Es war kein Terrorakt, aber es war Terror

Es war kein Terrorakt, aber es war Terror

Die Tragödie in Kertsch, wo der Student Vlad Roslyakov seine Mitschüler des Polytechnischen  Institutes von Kertsch erschossen hat, gab Anlass zu verschiedenen Interpretationen dessen, was passiert ist. Mehr als zwanzig Menschen starben. Mehr als fünfzig sind verletzt. Über das psychologische Trauma muss man gar nicht erst sprechen, das allen Studenten und Hochschullehrern zugefügt wurde. Alle erlebten einen echten Schock, der so schnell nicht vergehen wird. Vielleicht wird er nie vergehen. Weil Russland solche Geschichten nicht gewohnt ist. Die Russen wissen aus den Medien, dass solche Ereignisse in US-Bildungseinrichtungen ziemlich regelmäßig vorkommen. In Russland ist so etwas  nie passiert. Aber jetzt ist es so.

Die Strafverfolgungsbehörden, die dieses Verbrechen untersuchen, haben bereits erklärt, dass es sich nicht um einen Terroranschlag handelt. Es war nur ein einsamer achtzehnjähriger Junge, der legal Kleinwaffen und viel Munition für sich kaufte und selbst Sprengstoff herstellte. Dann brachte dieser Junge das alles ruhig ins College, zündete Explosionen, erschoss Schüler und Lehrer und schließlich sich selbst. Scheinbar ist alles klar, alles erkennbar. Aber in der Presse und im Internet flammten hitzige Debatten auf. Alle spekulieren über die wahren Ursachen. Ein Freund von Rosljakow sagte, dass Vlad Computerspiele liebte, in denen Schulen beschossen werden. Manche sprechen von unglücklicher Liebe. Andere suchen eine Verbindung mit Terroristen. Einige weisen auf einen Konflikt zwischen dem Schüler und den Lehrern nach einem Praktikum hin. Noch kurz vor dem Verbrechen hat Rosljakow aus irgendeinem Grund die Bibel verbrannt. Präsident Putin, schließlich, erklärte, die Globalisierung sei schuld.

Mir scheint aber, dass niemand den wahren Grund nennt. Im Jahr 2007 erklärte der damalige Bildungsminister Andrei Fursenko, dass „ein Fehler des sowjetischen Bildungssystems in dem Versuch bestand, den schöpferischen Menschen zu heranzubilden, aber nun die Aufgabe darin besteht, einen qualifizierten Verbraucher zu fördern, der in der Lage ist, die Ergebnisse der Kreativität anderer zu nutzen.“ Es war dieser Satz und diese Bildungspolitik, die in Russland ein ganzes Jahrzehnt andauerte und zu einem echten Terroranschlag wurde. Der aktuelle Killer war damals ungefähr sieben Jahre alt. Und er schaffte es, zu einem qualifizierten Verbraucher heranzuwachsen. Zu einem Verbraucher, der kein Geld hat, der aber auf den Konsum orientiert ist. Verbrauch mit allen Mitteln. Wenn es nicht klappt – kann man auch stehlen und töten.

Ich spreche jetzt nicht über den konkreten Vlad Roslyakov. Vielleicht hatte er wirklich seine Gründe zu töten, oder er war einfach verrückt geworden. Ich spreche von ganzen Generationen, die nicht erst seit 2007, sondern seit 1991 im Geist des Konsumismus erzogen wurden. Ich spreche über das Bologna-Bildungssystem, dem sich Russland voll anschloss, um all die guten Dinge zu zerstören, die in der sowjetischen Bildung existierten, als man tatsächlich versuchte eine umfassend entwickelte Person auszubilden. Ich verstehe, dass viele mir jetzt widersprechen und an die kommunistische Ideologie erinnern werden. Aber was hinderte daran die Ideologie abzuschaffen, die Bildung einer harmonisch entwickelten Persönlichkeit aber beizubehalten, einer Persönlichkeit, die fähig war, das von anderen Menschen Geschaffene nicht nur zu benutzen, sondern es auch selbst hervorzubringen?

Als Ergebnis haben wir bekommen, was wir bekommen haben. In den neunziger Jahren haben wir wilde kapitalistische Diebe und Leute bekommen, die in diesem Chaos mit allen Mitteln versucht haben, der Ideologie des Konsums zu entsprechen. Wenn sich die wirtschaftliche Situation des Landes plötzlich stark verschlechtern sollte, werden wir wieder auf die Verbrechen junger Verbraucher stoßen, die ohne Geld für „qualifizierten Konsum“ sind.

Dieser Junge kann möglicherweise andere Gründe gehabt haben.
Efim Bershin

Übersetzung: Kai Ehlers

Das russische Original hier >>>

COMMENTS