Ein Kommentar von Dr. Gerhard Mersmann
Es existieren einige Faktoren, an denen abzulesen ist, wie es um ein Gemeinwesen bestellt ist. Das eine sind die großen, übergreifenden Aspekte, wie die Legitimität von Herrschaft und das Vertrauen in sie. Das andere sind vielen kleinen Indizien, die zeigen, wo so eine Korporation tatsächlich steht. Das sind Geburtenraten, Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, der Grad der Alphabetisierung, Schulabbrecherquoten, Zugehörigkeit zu sozialen Zusammenschlüssen, Beschäftigungsquoten, Kriminalitätsraten, Staatsausgaben für Bildung, Gesundheit und Infrastruktur versus Militär und Schuldzinsen. Diese Liste ist lang und kann beliebig erweitert werden. Aussagekräftig sind diese Posten alle, besonders in Konsortium mit allen anderen. Bei genauer Betrachtung deutet der Zeiger nach unten. Seit einiger Zeit. Wer sich näher damit befassen will, möge das tun. Die Tendenz ist seit langem erschreckend deutlich und alle Daten weisen ohne Wenn und Aber auf eigenes Handeln oder Nicht-Handeln hin. Wäre man ehrlich, müsste man den Fehler bei sich suchen. Nicht im Sinne der Selbstvernichtung, sondern um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie der Weg aussehen müsste, um eine positive Zukunftsprognose zu erhalten.
Stattdessen hat man sich darauf verständigt, dass Schelme und böse Buben uns unsere schöne liberale Demokratie, die in summa die oben genannten Faktoren im Licht des Erfolges glänzen lassen müsste, durch Angriffskriege auf Drittstaaten, eine feindliche Zollpolitik, staatliche Subventionen und Sabotage zu verantworten haben. Angesichts einer solchen Sichtweise fällt es leicht, die eigenen Hände in Unschuld zu waschen und lustig die Feindbilder zu bedienen. Die vielen, genannten Teilaspekte, deren Analyse dazu führen müssen, dass man sich daran macht, falsche Politik pragmatisch zu korrigieren, sind den Herrschaften, die mit ihrem beschränkten Horizont sich als Gewinner der Krisen wähnen, zu trivial. Was zählt, ist der große Feind und das Prinzip. Und beim Prinzip fühlt man sich dem Rest der Welt überlegen.
Aber, auch das Große, Hehre, auf das man sich zu stützen gedenkt, ist nach den dramatischen Entwicklung der letzten Wochen schlichtweg pulverisiert. Die wachsende Kritik an den liberalen Demokratien als die selbsternannten Staatsformen des späten Kapitalismus, besteht vor allem aus zwei Aspekten. Es handelt sich dabei um die oben genannte Legitimität und die Effizienz. Wenn Mehrheiten keine mehr sind und diese formal nur noch durch syndikalistisches Geschacher zustande kommen, bei dem in Gangstermanier die vermeintliche Beute aufgeteilt wird, ist es mit der Legitimität schnell dahin. Da kann der formale Weg durchaus korrekt sein, wenn Größen wie Vertrauen und Glaubwürdigkeit dabei auf der Strecke bleiben, ist alles verloren.
Und bei der Effizienz wissen alle, die Betonung liegt auf alle, genau, dass das politische System von Regel und Sanktion eine Bürokratie und eine Regelungsorgie gezeitigt hat, die sich verheerend auf alle Geschäftsprozesse auswirkt. Die satirischen Weisen, in denen die Leistungsfähigkeit bei hiesigen Großprojekten mit denen chinesischer verglichen werden, sind Legion. Die Effizienz, welche das bundesrepublikanische Wirtschaften und Organisieren anbetraf, kann allenfalls noch im Museum betrachtet werden. In der profanen Realität ist sie nicht mehr vorhanden.
Legitimität und Effizienz sind dahin, die vielen Parameter, die etwas aussagen über den Zustand eines Gemeinwesens, weisen dramatisch nach unten. Wer, bitte schön, glaubt, dass die Kräfte, die für diese Entwicklung verantwortlich zeichnen, in der Lage wären, eine große Wende zu vollziehen und die Führung zu übernehmen? Niemand. Außer den alimentierten Fanclubs, versteht sich.
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Wenn „Legitimität und Effizienz unserer schönen liberalen Demokratie dahin sind“, wie der Autor konstatiert, stellt sich die Frage, ob der banale Begriff des Schönen noch eine Berechtigung hat. Der Dichterphilosoph Fjodor Michailowitsch Dostojewski hat in seinem Roman „Der Idiot“ geschrieben: „Die Schönheit wird die Welt retten“ und damit eine geistige Dimension der Schönheit aufgezeigt, die weit über den banalen Begriff des Schönen hinaus geht. Das Wort Geist oder geistig ist zwar bis zur Unkenntnis abgegriffen, hat aber auf dem letzten gemeinsamen Konzil der Ostkirchen und der Westkirche in Konstantinopel von 869 zur Trennung der Ostkirchen von der Westkirche geführt, weil die Westkirche (Papst Nikolaus I.) den Menschen eine geistige Dimension abgesprochen hat, während die Ostkirchen (Patriarch Photios) an dem christlich-spätantiken Menschenbild eines Wesens aus Leib(physis), Seele(psyche) und Geist(pneuma) festgehalten hat. Dies hat zur endgültigen Trennung der Ostkirche(Moskau) von der Westkirche(Rom), dem Schisma von 1054 und zwei unterschiedlichen Kulturkreisen in Europa geführt, weshalb die Westkirche(Rom) die Ostkirche(Moskau) bis heute bekämpft, obwohl beide Kirchen in ihren kultischen Ritualen erstarrt sind. Und solange das zweidimensionale(geistlose) Rom die Politik des Westens prägt, ist keine Änderung „unserer schönen liberalen Demokratie“ zu erwarten.