Seit einem Monat wird jeden Samstag in Moskau protestiert. Gegenstand des öffentlichen Protestes ist die Kommunalwahl in Moskau am 8. September 2019. Es geht also nicht um die Wahl des Präsidenten, nicht des Parlaments, nicht des Moskauer Oberbürgermeisters Sergej Sobjanin, der den Rang eines Gouverneurs hat, sondern nur um die Wahl der 45 Stadtverordneten des Moskauer Stadtparlaments, das vergleichsweise wenig Rechte hat, deren Abgeordnete allerdings das Recht auf Befragungen und Akteneinsicht haben, was bei der Aufdeckung von Vetternwirtschaft und Korruptionsfällen in der Hauptstadt des Landes wichtig ist.
Der Protest richtet sich gegen die Nichtanerkennung der mühsam gesammelten Unterschriften der unabhängigen oppositionell eingestellten Kandidaten für die Registrierung durch die Moskauer Stadtwahlkommission. Das Wahlgesetz schreibt vor, dass sich ein Kandidat, der ohne Parteiliste kandidiert, von mindestens drei Prozent der Stimmberechtigten in seinem Wahlkreis unter Angaben zu deren Person mit Unterschrift bestätigen lassen muss, dass sie dafür sind, dass er kandidieren soll, ohne dass sie aussagen, dass sie ihn wählen werden. Politischer Hintergrund ist der Umstand, dass die Partei der Macht „Einiges Russland“ inzwischen so unbeliebt ist, dass die Parteiführung ihre Kandidaten aufgefordert hat, nicht unter dem Parteinamen zu kandidieren, sondern als unabhängige Kandidaten. Das Rating der Machtpartei sank ab 2017 von 39 % auf 28 %, auf den tiefsten Stand seit 14 Jahren.[1] Die Unterschriften der oppositionellen Kandidaten wurden von der Stadtwahlkommission oft mit fadenscheinigen Begründungen als ungültig zurückgewiesen, meist ohne Angabe von Gründen.[2] Registriert wurden 233 Kandidaten, 57 abgelehnt.
Die prominentesten abgelehnten oppositionellen Kandidaten sind Dmitrij Gudkow, Sohn von Gennadij Gudkow (ehemaliger KFB/FSB-Oberst, Abgeordneter der Staatsduma 2007-2011), Iwan Schdanow (Mitarbeiter des Stabs des oppositionellen Korruptionsforschers Alexej Nawalnij), Konstantin Jankauskas (Mitarbeiter des Instituts für Marktprobleme der Russischen Akademie der Wissenschaften), die Moskauer Bezirksabgeordneten Ilja Jaschin sowie Julija Galjamina und Ljubow Sobol (Juristin der Stiftung „Kampf der Korruption“ von Nawalnij). Sergej Mitrochin, von 1993 bis 2003 Abgeordneter der Staatsduma und von 2005 bis 2009 der Moskauer Stadtduma, klagte am 13. August 2019 beim Moskauer Stadtgericht erfolgreich seine Registrierung zur Kommunalwahl ein, die Klagen der 22 andereт nicht zugelassenen Kandidaten scheiterten. Laut Umfragen des Moskauer Lewada-Zentrums unterstützen 37 % der Moskauer die Protestaktionen, negativ eingestellt sind 27 %, neutral/gleichgültig 30 %.[3]
Laut einer Meldung der „Nesawissimaja gaseta“ („Unabhängige Zeitung“), die sich auf eine soziologische Untersuchung stützt, stammten 80 % der Demonstranten aus Moskau[4], was die Regierungszeitung „Rossijskaja gaseta“ dementierte, es sei nur ein Drittel gewesen. Die Polizei ging hart gegen die Demonstranten vor mit massivem Schlagstockeinsatz. Der Kommandeur eines Trupps der Spezialeinheit OMON hatte Ende November 2013 in Kiew die Polizisten der ukrainischen Spezialeinheit BERKUT befehligt bei der Auflösung der dortigen Maidan-Demonstration. Auch die Nationalgarde wurde eingesetzt.
Am 3. August wurden 1.600 Demonstranten verhaftet, am 10. August 2.000. Die meisten wurden bald wieder freigelassen, 160 wurden wegen Ordnungswidrigkeiten mit Geldstrafen belegt, andere zu mehrtägigen Haftstrafen verurteilt. Auf Polizeistationen wurden von den Gefangengen Epithelproben genommen und Mobiltelefone beschlagnahmt.[5] Gegen 14 Personen wurde Anklage erhoben unter dem Vorwurf der Anstiftung von Massenunruhen nach Artikel 212 des russischen Strafgesetzbuches, wobei Haftstrafen bis zu acht Jahren möglich sind. Am 10. August konnten die abgelehnten Kandidaten an der Demonstration schon nicht mehr teilnehmen, weil sie am Vortrag verhaftet worden waren.
Der Vorsitzende des Menschenrechtsrats beim Präsidenten, Michail Fedotow, forderte am 13. August in einem Schreiben an Generalstaatswalt Jurij Tschajka, die Gültigkeit eines Strafverfahrens gegen die Unruhen zu überprüfen.[6] Dabei zitiert Fedotow das Dekret des Verfassungsgerichts vom 18. Juni 2013 Nr. 24-P, wonach die Ausübung des Rechts auf Kundgebungen und Demonstrationen „den Protestcharakter solcher öffentlicher Veranstaltungen nicht ausschließt, der sich in der Kritik an einzelnen Handlungen und Entscheidungen staatlicher Behörden und Kommunalverwaltungen, ihrer Politik insgesamt äußern kann“. Aufgrund der Analyse von Informationen – so weiter Fedotow in seinem Brief –, die sowohl bei persönlicher Beobachtung als auch aus dem Monitoring der Informationsressourcen gewonnen wurden, haben die Mitglieder des Menschenrechtsrats keine Beweise dafür erbracht, dass die nicht genehmigte Prozession auf den zentralen Straßen Moskaus am 27. Juni 2019 von der massiven Anwendung von Gewalt durch Teilnehmer einer öffentlichen Veranstaltung begleitet wurde, wie das Innenministerium behauptet. Die Mitglieder des Menschenrechtsrats fanden keine Spuren von Progromen, Brandstiftungen, Zerstörung von Eigentum, Einsatz von Waffen, Sprengkörpern, explosiven, giftigen oder anderen Substanzen durch Teilnehmer einer öffentlichen Veranstaltung.
Die Demonstration am 10. August 2019 mit geschätzten 60.000 Teilnehmern war die größte Protestaktion in Moskau seit dem 4. Dezember 2011 gegen die Fälschung der damaligen Staatsdumawahl. Dieser Massenprotest im Zentrum Moskaus war ein Schock für den Kreml, weil eine Wiederholung des ersten Maidan vom November 2004 in Kiew in Moskau befürchtet wurde. 2004 erreichte der wochenlange Protest von Zehntausenden in der Ukraine gegen die Fälschung der damaligen Präsidentenwahl, dass das dortige Verfassungsgericht die Wahl schließlich für ungültig erklärte. Zudem befürchtete der Kreml 2011, dass es in Russland zu etwas Ähnlichem wie dem „arabischen Frühling“ kommt, bei dem im Herbst 2010 die autoritären Staatsoberhäupter in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen gestützt worden waren. Die Reaktion auf den „Marsch der Millionen“ im Dezember 2011 waren viele Prozesse mit hohen Haftstrafen, die Erhöhung der Strafen für die Durchführung von nicht genehmigten Demonstrationen, die Verschärfung der Vorschriften für die Tätigkeit von NGOs, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten – sie müssen sich seither „ausländische Agenten“ nennen -, die Einführung des Straftatbestands der Verleumdung und die Sperrung von Internetseien. Der Kreml kann bis heute nicht verstehen, dass Menschen für Demokratie und Menschenrechte zu Tausenden aus Überzeugung von sich aus demonstrieren, auch unter Inkaufnahme möglicher Bestrafungen. Diese Proteste können nur vom Westen organisiert worden sein, weshalb eine Politik gegen westliche Werte geführt werden muss, so die Überlegung.
Die russische Tageszeitung „Wedomosti“ überschrieb am 2. August 2019 ihren Bericht mit „die Macht verzeiht keine Proteste“.[7] Nach Tatjana Stanowaja von Moskau Carnegie-Center habe die Präsidialadministration zunächst zugestimmt, dass das Moskauer Bürgermeisteramt die Wahlkampagne kontrolliert unter der Bedingung, dass es im Moskauer Stadtrat keine außersystemische Opposition gibt.[8] Der Kreml wollte, dass die Kampagne ruhig und leise verläuft, da jeder politische Konflikt in der Hauptstadt automatisch in den Verantwortungsbereich der Kremlkurtoren fällt. Der Moskauer Oberbürgermeister Sobjanin ist schon seit längerer Zeit Kandidat für das Ministerpräsidentenamt und möglicherweise für die Nachfolge Wladimir Putins als Präsident. Dazu passen die kritischen Stimmen aus dem Lager des Staatsdumavorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin, dass Sobjanin die Wahlen in Moskau nicht bestanden habe.
Auch die Nachrichtenagentur ROSBALT äußerte in ihrer Untersuchung der harten Reaktionen der Polizei und der Nationalgarde gegen die Demonstranten in Moskau am 2. August 2019 die Vermutung, dass sie mit dem Machtwechsel 2024 zusammenhängen.[9] (2024 endet die gegenwärtige Amtszeit von Präsident Wladimir Putin.) Die wartemüden Kreml-Clans ringen miteinander und nutzen die Instabilität, die sich in Moskau auftut. Bei der Lösung des Problems der Moskauer Stadtduma möchte der Sicherheitsrat die Präsidialadministration ausschalten. Der Sekretär des Sicherheitsrats und praktisch dessen Leiter ist Nikolaj Patruschew, der von 1999 bis 2008 FSB-Chef war.
Für den Chefredakteur der „Nesawissimaja gaseta“ und Vorsitzenden der „Gesellschaftlichen Kammer“ der Stadt Moskau (Beratungsorgan für den Oberbürgermeister), Konstantin Remtschukow, war bei den Moskauer Demonstrationen das Wichtigste, dass die Jugendlichen, die auf die Straße gingen, absolut keine Angst hatten.[10] „Ich habe zum ersten Mal Leute gesehen, denen es egal war, ob die Polizei sie festnahm oder nicht, ob sie sie ins Gefängnis schickten oder nicht. Das ist ein neues Moment. Die Menschen gehen auf die Straße, die glauben, dass die Wahrung ihrer Positionen, insbesondere ihre moralischen, das Wichtigste von allem ist. Die Stimmung dieser jungen Generation ändert sich sehr, sehr stark.“ Das ist für Remtschukow eine bemerkenswerte systemische Verschiebung. Im Frühjahr 2019 sind – im Unterschied zur Präsidentenwahl 2018 – nicht die materiellen Dinge von größter Bedeutung, sondern die Erfordernisse der Freiheit.
Remtschukow zitiert soziologische Untersuchungen: 59 % der Befragten gaben an, dass „das Fehlen von Beschränkungen der persönlicher Freiheiten“ wichtiger ist als eine gute wirtschaftliche Situation. Und: 84 % der Russen wollen einen persönlichen Beitrag zur Verbesserung der Situation im Lande leisten. „Wir hatten noch nie eine solche Stimmung.“ In den letzten Monaten konnte gesehen werden, was die Mittelklasse bedeutet, die verantwortungsvoll ist, die weniger abhängig ist von staatlichen Geldern und Beihilfen und die sich um Zukunft ihrer Kinder kümmert. Die Behörden wissen nicht, wie sie auf die Forderungen der Mittelschicht reagieren sollen, sie an der Entscheidungsfindung in Russland zu beteiligen.
Die Mittelschicht ist durch soziale Netzwerke fest verbunden. Diese verbreiten Informationen, Werte, Ziele und Beispiele für das Leben in anderen Ländern, aber sie fordern auch eine sofortige Reaktion aller am Meinungsaustausch beteiligten Parteien. Typisch für die Macht in Russland ist nach Remtschukow, dass es nur wenige gesprächige Leute gibt. In den sozialen Netzwerken funktioniert die Propagandasprache des Fernsehens, das für die Hauptwähler da ist, nicht mehr. „Die Behörden haben keine Kommunikationstechnologien, keine Reaktionstechnologien entwickelt.“
Die Nomenklatur in Russland ist ein Elite-Club, eine Nomenklatur, die über enorme wirtschaftliche Vermögenswerte, Banken, Flugzeuge finanzielle Ressourcen verfügt. Sie verteidigen ihr Vermögen und können nicht aus dem Lande fliehen, zumal viele von ihnen auf den Sanktionslisten stehen. Deshalb sind sie gezwungen, in Russland und an der Macht zu bleiben. Die Elite glaubt, die Probleme auf die übliche Weise lösen zu können. Laut Remtschukow hängt viel von der Fähigkeit der Elite ab, zu verstehen, wie sich die Gesellschaft in Russland verändert und wie man mit diesen Menschen spricht.
[1] https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/08/13/808754-summarnii-reiting?utm_campaign=newspaper_14_8_2019&utm_medium=email&utm_source=vedomosti
[2] https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/08/06/808244-tsentrizbirkom
[3] https://echo.msk.ru/news/2478091-echo.html
[4] Nesawissimaja gaseta, 12. August 2019
[5] https://www.kommersant.ru/doc/4052428
[6] http://www.president-sovet.ru/presscenter/news/read/5742/ https://www.kommersant.ru/doc/4058637 https://echo.msk.ru/news/2481637-echo.html
[7] http://vedomosti.newspaperdirect.com/epaper/viewer.aspx
[8] https://carnegie.ru/commentary/79578?mkt_tok=eyJpIjoiWXprMU5qZGhZbUZsWVRKaiIsInQiOiJiWHJiczlIQUFNV1FES2dIVzB1cGxheDBEQjg0ZUs5ZXdzcjBhMHg3dStSUlA4bE9NUmVUNmhneXIrQlF3R2JGaUtscXRzZUdHRk5EQ2hKb05OcVwvdjlVckV1NlBkQlZnb01obzA0Qk1VU1JxSFZ5aVNOTlwvNlpGK2U5RWY5WHNnIn0%3D
[9] https://www.rosbalt.ru/russia/2019/08/02/1795309.html
[10] http://www.ng.ru/politics/2019-07-31/100_interview310719.html
COMMENTS
Ja, in jedem Land will das Finanzkapital seine Macht sichern. Das ist auch im Westen der Fall. In Frankreich geht man mit den Gelbwesten auch nicht gerade zimperlich um und deklassiert die Menschen zu Gewalttätern.
Und die Hintermänner der farbigen Revolutionen sind ja auch bekannt.
Ich will das nicht gut heißen, was in Moskau passiert, aber im Westen ist das nichts Neues.