EU-Ukraine: Reisen ohne Kompass

Ein Kommentar von Dr. Gerhard Mersmann zu den USA-Russland Verhandlungen in Riad

Transscript:

Angesichts der beginnenden Sondierungen zwischen den USA und Russland im saudi-arabischen Riad sind mehrere Ebenen zu betrachten. Zunächst, und darum ging es von Anfang an, ist zu berücksichtigen, welche Interessen die beiden am Verhandlungstisch Sitzenden ihrerseits im Blick haben. Auf russischer Seite, dass ist einfach wie offensichtlich, steht der Wunsch, ukrainisches Territorium nicht als Aufmarschgebiet der NATO zu sehen und die militärischen Erfolge territorial festzuschreiben. Die amerikanische Seite hat kein Interesse mehr, Russland in einen lokalen Zermürbungskrieg zu ziehen und möchte, aufgrund geostrategischer Überlegungen, die Beziehungen zu Russland normalisieren, zuverlässig  strategische Rohstoffe erhalten und die Distanz zwischen Russland und China vergrößern. Mit Altruismus hat das auf keiner Seite zu tun. Es handelt sich um Interessen, die in bestimmten historischen Phasen kongruent sein können. Ob daraus etwas wird, wird sich zeigen. Zu hoffen, vor allem im Interesse der gebeutelten Ukraine, ist es.

Die in EU wie NATO vereinten Länder, die momentan über ihre Nichtbeachtung sowohl der USA als auch Russlands schockiert sind, haben bereits begonnen, mit einer Fortsetzung der Kriegslogik über einen möglichen Frieden zu phantasieren. Es wird darüber sinniert, ob man die USA nicht erweichen könne, wenn man mehr Waffen an die Ukraine lieferte und die Entsendung von Truppen zur „Friedenssicherung“ anböte. Damit dokumentieren sie, dass das weder im Interesse Russlands sein kann, noch den Ansichten der neuen US-Administration entspricht.

Was sich nun bitter rächt, ist die jahrelange Verunglimpfung des Versuchs, die Perspektive Russlands zu verstehen und die einseitige Parteinahme für die amerikanischen Demokraten. Biden, der in seinem Personal-Portfolio aufgeladene Revisionisten wie Blinken – die Familie stammt aus Kiew – und Nuland – deren Wurzeln in Bessarabien/Moldawien liegen – hatte und sie damit beauftragt hatte,  den Konflikt mit Russland zu inszenieren, ist Geschichte. Und dass die EU sich hatte dazu verleiten lassen, die Frage der ukrainischen EU-Mitgliedschaft an die NATO zu binden, hat sich zudem durch die eigene strategische Fehleinschätzung für immer aus dem Spiel genommen.

Es ist nicht so, dass nicht häufig genug auf den Irrweg hingewiesen worden wäre. Aber alle Stimmen, die dazu rieten, die Finger von einer militärischen Einbindung der Ukraine in die NATO zu lassen, sich auf die eigenen Interessen zu besinnen und sich nicht nur für eine Partei in den USA zu entscheiden, wurden von der gesamten politischen Elite genauso verunglimpft wie von einer im Dunkeln der Weltgeschichte tappenden Qualitätspresse. Perspektivenwechsel, um das Spiel der Kräfte zu verstehen, galt und gilt im milden Fall als anti-demokratische Attitüde und in gesteigerter Form als agentenhaftes Treiben im Auftrag des Feindes. Wer so unterwegs ist, hat keinen Kompass mehr. Die Reaktionen auf die aktuellen Geschehnisse belegen genau das. Es herrscht großes Entsetzen, ohne auf die Idee zu kommen, dass das eigene Handeln mit der Entwicklung zu tun hat. Und wer immer noch an dieser These zweifelt, sehe sich die Begründung der amerikanischen Administration an, warum es keinen Sinn macht, die „Europäer“ an den Gesprächen mit Russland zu beteiligen.

In Westeuropa sollte sich derzeit jedoch niemand zurücklehnen und den Lauf der Dinge unbeteiligt beobachten. Die bellizistische Waffenlobby, die ihre Trabanten in den Reihen der so genannten demokratischen Mitte gut platziert hat, fürchtet wie ihre Trabanten den Frieden, weil er einhergehen wird mit ihrer Bedeutungslosigkeit. Letzteren ist alles zuzutrauen, nur kein rationales Handeln.

COMMENTS

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    Horst Beger 8 Monaten

    Für die sog. „politischen Eliten“ sind die Aktienkurse der Rüstungsindustrie der „Kompass“, nicht die Leiden der Ukrainer/innen oder „unsere Sicherheit“. Und wenn sich der Wind dreht, haben diese längst umgesteuert.

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