegzunehmen.
Das stärkste Indiz für anstehende Manipulationen ist: Nach einer Erklärung der Zentralen Wahlkommission liege die Zahl der Wahlberechtigten 2019 lediglich um 80.000 niedriger als 2010. Dabei ist die Bevölkerungszahl in den vergangenen Jahren stark gefallen. Das legt folgenden Verdacht nahe: Sollen Wahlscheine Verstorbener oder Fortgezogener genutzt werden, um in deren Namen Wahlzettel mit dem Kreuz an der richtigen Stelle einzuwerfen? Hier grüßen vielleicht die „Toten Seelen“. Nikolai Gogol kam aus der Ukraine.
Ukrainer, die im Ausland leben, können weltweit in den Botschaften und Konsulaten ihre Stimme abgeben, aber nicht in Russland. Dadurch fallen bis zu drei Millionen Stimmen weg, die wohl kaum Poroschenko zugefallen wären.
Die Kiewer Zentrale Wahlkommission lehnte auch die Forderung der OSZE-Wahlbeobachtungsmission ab, 24 Bürger Russlands als internationale Beobachter zuzulassen. Immerhin Österreich hat dies offiziell kritisiert. Zuvor hatte Kiew einem österreichischen Reporter des ORF die Einreise verweigert. Er hatte die Politik der Ukraine kritisiert.
Poroschenkos Chance liegt in einer niedrigen Wahlbeteiligung. Zum einen erleichtert dies der Zentralen Wahlkommission Manipulationen. Zum anderen erhöht es seinen Prozentsatz bei dem Urnengang, denn Poroschenkos Anhänger könnten stärker motiviert sein zur Wahl zu gehen als die anderer Kandidaten – ist nicht das Vaterland in Gefahr!? Der bisherige Präsident dürfte auf den Wetterbericht schauen: Bei Schneeregen blieben vielleicht Viele daheim, was aus seiner Sicht vorteilhaft wäre. Für den Wahlsonntag werden aber Sonnenschein und Temperaturen bis zu 16 Grad vorhergesagt. Dies begünstigt eine eher hohe Wahlbeteiligung.
Turbulent könnte es werden, falls Poroschenko bei dem von der Zentralen Wahlkommission verkündeten Wahlergebnis knapp vor Timoschenko liegen sollte. In diesem Fall wird sie ihre Anhänger zu Demonstrationen aufrufen, insbesondere wenn sie auf den dritten Platz verwiesen wird, weil „Juri“ ihr zu viele Stimmen weggenommen hat.
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