[von Leo Ensel]„Wir investieren in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands“, verkündete Kanzler Merz nach dem Brüsseler NATO-Gipfel. Realisiert wird dies auf eine Weise, die genau dieses Fundament de facto nachhaltig untergräbt. Da kommt man auch als lammfrommer Staatsbürger ins Grübeln.
Im zarten Alter von mittlerweile 71 Jahren ist es endlich an der Zeit für ein öffentliches „Coming out“: Ich war nie ein strammer Linker!
Ein ‚verkrampfter Sponti‘…
An den Sozialismus habe ich nicht geglaubt – wenn auch Gerechtigkeitsforderungen allgemeiner Art mit Sympathie begleitet – und an den Kommunismus schon gar nicht. Was mir damals ‚drüben‘, auf der anderen Seite von Mauer und Stacheldraht als „Sozialismus“ verkauft wurde, fand ich, auch wenn dies ja nur der „reale“ und nicht etwa der „wirkliche“ Sozialismus sein sollte, nicht besonders attraktiv. Der rechthaberische Gestus der oberschlauen 68er – der ‚älteren Brüder‘, die ich persönlich nicht hatte – schüchterte mich, als es losging, schwer ein. Die blickten durch, taten jedenfalls so, und hatten Bibliotheken von Büchern verschlungen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Den Avantgardeanspruch dieser wilden Gestalten habe ich aber aus der Ferne durchaus irgendwie anerkannt.
DKP und K-Gruppensekten stießen mich ab. „Autonome“ in ihren schwarzen Lederklamotten erst recht. Die RAF sowieso. Mit anarchistischen Ideen und der „herrschaftsfreien Gesellschaft“ konnte ich ebenfalls nicht viel anfangen. Imposante Parolen wie „Keine Macht für Niemand!“ waren mir suspekt. (Auch „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar“ überzeugte mich, obwohl es sich reimte, nicht allzu sehr.) Alles zu militant, zu nebulös, zu utopisch. Und mit dem Gendern hab ich‘s auch nicht. Auf einigen Anti-AKW-Demos Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre bin ich, eher aus Pflichtgefühl, mitgelatscht. Am ehesten empfand ich noch Sympathie für die Spontis, vor allem wegen ihrer frechen Sprüche, vieles war mir aber auch dort zu chaotisch, einige ihrer Vertreter – Stichwort „Frankfurter Putzgruppe“ – auch zu gewaltverliebt. (Ich habe mich damals, wohl nicht ganz unzutreffend, mal einen ‚verkrampften Sponti‘ genannt.) In Fundamentalopposition zum „System“ konnte ich mich nie verorten. Das Grundgesetz war (und ist nach wie vor) für mich eigentlich eine ganz gute Verfassung. Jedenfalls auf dem Papier.
Kurz: Ich war (und bin) ein harmloses Lämmerschwänzchen, ein Kleinbürger. Vielleicht ja sogar ein Spießer, denn im Allertiefsten will ich einfach nur meine Ruhe…
Als solcher lese ich mir nun den Tweet durch, den Kanzler Merz Ende Juni vom Brüsseler NATO-Gipfel abgesondert hat: „Heute ist ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der NATO: Wir investieren in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands.“
Und stelle ein paar Kinderfragen.
„Unsere Freiheit und Sicherheit“
- Wie mag es um die Souveränität – und damit um die Freiheit – unseres Landes bestellt sein, wenn eine externe atomare Supermacht hier Massenvernichtungsmittel lagern kann, über deren Einsatz ausschließlich sie selbst bestimmt, im Ernstfall aber – „nukleare Teilhabe“ – unsere Soldaten auch noch dazu zwingen wird, Komplizen von Massenmorden zu werden? Wenn diese befreundete Supermacht, ihr Risiko delegierend, unser Land somit als Blitzableiter benutzt, sprich: zur Zielscheibe atomarer Vergeltungsschläge der gegnerischen Supermacht verwandelt?
- Wie mag es um unsere Sicherheit bestellt sein, wenn dieser „Große Bruder“ so mir nichts dir nichts und ohne uns zu fragen, hier Cruise Missiles und hyperschallrasante Mittelstreckenraketen stationieren, uns zur Zielscheibe von atomaren Präventivschlägen verwandeln und damit über 83 Millionen Menschen, uns alle, in Geiselhaft nehmen kann? Und – nochmals das Thema Souveränität – sich das unbegreiflicherweise nur mit unserem Lande herauszunehmen wagt?
- Wie mag es um unsere Demokratie bestellt sein, wenn ein Bundeskanzler solch hasardeurhafte Verschlechterungen unserer gesamten Sicherheitslage im Alleingang, ohne öffentliche Diskussion und ohne Abstimmung im Parlament, sprich: über unser aller Köpfe hinweg, einfach mal locker vom Ausland aus dekretieren konnte? (Auch noch mit der Chuzpe, uns das fröhlich als „Erhöhung der Sicherheit im besten Sinne“ zu verkaufen?)
- Wie mag es um unsere Regierungen – insbesondere um Bundeskanzler, Außenminister/in und den Minister für Kriegstüchtigkeit – bestellt sein, deren Mitglieder allesamt einen Amtseid (Grundgesetz, Artikel 56 und 64) abgelegt haben, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“ und dennoch dies alles brav abnickten bzw. als Nachfolgeregierung niemals in Frage stellen? Und was sind in diesem Zusammenhang der schöne Grundgesetzartikel Artikel 26 (Verbot eines Angriffskrieges) und der ebenfalls offiziell gültige Paragraph 13 des Völkerstrafgesetzbuches (Friedensverrat) wert?
- Wie mag es um unsere – teils in privater Hand befindliche, teils via Zwangsbeiträge von der Gesellschaft (also uns allen) finanzierte – Medienlandschaft bestellt sein, die in ihrer überwältigenden Mehrheit all diese Maßnahmen nicht etwa kritisch hinterfragt, sondern auch noch beklatscht? – Und schließlich:
- Wie mag es um eine Bevölkerung bestellt sein, die zu großen Teilen den öffentlich-rechtlichen Medien gar nicht mehr vertraut, das alles aber, möglicherweise tief beunruhigt, auf der Handlungsebene schicksalsergeben hinnimmt? Anders formuliert: Warum lassen wir uns das eigentlich alles widerstandslos gefallen? Warum lassen wir angeblich „mündigen Bürger“ uns – ohne die Risiken und Konsequenzen zuende zu denken – jeden Tag immer ein bisschen mehr brav in Richtung „Kriegführungsfähigkeit“ trimmen? Obwohl doch nichts weniger als unser aller Überleben und das unserer Kinder und Kindeskinder auf dem Spiel steht.
Deklinieren wir es nochmal an anderen Themen durch:
- Wie mag es um unsere Demokratie bestellt sein, wenn ein soeben abgewählter Bundestag nochmal für eine Sondersitzung zusammengetrommelt werden kann, um auf den allerletzten Drücker schnell noch tiefgreifende Verfassungsänderungen zur Staatsverschuldung, inclusive eines nahezu billionenschweren ‚Ermächtigungsgesetzes in Sachen Aufrüstung‘ („whatever it takes“) durchzupeitschen? Was bedeutet es für unser Gemeinwesen, wenn Tricksereien solcherart für Entscheidungen dieser Tragweite vielleicht gerade noch legal realisiert, aber ganz bestimmt nicht mehr als legitim empfunden werden?
- Wie mag es um unsere Demokratie bestellt sein, wenn der die Richtlinien der Politik bestimmende Bundeskanzler sich nach wie vor die Option offen hält, einem Land, das bereits mehr als einmal die strategische Zweitschlagsfähigkeit einer Atommacht – und damit nichts weniger als die globale Sicherheitsstruktur – attackierte, ultragefährliche Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, die genau dies ein weiteres Mal (und viel effektiver) ermöglichen würden? Der damit, wie unser „Großer Bruder“, unser Land ebenfalls zur Zielscheibe (möglicherweise nuklearer) Vergeltungsschläge macht? Und, dies vornehm als „strategische Ambiguität“ bezeichnend, uns alle darüber bis zum Sch(l)uss im Unklaren lässt, ob er diese Option nun realisiert oder nicht?
- Wie mag es um unsere Demokratie bestellt sein, wenn all diese dramatischen Entscheidungen nicht nur über unsere Köpfe hinweg, sondern auch noch ohne konkrete Bedrohungsanalyse realisiert werden?
- Wie mag es um unsere Demokratie bestellt sein, wenn es im Bundestag keine konsequente Opposition gegen diese wahnwitzige Entwicklung mehr gibt, weil die einzige Partei, die sich das auf die Fahnen geschrieben hatte, aus bislang immer noch nicht aufgeklärten Gründen wegen ein paar Tausend fehlender Stimmen den Einzug ins Parlament urplötzlich verpasste?
- Kurz: Wie mag es um unsere Freiheit, Sicherheit, Souveränität und Demokratie bestellt sein, wenn unsere gewählten Volksvertreter plus „Großer Bruder“ uns systematisch in die allergrößte Unsicherheit hineinführen? Wenn immer mehr zentrale Lebensbereiche de facto einer demokratischen Kontrolle entzogen werden?
- Und wie mag es um unsere humanistischen Werte bestellt sein, wenn nun bereits die Kleinsten für das Töten und Sterben geködert werden, wenn in Öffentlich-Rechtlichen Medien offen dafür geworben wird, eben dies schon in der Schule einzuüben und Eltern wegen mangelnder „Opferbereitschaft“ angeprangert werden, weil sie unwillig seien, ihre Kinder (heute auch Töchter) „als Soldaten zu sehen“, die – nein, nicht mehr fürs „Vaterland“, sondern – „für das Gemeinwesen eventuell geopfert werden“? Was bleibt eigentlich noch von unseren humanistischen Werten, wenn die so geforderte „kulturelle Umprogrammierung“ umgesetzt ist?
„Unser Wohlstand“
- Und wie mag es künftig um unseren Wohlstand bestellt sein, wenn unsere Regierung zusammen mit der Europäischen Kommission billionenschwere Schulden, ääh: Sondervermögen, zur Finanzierung irrwitziger Rüstungsprogramme aufnimmt, wenn bald fast die Hälfte des Bundesetats direkt oder indirekt in die Rüstung gesteckt und damit Inflation, ‚Zinsknechtschaft‘ kommender Generationen und der Zusammenbruch unserer Sozialsysteme fahrlässig in Kauf genommen wird?
- Wie mag es um unseren Wohlstand bestellt sein, wenn unsere Politiker in fideler Suizidalität freiwillig eine Energiepartnerschaft aufkündigen, die jahrzehntelang die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft zuverlässig garantierte?
- Wie mag es um unseren Wohlstand (plus Souveränität und Demokratie) bestellt sein, wenn dunkle externe Akteure die zentrale Energieversorgung unseres Landes in die Luft sprengen können und, statt ihn aufzuklären, dieser Terrorakt von Politikern und Leitmedien auch noch frenetisch akklamiert wird?
Mit einem Wort: Was wird aus unserem Land, wenn „in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands“ auf eine Weise investiert wird, die genau dies alles systematisch und nachhaltig zerstört?
Was bleibt?
Und wie ist es hier um meine höchstpersönliche Meinungsfreiheit als Publizist bestellt, wenn ich niemals in den Leitmedien, sondern ausschließlich an den ‚Rändern‘ veröffentlichen kann, nur weil ich das Friedensgebot unserer Verfassung beim Wort nehme und die offizielle, nahezu flächendeckend verbreitete Erzählung vom Ukrainekrieg, dessen Vorgeschichte und den möglichen Konsequenzen nicht teile?
Womit werde ich zu rechnen haben, wenn dieses Land sich immer weiter in Richtung „Kriegsführungsfähigkeit“ entwickelt, die Konfrontation mit Russland sich dramatisch zuspitzt und jede abweichende Meinung unter Generalverdacht gestellt wird? Attacke von regierungsfinanzierten sogenannten „Faktencheckern“ wegen „Verbreitung des Kremlnarrativs“, „prorussischer Propaganda“ oder gar „Delegitimierung des Staates“ – und sei es des ukrainischen? Wundersame plötzliche Kündigung des Girokontos durch meine Hausbank? Einfrieren all meiner Vermögenswerte? Einreise- und Transitverbot in bzw. durch die anderen EU-Staaten? Und das alles am Ende auch noch am Rechtsweg vorbei im Rahmen des x-ten EU-Sanktionspakets?
Kurz: Was bleibt da noch von unseren hohen Werten à la „Freiheit, Sicherheit und Wohlstand“? Was lohnt es sich davon überhaupt noch, um den Preis einer für zehntausende Jahre radioaktiv verseuchten Wüste zu ‚verteidigen‘?
Ich frag ja nur.
Erstveröffentlichung bei globalbridge.ch
COMMENTS
Deutschlands Handlungsspielraum im internationalen Machtgefüge
Die Frage, ob Deutschland im aktuellen internationalen Machtgefüge überhaupt eine Wahl hat, ist komplex und wird von verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Leo Ensels Kritik legt nahe, dass Deutschland seine Souveränität und seine Werte aufgibt, indem es sich den vermeintlichen Notwendigkeiten der NATO und der Aufrüstung bedingungslos unterordnet.
Man könnte argumentieren, dass Deutschlands Position als mittelgroße Wirtschaftsmacht ohne eigene Atomwaffen es anfällig für den Druck größerer Akteure wie den USA macht. In einer Welt, die zunehmend von Großmächten und regionalen Konflikten geprägt ist, könnte die Anpassung an bestehende Bündnisse und deren militärische Logik als pragmatische Notwendigkeit gesehen werden, um nicht isoliert zu werden und einen gewissen Schutz zu genießen. Das Argument hier wäre, dass eine Abweichung vom Kurs der NATO Deutschland potenziell verwundbar machen und seine sicherheitspolitischen Interessen gefährden könnte. Die „nukleare Teilhabe“ wird dann als eine Form der Abschreckung interpretiert, die Deutschland, ohne selbst Atommacht zu sein, einen gewissen Einfluss auf die nukleare Strategie des Bündnisses gibt.
Andererseits könnte Ensels Argumentation dahingehend interpretiert werden, dass Deutschland sehr wohl eine Wahl hat, diese aber nicht wahrnimmt. Die wirtschaftliche Stärke und die historische Verantwortung könnten Deutschland eine stärkere Verhandlungsposition im internationalen Konzert der Mächte verleihen. Eine selbstbewusstere und friedensorientiertere Außenpolitik, die sich auf Diplomatie, Konfliktprävention und zivile Lösungen konzentriert, anstatt auf militärische Aufrüstung, könnte eine Alternative darstellen. Die Frage ist hier, ob Deutschland mutig genug ist, von etablierten Pfaden abzuweichen und eine Führungsrolle bei der Gestaltung einer weniger militarisierten Welt einzunehmen, selbst wenn dies Widerstand von Verbündeten hervorrufen sollte. Dies würde jedoch bedeuten, die kurzfristigen „Sicherheits“-Vorteile eines militärischen Bündnisses gegen die langfristigen Kosten einer potenziellen Konfrontation und den Verlust eigener Werte abzuwägen.
Letztlich läuft die Debatte auf die Frage hinaus, ob Deutschland ein Spielball externer Kräfte ist oder ob es die Möglichkeit und die Verantwortung hat, seinen eigenen Weg zu finden, der seinen Werten und Interessen am besten dient.
Der Autor fragt zu Recht, seit wann das Militärbündnis der NATO Freiheit, Sicherheit und Wohlstand seiner Mitglieder verteidigt, wenn nachgewiesenermaßen das Gegenteil erreicht wird. Das waren und sind aber auch nie die Ziele der NATO, wie sie der erste NATO-Generalsekretär Lord Ismay formuliert hat: „Die Amerikaner in Europa zu halten, die Russen draußen zu halten, und die Deutschen klein zu halten“. Das galt für die Amerikaner – wie man sieht – nur solange dies in deren Interesse war. Der Kalte Krieg gegen die Russen hatte bereits vor der Gründung der NATO begonnen. Und der polnischstämmige ehemalige amerikanische Sicherheitsberater und Brieffreund von Papst Woijtyla, Zbigniew Brzezinski hatte schon 1997 gefordert, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, „weil Russland dadurch kein Eurasisches Land mehr wäre“. Wie „groß“ die Deutschen geworden sind, hat man an der Abfertigung von Bundeskanzler Merz durch Donald Trump gesehen, der Deutschland allenfalls als Zahlmeister akzeptiert. Die Versprechungen von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand des katholischen Bundeskanzlers Merz sind daher eine glatte Lüge. „Das ist katholisches Prinzip“, wie der Journalist Edo Reents von der Süddeutschen Zeitung das in anderem Zusammenhang (der Aktenvernichtung im Kanzleramt nach der Abwahl von Helmut Kohl) geschrieben hat – heute dürfte und könnte er das so offen nicht mehr schreiben.
Mit der jüngsten Erklärung von Bundeskanzler Merz zum Ukraine-Konflikt: „Die Zeit der Diplomatie sei beendet“, bestätigt er seine Lügenhaftigkeit. Denn ernsthafte diplomatische Bemühungen, die Entstehung des Konfliktes zu verhindern oder diesen friedlich zu lösen haben nie stattgefunden.