[von Alexander Rahr] Die Eskalation im Ukraine-Krieg ist unverkennbar. Die zerstörerischen Drohnen-Attacken gegen russische Militärstützpunkte und der russische Vormarsch auf Sumy und Charkiv markieren neue Höhepunkte im Konflikt. Die Ziele sind klar: Russland versucht die ukrainische Verteidigung zu zermürben und Kiew zur Kapitulation zu zwingen. Die Ukraine wiederum glaubt, mit Hilfe deutscher und westlicher Waffen, sowie dem Seitenwechsel Trumps von Moskau nach Brüssel, auf dem Schlachtfeld siegen zu können.
Die Hoffnungen der Europäer liegen auf Friedrich Merz, der sich sicher ist, Donald Trump von Russland weg auf die Seite Europas zu ziehen. Emanuel Macron hat gleichzeitig in Singapur die Aufgabe übernommen, die asiatischen Tigerstaaten von Russland in gleicher Weise weg auf EU-Seite zu ziehen.
Ein Wort in eigener Sache. Meine Wenigkeit galt früher in breiten Kreisen als Russland-Experte und ich war in den 2000er Jahren ein wichtiger Vermittler zwischen Deutschland und Russland. In den letzten Jahren habe ich mich zunehmend kritisch zum westlichen Russlandkurs geäußert und sprach mich für die Fortsetzung der Verständigung oder einen „realistischen Ausgleich“ mit Russland aus. Kritiker warfen mir allerdings ständig vor, Putins Narrativ zu übernehmen oder russische Interessen zu relativieren.
Dabei vertrat ich eine Realpolitik vs. moralischer Widerstand. Das war eine klassisch realpolitische Linie: Interessen, Machtverhältnisse, geopolitische Gleichgewichte – nicht pseudomoralische Prinzipien. Natürlich stand das im Gegensatz zu vielen westlichen Stimmen, die Russland noch vor Beginn des Ukraine-Konfliktes 2014 als klaren Aggressor sahen, der nicht belohnt werden dürfe.
In Teilen der deutschen Medienlandschaft (vor allem öffentlich-rechtlich und liberal) gelten Abweichungen von der vorherrschenden Ukraine-Position schnell als „Putin-Versteherei“ oder „Relativierung von Kriegsverbrechen“.
Deshalb wurde ich oft nicht als Diskursteilnehmer, sondern als Propagandist behandelt – was man problematisch finden sollte, wenn man an Meinungspluralismus glaubt.
Warum durfte ich keine nichtmoralische, machtorientierte Perspektive bieten, die in der Tradition von Realisten wie Kissinger oder Mearsheimer stand? Meine Sichtweise war nicht falsch, aber sie barg das Risiko, Unrecht als Normalität zu akzeptieren – mit fatalen Folgen für das Völkerrecht. Nur: hatte nicht der Westen zuvor im ehemaligen Jugoslawien das Völkerrecht auch missachtet?
In Krisenzeiten ist es notwendig, auch unpopuläre Stimmen zu hören, um alle Optionen zu verstehen – vor allem wenn sich ein Patt oder ein Abnutzungsszenario abzeichnet oder wenn es ein Risiko eines Atomkrieges gibt. Ich werde kritisiert, weil ich eine unbequeme, kompromissorientierte Sichtweise auf Russland vertrete, die nicht mit der vorherrschenden moralisch geprägten Ukrainepolitik des Westens übereinstimmt. Aber: meine Fragen und Analysen sind keineswegs dumm oder verwerflich – sie fordern nur dazu auf, Realität nüchtern zu betrachten, auch wenn sie unangenehm ist.
Denn Russland, das beginnt man im Westen zu verstehen, verzeichnet im Krieg größere Geländegewinne, macht Druck auf Charkiw und Sumy, gleichzeitig scheitern die Friedensverhandlungen und wir sehen eine wachsende Erschöpfung der westlichen Waffenhilfe. Es tritt ein Kippphänomen in einem langen Abnutzungskrieg ein. Welche Optionen gibt es?
Zunächst zur nüchternen Lageanalyse. Russland hat nach langer Abnutzung und Mobilmachung wieder die Initiative an der Front gewonnen. Die Ukraine leidet unter Material- und Personalmangel, insbesondere bei Luftabwehr und Artillerie. Die USA verlieren gleichzeitig innenpolitisch das Interesse an europäischer Geopolitik (Isolationismus) und ziehen sich aus diplomatischen Initiativen zurück. Und schließlich ist Europa erschöpft, wirtschaftlich unter Druck, militärisch weitgehend entwaffnet. Sanktionen wirken nicht mehr wie anfangs, da Russland über China, Türkei, Indien seine Wirtschaft teilweise stabilisiert hat.
Das bedeutet, dass die Ukraine zunehmend strategisch und logistisch ins Hintertreffen gerät, während der Westen keine glaubwürdige Eskalationsstufe mehr hat, die nicht katastrophale Nebenwirkungen hätte.
Also, zurück zu den Optionen:
Die Ukraine hält Linien mit dem Nötigsten, unter weiterem Risiko von Verlusten. Russland soll durch langfristige Kosten zum Stillstand gebracht werden. Doch Russland gewinnt weiter Gelände, die ukrainische Bevölkerung leidet, die internationale Unterstützung bleibt begrenzt. Eine Option wäre jetzt ein ukrainischer Gebietsverzicht zugunsten eines Waffenstillstands (Donezk, Luhansk, vielleicht Saporischschja). Menschenleben werden so kurzfristig gerettet. Der wirtschaftliche Wiederaufbau könnte beginnen. Die Militärische Front könnte sich stabilisieren in Form der Waffenruhe.
Westliche Experten warnen dabei vor einem Präzedenzfall für internationale Gewaltpolitik. Die ukrainische Bevölkerung wird sich verraten fühlen. Diese Gebietsverzicht-Option wäre nur mit massivem westlichem Druck auf Selenskyj und einem Stopp aller Waffenlieferungen an Kiew zu erreichen.
Eine andere Option lautet: Europa geht aufs Ganze: NATO-Truppen in der Ukraine, globale Sanktionen gegen Russland-Helfer wie China, Indien, Türkei. Könnte der Westen so Russland militärisch und wirtschaftlich einkreisen? Nein, die Folgen wären eine globale Weltwirtschaftskrise und ein Zusammenbruch globaler Lieferketten. Ein Krieg mit China wird dann wahrscheinlicher, sowie die atomaren Drohungen seitens Russlands realer. Ist diese Option realistisch? Sehr unwahrscheinlich – politisch kaum durchsetzbar.
Also was wird passieren? Vermutlich kommt kein offizieller Friedensvertrag zustande, aber ein Waffenstillstand, mit festgelegten Frontlinien, gegenseitiger Anerkennung de facto. Es gibt keine Kapitulation, keine offizielle Gebietsanerkennung, der Status quo wäre eingefroren. Das Risiko: die Gefahr eines erneuten Kriegs und eine instabile Ordnung. Aber besser als Krieg. Realistisch? Ja – das war schon 2022 in Istanbul im Gespräch.
Der Westen muss letztlich eine harte, moralisch-politische Entscheidung für sich treffen. Er muss einen „ungerechten“ Krieg akzeptieren, um Schlimmeres zu verhindern – oder Prinzipien wahren und hohe Verluste riskieren. Der Westen könnte auf einen “Waffenstillstand ohne Anerkennung russischer Gebietsgewinne” drängen. Die Ukraine würde de facto Gebiete verlieren, aber nicht offiziell aufgeben. Ein solcher Deal könnte hinter den Kulissen schon vorbereitet werden – unter dem Namen “Frieden”.
Ein vollständiger militärischer Sieg der Ukraine ist unter derzeitigen Bedingungen unrealistisch, ein Abbruch der westlichen Unterstützung würde aber die gesamte europäische Sicherheitsordnung zerstören. Daher würde der Krieg eingefroren werden, Russland de facto Teile der Ostukraine erhalten, der Westen könnte langfristig auf eine Wiederherstellung der Grenzen setzten – aber nicht sofort. Dringliche Rohstofflieferungen aus China und Russland nach Westen würden helfen, Wirtschaftskrisen in Europa zu lindern. Es geht letztendlich im Konflikt nicht ausschließlich um die Ukraine, auch wenn der moralisch versierte Westen das anders sieht. Es geht um die Verhinderung des Dritten Weltkrieges.
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PS: Und was „die Hoffnungen der Europäer auf Friedrich Merz“ betrifft, so ist bei dessen offiziellem Gespräch
mit Donald Trump in Bezug auf den Ukraine-Krieg kein Seitenwechsel zu erkennen. Das heißt, Friedrich Merz
und die Europäer setzen weiterhin auf Krieg statt auf Frieden.
Solange die Wähler/innen das akzeptieren und finanzieren wird sich daran nichts ändern. Zumal dies für die Abgeordneten im Europa-Parlament wie die katholische Frau Strack-Zimmermann, die als Lobbyistin der Rüstungsindustrie gilt, ein gutes Geschäft ist, und die Präsidentin Frau von der Leyen dafür auch noch mit dem katholisch geprägten „Karlspreis“ honoriert wird.
Als erfahrener „Russland-Experte“ könnte der Autor wissen, dass es Russland im Ukraine-Krieg nicht nur um die Verteidigung seiner geostrategischen Interessen gegen die Einbeziehung der Ukraine in die NATO geht, sondern auch „um die Verteidigung der christlichen Russischen Welt gegen die antichristliche Welt des Westens“, selbst wenn er das als aufgeklärter Atheist nicht verstehen sollte. Ansonsten ist seine Prognose, dass der Ukraine-Krieg wahrscheinlich eingefroren wird durchaus realistisch.