Eskalation als Ultima Ratio

[Kommentar von Dr. Gerhard Mersmann] Seien wir einmal ehrlich: mit den Auserwählten, das wird nichts mehr. Das auserwählte Volk wurde erst getrieben und hat dann das Antlitz der Treiber erworben. Die auserwählte Rasse hat die Peitsche geschwungen und sich dann, nachdem sie es hat besorgt bekommen, servil unter dem Teppich verkrochen. Und das Auserwählte Land hat die Dominanz und deren Last nicht einmal über drei Jahrzehnte zu tragen vermocht und ist dann mächtig ins Schlingern geraten. Eine Reflexion über das Attribut der Auserwähltheit hat diese Bilanz nicht zur Folge gehabt. Ganz im Gegenteil. In allen drei Regionen, in denen einst die Macht zu glänzen vermochte, herrscht exklusiv die Nostalgie der entfesselten Gewalt. Die Eskalation gilt nach wie vor als Ultima Ratio.

Was beeindruckt, ist, dass es im Binnenverhältnis der betroffenen Gesellschaften mittlerweile gehörige Risse gibt. Der jeweiligen Bevölkerung geht der Militarismus und das Dominanzgehabe gegen den Strich. Allerdings schon soweit, als dass die herrschenden Eliten mittlerweile dazu bereit sind, die Flucht nach vorne anzutreten und gewaltig an der Eskalationsspirale zu drehen. Die klassischen Mittel der Opposition in den besagten Ländern sind porös, so dass sich ein Widerstand in den gewohnten Formen nicht bemerkbar macht. Und vieles spricht dafür, dass eventuell neue Formen nicht mehr die Zeit haben, sich zu etablieren.

Der Rest der Welt, der sich in dem Gefühl der Missachtung durch das Ensemble der Auserwählten bestens auskennt, ist jedoch in einer nie da gewesenen Art gegen die Hybris eines enthemmten Israels, der ins Wanken geratenen USA oder auch eines kriegsbesoffenen Deutschlands/EU gewappnet: Finanziell, ökonomisch, in Bezug auf die verfügbaren Ressourcen, diplomatisch und auch militärisch. Glaube niemand,  die eigene Chuzpe wäre nie in der Lage, die asiatischen Giganten zu reizen. Und glaube niemand, es handele sich bei einer weiteren Eskalation um ein auf einem anderen Kontinent stattfindendes Telespiel.

Trump hat sich nicht dem militärisch-industriellen Komplex entgegenstellen können. Die israelische Demokratie hat es nicht vermocht, die Regierung eines Kriegsverbrechers zu verhindern und Deutschland übt sich in der tragischen Komödie. Soviel ist geblieben, von den Auserwählten. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg gegen den Iran wurde das Päckchen mit der letzten Notration, die noch etwas Zeit geliefert hätte, um sich in einer emanzipierten Welt neu zu sortieren, hirnlos über den Zaun geworfen. Jetzt gilt die Eskalation mehr denn je als Ultima Ratio.

Nicht, dass Diktaturen wie die im Iran zu beschönigen wären! Einmal abgesehen von den jeweiligen Vorgeschichten, die immer wieder dechiffrieren, dass es kaum eine militante Terrorgruppe in der Welt gibt, an deren Entstehung der westliche Imperialismus in der einen oder anderen Form nicht beteiligt war. Aber was ist mit dem Modell der Demokratie los, dass derartige Gestalten und Vorstellungen von Politik wie den momentan erlebten hervorruft? Der Anspruch auf Überlegenheit erscheint unter diesem Aspekt vor allem dem Blick von außen als böser Witz.

Vieles hätte gut getan. Tabula rasa im eigenen Haus. Und der Austausch von Perspektiven mit den gewaltig daher kommenden neuen Kräften auf dem Globus. Irgendwie passt das Bild, dass die Auserwählten allesamt lange Zeit im abgeranzten Wohnzimmer saßen und bei schwerem Likör von alten Zeiten schwärmten. Und klingeln einmal Boten aus der neuen Zeit an der Tür, dann lässt die Bagage die Bluthunde aus dem Keller und denkt, damit sei es getan.

COMMENTS

WORDPRESS: 2
  • comment-avatar
    Prof. (h.c.) Peter Kustermann 3 Wochen

    Was nun? Showdown der Auserwählten oder Krieg der Kriege?

    Dr. Gerhard Mersmanns Analyse zeichnet ein düsteres Bild: Die „Auserwählten“ haben ihre Rolle verspielt, und die Eskalation scheint zur einzigen verbleibenden Option geworden zu sein. Es ist eine schonungslose Bestandsaufnahme, die uns mit der beklemmenden Frage zurücklässt: Was kommt jetzt?

    Stehen wir am Vorabend eines ultimativen Showdowns, eines „Kriegs der Kriege“, der das Ende all dessen bedeuten könnte, was wir zu kennen glauben? Mersmann beschreibt treffend, wie die herrschenden Eliten die Flucht nach vorn antreten und die Eskalationsspirale gewaltig andrehen, während der Widerstand in den betroffenen Gesellschaften porös erscheint. Gleichzeitig warnt er davor, die Reaktion des restlichen Teils der Welt zu unterschätzen, der sich gegen die Hybris der einst „Auserwählten“ wappnet – finanziell, ökonomisch, diplomatisch und auch militärisch.

    Es scheint, als sei die Vernunft dem Größenwahn gewichen, und die letzten Brücken zu einer Neuordnung sind mutwillig eingerissen worden. Wenn die „Auserwählten“ in ihrem „abgeranzten Wohnzimmer“ sitzen bleiben und ihre „Bluthunde“ auf die Boten der neuen Zeit loslassen, wie Mersmann es formuliert, ist dann eine friedliche Lösung überhaupt noch denkbar?

    Angesichts dieser beunruhigenden Aussichten stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, jenseits der üblichen politischen und militärischen Strategien nach Antworten zu suchen. Sollten wir nicht einen anderen „Auserwählten“ um Rat fragen, jemanden wie den Dalai Lama, dessen Botschaft der Gewaltlosigkeit, des Mitgefühls und des interkulturellen Verständnisses vielleicht die einzige Hoffnung ist, die uns in dieser globalen Krise noch bleibt?

    Was denken Sie – ist ein Umdenken noch möglich, oder steuern wir unwiderruflich auf den von Dr. Mersmann angedeuteten Abgrund zu?

    • comment-avatar
      Horst Beger 3 Wochen

      Außer dem genannten „Auserwählten“ Dalai Lama ließen sich auch noch andere Friedensprediger nennen, auch aus dem Diskussionsforum „Russlandkontrovers“. Und auch, wenn man sich als „aufgeklärten“ Atheisten bezeichnet, ist es nicht ohne eine gewisse Tragik, dass ausgerechnet das „Auserwählt Volk“ seinen seit über zweitausend Jahren verheißenen Messias nicht erkannt und anerkannt hat, was zu den derzeitigen Ereignissen im Nahen Osten geführt hat. Und Rom ist nie ganz christlich geworden und bekämpft das östliche(russische) Christentum seit dessen Bestehen, wie der amerikanische Geostratege und Politologe Samuel Huntington das in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 aufgezeigt hat, ohne auf den substanziellen Unterschied einzugehen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass ausgerechnet ein Vertreter Roms, Papst Leo XIII. in einer Enzyklika von 1882 geschrieben hat: „Das russische (slawische) Volk sei durch göttlichen Ratschluss berufen, das Christentum
      in die Zukunft zu führen, und erklärt hat, dies dürfe aber nicht ohne die katholische Kirche geschehen.“

  • DISQUS: