Ein Licht in der russischen Botschaft!

Ein Licht in der russischen Botschaft!

[von Dr. Gerhard Mersmann] Ein kleines Gedicht Kurt Tucholskys mit dem Titel „Berliner Gerüchte“, geschrieben 1916, während des ersten großen Krieges, könnte aus unseren heutigen Tagen stammen. Es geht darum, dass Passanten spät abends noch ein Licht in der russischen Botschaft entdecken. Und sogleich schießen von einem Überträger der Nachricht zum nächsten die Gerüchte in den Himmel. Alles mögliche wird vermutet, und natürlich ist nichts von allem in irgend einer Weise beruhigend. Umso enttäuschter ist das versammelte Ensemble, als das Licht erlischt und zwei Klempner in Arbeitskleidung aus dem Gebäude kommen.

Betrachtet man die Nachrichten, die von beunruhigenden Dingen bekunden, dann wird, wenn es nicht direkt benannt wird, zumeist suggeriert, dass es auch sein könnte, dass russische Kräfte dahinter stecken könnten. Sei es eine Bombendrohung an Schulen, sei es ein in der Ostsee gekapptes Datenkabel, seien es schlechte Wahlergebnisse oder ausgefallene Ampelsysteme. Klar ist, dass der Feind im Osten steht und nichts ist preisgünstiger auf dem Nachrichtenmarkt, als die Verwendung hart erarbeiteter Feindbilder. Neuerdings gesellen sich zu den Vermutungen noch unverschämte Palästinenser, die, genau wie die Russen, unser wohl geformtes Dasein bedrohen. Die sich stets wiederholende Erzählung von den omnipräsenten Trollen hat sich so eingespielt, dass selbst eigene Entscheidungen, die sich als Katastrophe entpuppt haben, den Feindbildern zugeschrieben werden. Wie zum Beispiel der Stopp russischer Energielieferungen. Man höre sich den Wirtschaftsminister an, der nicht müde wird, die eigenen katastrophalen Handlungen dem russischen Präsidenten Putin ans Revers heften zu wollen.

Nicht alles, was wir an Scharlatanerie erleben, ist das Ergebnis dunkler Machenschaften oder kalt kalkulierter Strategien. Vieles ist auch das Resultat eines schlussendlich hergestellten Zustandes der Hysterie. Wäre man nicht auf dem Kraftfeld von vielem, was als die Eigendynamik eines auf einer falschen Erzählung basierenden Irrsinns bezeichnet werden muss, könnte man den Patienten namens Öffentlichkeit zu einem guten Psychoanalytiker auf die Couch schicken. Dieser würde sich das alles einmal anhören. Danach hätte er zwei Optionen. Entweder er empfähle dem Patienten eine Therapie, die zurück ginge auf die großen Traumata, die er aufgrund eigener Unzulänglichkeit in Sachen Demokratie erlitten hätte und die arbeiten müsste mit vielen paradoxen Interventionen, um die völlig abgestorbene Selbstreflexion zu reaktivieren. Oder der gute Mann aus dem analysierenden und therapierenden Gewebe ließe alle Hoffnung fahren und spränge aus dem Fenster. Aus dem 10. Stock!

Kennen Sie solche Situationen? Wenn etwas schreckliches passiert ist und streunende Passanten an ihnen vorbei huschen und Ihnen die unsinnigsten und frivolsten Dinge zuraunen, die das Entsetzliche erklären sollen? Die, wenn Sie ihnen nachsehen, nicht den Eindruck machen, als hätten sie auch nur ein Haar von Kompetenz, die sie zu dem Urteil veranlasste? Für die der vulgäre Tratsch so etwas ist wie die tägliche Muttermilch? Genauso verhält es sich zur Zeit nicht nur auf unseren Straßen. Nein, wir erleben es überall, wo Nachrichten gemacht oder verarbeitet werden. Selbst die Protagonisten des Staatsgeschehens sind von dieser Hysterie erfasst. Oder sie spielen sie vor, damit sie nicht bei der nächsten Gelegenheit gelyncht werden. Man könnte auch die Zeile aus der „Andrea Doria“ zitieren, dass der Nervenarzt auch nicht mehr weiß, wie es weiter geht. Oh, da brennt was! Ach ja! Ein Licht in der russischen Botschaft!

„Berliner Gerüchte“ von Kurt Tucholsky

Herr Meyer, Herr Meyer – und hörst du es nicht,
Das wilde, das grause, des dumpfe Gerücht:
Ein Licht!
Ein Licht in der russischen Botschaft!

Und da, wo ein Licht, da ist auch ein Mann,
und der sitzt an einem Vertrage dran,
beim Licht in der russischen Botschaft.

Und das Licht geht manchem Politiker auf;
es strömet das Volk, es rennet zuhauf
zum Licht in der russischen Botschaft.

Und einer zum andern geheimnisvoll spricht:
„Da ist was im Gange – ja, sehn Sie’s denn nicht,
das Licht in der russischen Botschaft?“

Es erbrausen die Linden! „Berennet die Tür!“
Ein Schutzmann hält seinen Bauch dafür
vor das Licht,
das Licht in der russischen Botschaft.

Sogar ein geheimer Studienrat
sagt die Information, die er bei sich hat,
vom Licht in der russischen Botschaft. –

Und drin spricht der Klempner im öden Saal:
„Du hör mal, Maxe, Du kannst mir mal
die Ölkanne ribajehm!“

Dann gehen die beiden geruhig nach Haus,
nach dem Stralauer Tor – und das Licht löscht aus,
das Licht in der russischen Botschaft.

COMMENTS

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    Horst Beger 2 Wochen

    Da die russische Botschaft in Berlin von 1914 -1918 geschlossen war, wurden die „Berliner Gerüchte“ damals wie heute von der „Wilhelmstraße“ aus verbreitet. Und damals wie heute besteht die Gefahr, dass in Berlin noch mehr Lichter ausgehen als in der russischen Botschaft.

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