Krieg oder nicht Krieg, das ist hier die Frage

Krieg oder nicht Krieg, das ist hier die Frage

[von Michael Schütz] «Das ist alles schön und gut. Aber ob mit oder ohne Stimmrecht, das Volk kann immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen werden, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.»

Das sagte….. NS-Reichsmarschall Hermann Göring als Angeklagter des Nürnberger Strafgerichtshofes in einem Gespräch mit dem Gefängnispsychologen Gustave Gilbert. Es ging um die Frage, wie man ein Volk dazu bringt, „freiwillig“ in den Krieg zu ziehen.

Dieses Zitat war lange Zeit nur „Eingeweihten“ ein Begriff, Gilbert hatte die Erinnerungen an seine Arbeit mit den Nazi-Kriegsverbrechern 1947 veröffentlicht. Görings Erkenntnis bekam allerdings in jüngerer Vergangenheit wieder Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem einige Medien aus der offiziellen Öffentlichkeit sich 2023 dazu genötigt sahen, zu einem Faktencheck auszurücken, bei dem sie eben dieses Zitat wiedergeben mussten. Damit gab man unfreiwillig einen Einblick in die dampfende Propagandaküche.

Wenn man jetzt den deutschsprachigen Zeitgenossen fragen würde, ob ihm diese Beeinflussungstechnik nicht irgendwie aus eigener Anschauung bekannt vorkomme, würde er wahrscheinlich nach kurzer Überlegung mit einem langgezogenen JA antworten.

Wir können in der Tat die von Göring beschriebene „Überzeugungstechnik“ in den aktuellen Debatten bei entsprechender Thematik ( nicht nur im Kriegsfall) wiedererkennen.

Es geht um Kollektivbildung: Es wird ein Feind definiert, der uns angeblich bedroht und der an unserem Unglück schuld sein soll. Daher müssen jetzt alle ge- und entschlossen dem Feind entgegentreten. So schon entsteht ein Kollektiv, indem man Denken und Verantwortung abgeben und sich an einer mystischen Führung durch das Kollektiv orientieren kann. Dabei wird argumentiert, dass das Kollektiv über den Bedürfnissen des Individuum steht – was im übrigen inhaltlich falsch ist.

Dabei ist es völlig unerheblich, welche politische Richtung und welche offizielle Staatsform man vertritt, es zählt ausschließlich der Wille zur Macht und der Anspruch auf Deutungshoheit der Wirklichkeit.

„Die Nachwelt wird es nicht fassen können, dass wir abermals in solchen dichten Finsternissen leben mussten, nachdem es schon einmal Licht geworden war.“

Gerade als der Autor begann, diese Zeilen niederzuschreiben lief ihm ein Zitat von Stefan Zweig vor die Feder, das aus dessen Darstellung der Auseinandersetzung zwischen dem diktatorischen Reformator Calvin und seinem liberalen Widersacher Sebastianus Castellio stammt. Von Castellio ist auch der zuvor wiedergegebene Satz aus dem Jahre 1562, der die verlorene Freiheit im calvinischen Genf auf den Punkt bringt.

Zweig schrieb seinen Text „Castellio gegen Calvin“ unter den Eindruck des sich an der Macht festsetzenden Nationalsozialismus und hatte dabei auch den Stalinismus mit im Blick.

Er versucht darin zu erkunden, wieso sich ein Einzelner zur totalen Herrschaft über das Volk aufschwingen kann, wieso das Volk dabei mitspielt und wieso es aber auch immer Leute gibt, die gegen eine solche Entwicklung Widerstand leisten.

Die Auseinandersetzung zwischen Castellio und Calvin ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Auch wenn sie Stefan Zweig wieder in die Gegenwart geholt hat, ist sie wohl den Meisten unbekannt geblieben, obwohl wir einiges daraus lernen könnten.

Zweig stößt in seiner Darstellung in der Einleitung auf das Phänomen der Polarität, mit dem sich der Autor hier an dieser Stelle schon einmal auseinandergesetzt hat. Zweig konstatiert, dass der Kampf zwischen den beiden Reformatoren eine Auseinandersetzung darstellt, die eine viel weitläufigere, überzeitliche Frage aufwirft und einen Kampf eröffnet, der unter anderen Namen und unter anderen Formen wiederholt neu ausgekämpft werden muss.

Es gehe dabei um die „immer wieder notwendige Abgrenzung zwischen Freiheit und Autorität, die keinem Volke, keiner Zeit und keinem denkenden Menschen erspart bleibt: denn Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität (sonst wird sie zum Chaos) und Autorität nicht ohne Freiheit (sonst wird sie zur Tyrannei).“

Folgend nun das angesprochene Zitat Zweigs aus Castellio gegen Calvin:

„Zweifellos lebt im Grunde der menschlichen Natur ein geheimnisvolles Verlangen nach Selbstauflösung in der Gemeinschaft, unaustilgbar bleibt unser Urwahn, es könne ein bestimmtes religiöses, nationales oder soziales System gefunden werden, das allgerecht für alle der Menschheit endgültig Friede und Ordnung schenke. Dostojewskis Großinquisitor hat es mit grausamer Dialektik bewiesen, dass die Mehrzahl der Menschen die eigene Freiheit eigentlich fürchtet, und tatsächlich sehnt sich aus Müdigkeit angesichts der erschöpfenden Vielfalt der Probleme, angesichts der Kompliziertheit und Verantwortlichkeit des Lebens die große Masse nach einer Mechanisierung der Welt durch eine endgültige, eine allgültige, eine definitive Ordnung, die ihr jedwede Denkarbeit abnimmt.

Diese messianische Sehnsucht nach einer Entproblematisierung des Daseins bildet das eigentliche Ferment, das allen sozialen und religiösen Propheten die Wege ebnet: immer braucht nur, wenn die Ideale einer Generation ihr Feuer, ihre Farben verloren haben, ein suggestiver Mann aufzustehen und peremptorisch zu erklären, er und nur er habe die neue Formel gefunden oder erfunden, und schon strömt das Vertrauen von Tausenden dem angeblichen Volkserlöser oder Welterlöser entgegen – immer erschafft eine neue Ideologie (und dies ist wohl ihr metaphysischer Sinn) zunächst einen neuen Idealismus auf Erden. Denn jeder, der Menschen einen neuen Wahn der Einheit und Reinheit schenkt, holt zunächst aus ihnen die heiligsten Kräfte heraus: ihren Opferwillen, ihre Begeisterung. Millionen sind wie in einer Bezauberung bereit, sich nehmen, befruchten, ja vergewaltigen zu lassen, und je mehr ein solcher Verkünder und Versprecher von ihnen fordert, desto mehr sind sie ihm verfallen. Was gestern noch ihre höchste Lust, ihre Freiheit gewesen, das werfen sie ihm zuliebe willig weg, um sich nur noch widerstandsloser führen zu lassen, und das alte taciteische »ruere in servitium« erfüllt sich aber und abermals, dass in einem feurigen Rausch der Solidarität die Völker sich freiwillig in Knechtschaft stürzen und die Geißel noch rühmen, mit der man sie schlägt.“

Zweig erwähnt hier einerseits, dass totalitäre Systeme aus der Krise des alten Systems entstehen und einem Wahn der Einheit und Reinheit folgen. Andererseits betont er, dass es nicht einfach Politik und Medien sind, die einer gutgläubigen Bevölkerung verrückte Dinge einreden, sondern, dass es sich um ein Bedürfnis der Masse handelt, verführt zu werden – nur keine Verantwortung übernehmen und bitte nicht selbstständig denken. Insofern kann man das Verhalten unserer politischen und  medialen Öffentlichkeit – wie Einschränkung der Meinungsfreiheit, Ausgrenzung Andersdenkender, der Aufbau von Feindbildern usw. – auch als Service am Publikum deuten, um diesem die Welt zu vereinfachen und Verunsicherung herauszunehmen.

Die Krise des alten Systems ist heutzutage nicht nur die Krise des Kapitalismus, über den uns während des Kalten Krieges gleichsam in einem Hochglanzprospekt die berauschendsten Versprechungen gemacht worden sind, die sich jetzt als hohle Phrase erweisen.

Auch unsere hier in Europa recht simpel gestrickte Vorstellung von der Welt, dass wir den Mittelpunkt dieser Welt darstellen und alle anderen sich nach uns zu richten haben, wird gerade zertrümmert. Stattdessen etabliert sich eine sog. multipolare Welt, unübersichtlich, verwirrend und chaotisch, die vielleicht irgendwann einmal zur Ordnung streben wird.

Dazu gesellt sich eine Krise des westlichen politischen Systems und und und.

Das ruft geradezu nach einer autoritären Sichtweise, die uns scheinbar wieder Halt geben kann – aber dabei wohlgemerkt unabhängig von der Zeit und seinen politischen oder religiösen Einstellungen ist, wie eben Zweig schreibt: ein Kampf der immer wieder ausgefochten werden muss, unter welcher Thematik auch immer.

Zweig hat erkannt, dass es sich um einen falschen Messianismus handelt, um eine Suche nach Erlösung, die aber in Wirklichkeit die spirituelle Verheißung ausblendet.

Ein Schlüssel zu dieser Art Messianismus findet sich in der Polarität als Grundkonstante unserer Existenz: Machtsysteme werden immer versuchen, Polarität aufzulösen.

Polarität ist dazu da, uns herauszufordern, ständig zu relativieren, zu hinterfragen und uns daraus auf einer reiferen Ebene neu zu schöpfen.

Daraus entsteht Entwicklung – alles fließt – und Macht, die tendenziell statisch ist, muss daher diesen Mechanismus zum Erliegen bringen.

Das etwas bedeutet „das Ende der Geschichte“, wie es eben von Francis Fukuyama erklärt wurde und er hat auch gleich dazu gefügt, dass dieses Ende eine durchaus traurige Angelegenheit sei.

Trotzdem haben die US-Eliten in den 90er Jahren den unipolaren Moment jener Zeit aufgegriffen und sich zu eigen gemacht.

Ein solches Handeln führt allerdings früher oder später in die Erstarrung.

Erstarrte Systeme verlieren an Widerstandskraft, ihr Immunsystem funktioniert nicht mehr richtig, was schließlich im Untergang des Systems endet.

An dieser Stelle befinden wir uns gerade im westlichen Europa, das in Zusammenhang mit dem Krieg in Zentraleuropa seine Erstarrung geradezu zelebriert.

Dagegen scheint es das historische Verdienst von US-Präsident Trump zu sein, was immer er sonst noch alles vorhat, dass er eben dieses unipolare Denken aufgebrochen hat, zur Polarität zurückkehren möchte und folgerichtig mit Russland wieder Verhandlungen aufnimmt.

Damit kommt unser immerwährende Kampf gegen Russland ins Blickfeld:

Die aktuelle, vielschichtige Krise der „alten Welt“ führt zu einer Überforderung der Gesellschaft, die mit einer Flucht in eine „Entproblematisierung“, wie es Zweig ausdrückt, einhergeht. Das bildet die Basis für einen Pseudo-Messias, bzw. einen Pseudo-Messianismus, der dieses Bedürfnis der Gesellschaft dadurch auffängt, indem er den Gegenpol zerstört oder gleich die ganze Polarität für null und nichtig erklärt.

Der Gegenpol des westlichen, katholischen, kapitalistischen und kolonialistischen Europa ist Russland und seine Zerstörung bleibt das schein-heilige Ziel der westeuropäischen Erlösungsphantasien. Allerdings bedeutet ein solches Ansinnen das Ende Europas, das schon allein auf der Ebene eintreten würde, wenn Russland aus Europa ausgeschlossen werden würde – von einem militärischen Konflikt ganz zu schweigen.

Das Ich wird erst durch das Du zum Ich. Das ist auch der Weg, den das westliche Europa gehen wird müssen, andernfalls wird es als Europa untergehen. Oder anders gesagt, diese ganze Sanktions- und Kriegspolitik der EU gegen Russland, offenbart nur das fehlende Ich des westlichen Europa.

Russland stellt für den Westen, der immer alles unter Kontrolle haben möchte, das Unfassbare dar.

Unfassbar in dreierlei Hinsicht: in seinen geographischen Dimensionen und in seiner kulturellen Vielschichtigkeit sowie in dem, was wir in diesen geografischen Breiten in den großen Kriegen angerichtet haben.

Wir schicken die größten Armeen in den Osten. Diese ziehen eine Spur der Verwüstung durch die Landschaften und scheinen sich dann aufzulösen. Die Wenigen, die von diesen Feldzügen  zurückkommen, sind ob des Erlebten sprachlos und traumatisiert.

Das Ausmaß all dieser Vorgänge ist bis heute verdrängt, es fehlt ein Bewusstsein für das Ungeheuerliche, was dort geschehen ist.

Stattdessen kämpfen wir gegen unsere eigenen historischen Abgründe, indem wir Russland zu zerstören versuchen.

Polarität kann nicht zerstört werden, auch wenn es Machteliten immer wieder und wieder versucht haben. Es gibt keine Erlösung auf Basis der Vernichtung des Gegenpols. Diese Botschaft muss unsere Gesellschaft verstehen lernen, dann wird sie auch beginnen, ihren feindlichen Kurs gegen Russland zu hinterfragen.

Tatsächlich bietet Polarität auch eine Lösung und Erlösung an, die darin besteht, dass wir paradox handeln. Das biblische „liebe Deine Feinde“ ist eine solche Paradoxie.

Solange allerdings unsere Gesellschaft solche elementaren Spielregeln nicht versteht, wird sie immer dazu bereit sein, der zu Beginn von Hermann Göring beschriebenen Beeinflussungstechnik Folge zu leisten und sich selbst in den Untergang zu führen.

COMMENTS

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    Horst Beger 3 Wochen

    Die Ursachen und Folgen von „Krieg oder nicht Krieg“ („Sein oder nicht sein“) hat der Autor eindrücklich aufgezeigt. Und was „das fehlende Ich des westlichen Europas“ betrifft, so ist das (christliche) Abendland ja spätestens nach dem Ersten Weltkrieg untergegangen, wie Oswald Spengler das ausführlich beschrieben hat, ohne auf den substanziellen Unterschied von christlich und nicht christlich einzugehen. Interessant ist jedoch, dass er zu Russland schreibt: „Eine Religion, die bei Sozialproblemen angelangt ist, hat aufgehört Religion zu sein. Das (protestantische) Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Das nächste Jahrtausend gehört dem (russischen) Christentum Dostojewskis.

    Die katholischen Gründungsväter Europas haben zwar versucht, das untergegangene (christliche) Abendland noch einmal wieder zu beleben, sind aber über den Antagonismus zu Russland nicht hinaus gekommen und nicht willens und in der Lage, „das biblische liebe Deine Feinde“ zu verstehen und zu praktizieren. Das zeigt auch die gigantische Volksverdummung, die gerade in Rom demonstriert wurde. Und die einfältigen evangelischen Ableger und ihre politischen Unterstützer verstehen, von Ausnahmen abgesehen, nur noch „Fußball“, wie das gerade beim Evangelischen Kirchentag in Hannover demonstriert wurde, und hoffen damit den Untergang noch aufzuschieben.

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      Horst Beger 2 Wochen

      Der Versuch des neuen deutschen Bundeskanzlers der schwarz-roten Koalition, mit den katholisch geprägten Ländern Frankreich und Polen das sog. Weimarer Dreieck gegen Russland zu aktivieren, erinnert an den Versuch der katholischen Gründungsväter Europas, das untergegangene(christliche) Abendland noch einmal wieder zu beleben. Die antichristlichen „Schwarzen“ werden das leugnen und die atheistischen „Roten“ werden das nicht verstehen.

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