Moskaus neue Regeln für seine NachbarschaftspolitikSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Moskaus neue Regeln für seine Nachbarschaftspolitik

[Eberhard Schneider] Als „Ergebnis eines mindestens jahrzehntelangen Prozesses, in dem viele Kremlambitionen eingeschränkt und viele Pläne verworfen wurden“ stellte der ehemalige Oberst der Sowjetarmee und Direktor von Carnegie Moskau mit guten Kremlkontakten, Dmitrij Trenin, am 12. November 2020 „Moskaus neue Regeln“ für seine Politik gegenüber den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetrepubliken vor.[1] Die Konkretisierung dieser Überlegungen in fünf Regeln haben wahrscheinlich drei Krisen ausgelöst, die kürzlich nahezu gleichzeitig in drei Nachbarregionen Russlands ausgebrochen sind, in Belarus, in Armenien und Aserbaidschan sowie in Kirgisien.

  1. „Russland zuerst.“ Offensichtlich ist der Kreml Trumps „America first“ gefolgt, wenn er für die Zukunft feststellt, dass das Hauptinteresse Russlands an der Welt Russland ist. Trenin zitiert einen Satz des russischen Präsidenten Wladimir Putin, den er in einem anderen Zusammenhang einmal gesagt hatte: „Wir interessieren uns nicht für eine Welt ohne Russland.“ Im Bergkarabach-Konflikt zog es Russland vor, die „Stabilität zu Hause aufrechtzuerhalten“, denn es gibt in Russland eine jeweils zwei Millionen umfassende armenische und aserbaidschanische Diaspora. Der Kreml wollte seine wichtigen Beziehungen zu Aserbaidschan aufrecht erhalten, dessen seit 2003 amtierender Präsident Ilham Alijew als Nachfolger seines Vaters Hayda Alijew Putin mehr zusagt als der 2018 durch eine Protestrevolution in Jerewan an die Macht gekommene Nikol Panschinjan. Außerdem wollte Putin einen Zusammenstoß Russlands mit der sich ehrgeizig zeigenden Regionalmacht Türkei, die auf aserbaidschanischer Seite kämpfte, vermeiden, was geschehen wäre, wenn es sich auf der Seite des mit ihr nominell verbündeten Armenien in den Krieg hätte verwickeln lassen. Die russischen Bündnisverpflichtungen gelten formal nur für Armenien, nicht für das zwar von Armenien beherrschte, aber als selbständiger Staat agierende Bergkarabach, das jedoch völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. In Armenien wäre das der dritte Zusammenstoß Russlands mit der Türkei nach Nordostsyrien in der 120 km langen und 30 km tiefen Pufferzone gegen die Kuden-Miliz YPG, die sich die Türkei im Oktober 2019 von Baschar al-Assads Syrien, an dessen Seite Russland militärisch steht, erobert hatte. In Libyen stehen sich die Türkei und Russland militärisch gegenüber, denn die Türkei kämpft an der Seite der international anerkannten Regierung, während Russland den die Regierung bekämpfenden abtrünnigen General Haftar militärisch unterstützt. Im Fall Armenien zog es Moskau vor, die Türkei als Konkurrenten im Südkaukasus anzuerkennen, indem es deren Teilnahme am Mechanismus zur Überwachung des von Moskau vermittelten und Armenien aufgezwungenen Waffenstellstands akzeptierte, wenn auch nicht durch militärische Präsenz. Militärisch wird der Waffenstillstand durch 2.000 russische Soldaten überwacht, die vorerst für fünf Jahre in der Region bleiben.[2] In Armenien unterhält Russland außerdem seit den 1990er Jahren eine Militärbasis. Man kann sich fragen, ob sich allmählich eine Aufteilung der Einflusssphären im Südkaukasus zwischen Russland und der Türkei abzeichnet.
  2. „Die ehemalige Sowjetunion existiert nicht mehr.“ Für Moskau sind alle Staaten, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken hervorgegangen sind, auf sich allein gestellt. Das ist meines Erachtens die inhaltliche Fortsetzung der Erklärung von Generalsekretär Michail Gorbatschow auf dem Warschauer-Pakt-Gipfeltreffen im Herbst 1986 in Prag, damals bezüglich der Ostblockstaaten, welche die Probleme in ihren Ländern selbst zu lösen haben, ohne sowjetische militärische Hilfe. Russland betrachtet nun jede bilaterale Beziehung nach ihren eigenen Vorzügen.
  3. „Die bilateralen Beziehungen zu Verbündeten werden immer weniger von Persönlichkeiten abhängig.“ Das zeigte sich im Falle von Panschinjan in Armenien, bei den drei Revolutionen in Kirgisien 2005, 2010 sowie jüngst und es dürfte sich zeigen bezüglich des belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka.[3] Russland kümmert sich in erster Linie um seine eigenen Interessen in den Nachbarländern und konzentriert sich auf deren Schutz. Von den 15 ehemaligen Sowjetrepubliken sind nur noch fünf mehr oder weniger Verbündete Russlands: in Europa Belarus, im Kaukasus Armenien und in Zentralasien Kasachstan, Kirgisien sowie Tadschikistan. Die von Moskau geleitete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, dem diese Länder angehören, „ist nur ein Bündnis dem Namen nach“. „Es gibt keine Verteidigungsintegration und nur eine sehr leichte Koordination. Die Alliierten unterstützen Moskaus nicht immer bei der UN-Abstimmung, und – sehr bezeichnend – keines von ihnen hat die Krim als Teil Russlands anerkannt.“ Die Eurasische Wirtschaftsunion, der diese Länder ebenfalls angehören bis auf Tadschikistan, „ist kaum mehr als eine Zollvereinbarung, und viele ihrer Mitgliedsstaaten machen mit China genauso viel oder mehr Geschäfte als mit Russland“. Trenin kommt zu dem Schluss: „Russland hat entdeckt, dass es keine Verbündeten hat, die in seiner Stunde der Not zu ihm stehen würden, aber es hat auch herausgefunden, dass es keine Verbündeten braucht.“
  4. „Verpflichtungen sind nicht unbefristet und immer wechselseitig.“ Moskau besteht zunehmend darauf, dass ihre Verbündeten loyaler sind, um die Unterstützung Moskaus zu verdienen. „Wenn ein Verbündeter eine Multi-Vektor-Außenpolitik betreibt, sollte er von Russland eine ähnliche Haltung erwarten.“ Paschinjan liebäugelte etwas in Richtung Westen.
  5. „Dritte Mächte können nicht aus der Nachbarschaft ausgeschlossen werden; sie müssen behandelt werden.“ Als Bedrohung würde von Moskau der Beitritt Georgiens und der Ukraine zur NATO angesehen werden. Um das zu verhindern nutzt Moskau die von Georgien abtrünnigen und an Russland grenzenden Provinzen Südossetien und Abchasien, die fast ein Fünftel des georgischen Territoriums ausmachen und in denen russische Truppen stationiert sind, in Abchasien 7-10.000 Soldaten mit Panzern, Raketen Kampfflugzeugen.[4] Im Fall der Ukraine ist zuerst die Krim zu nennen. „Es gab keinen Plan für eine Rückeroberung. Die Krim wurde aus strategischen Gründen als Hauptbasis der Schwarzmeerflotte beschlagnahmt und als Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte, in Russland eingegliedert.“ Gleichwohl galt der Pachtvertrag Moskaus mit Kiew über die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte im Krimhafen Sewastopol noch bis 2042 mit der Option für weitere fünf Jahre. Ein weiteres Instrument, den NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern, ist der ungelöste Konflikt im Donbass, den Trenin als eine „Improvisation“ bezeichnet, die „schief gegangen war“, wohl im Hinblick auf das Projekt „Nowaja Rossia“ („Neurussland“), das ein zusammenhängendes Gebiet entlang der ukrainischen Ostgrenze – im Norden mit Charkow beginnend – und weiter an der ukrainischen Küste zum Asowschen und Schwarzen Meer bis zur Krim umfassen sollte.

 

Zu Beginn der 2010 Jahre war laut Trenin das „Imperium immer im Hinterkopf vieler Menschen, aber selbst dann war es sicherlich eher eine Erinnerung an die Vergangenheit als eine realistische Vision der Zukunft.“ Ein Jahrzehnt später habe sich Russland nach den Erfahrungen mit der Ukraine und mit Belarus „post-imperialisiert“. Trenin denkt dabei wahrscheinlich an die Weigerung Lukaschenkas, den Vertrag über die Union Belarus-Russland wirklich voll umzusetzen.

[1]              https://carnegie.ru/commentary/83208

[2]              Vgl. dazu: Isachenko, Daria, Türkei-Russland-Partnerschaft im Krieg um Bergkarabach. SWP-Aktuell Nr. 88 November 2020 (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A88_Isachenko_BergKarabach_WEB.pdf )

[3]              Vgl. meine August-Kolumne

[4]              Dornblüth, Gesine/Franke, Thomas, Der Kaukasus-Krieg und die geopolitischen Folgen. Deutschlandfunk-Hintergrund 6.12.2010.

COMMENTS

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    Volker Steittmann 3 Jahren

    Die Rede Wladimir Putins seinerzeit vor dem deutschen Bundestag löste allgemeinen starken Beifall aus. Wie es jetzt aussieht, wollen maßgebliche Politiker in Berlin keineswegs an die gesendeten Signale des russischen Präsidenten anknüpfen. Zeit war genug, aus dem amerikanischen
    Fahrwasser herauszukommen und eine globale Zusammenarbeit der EU mit den
    Staaten im Osten Deutschlands voranzubringen. Ich sehe mit Erstaunen und
    Betroffenheit, wie sich europäische Diplomatie u.a. in US-amerikanische
    Expansion rund um den Erdball manifestiert und nichts anderes zu tun hat,
    als mit Krim und Nawalny einvernehmliche politische Lösungen zu torpedieren.

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    Horst Beger 3 Jahren

    Nach Regel Nr. 5 „Können dritte Mächte aus der Nachbarschaft nicht ausgeschlossen werden und müssen behandelt werden“. Bezogen darauf bedeutet die jüngste Einladung des NATO-Generalsekretärs an die Ukraine, dem atlantischen Militärbündnis beizutreten und deren Anerkennung als Kandidatin für die NATO-Mitgliedschaft, für Russland „ein Überschreiten der roten Linie“ und kommt zusammen mit den Mobilmachungen der NATO an den Außengrenzen Russlands einer Kriegserklärung gleich.

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    Horst Beger 3 Jahren

    Solange in Deutschland die NATO-hörige CDU/CSU das Sagen hat, deren geistige Väter 1933 Hitler an die Macht gebracht und zur Zweidrittelmehrheit für das berüchtigte Ermächtigungsgesetz verholfen haben, welches diesem uneingeschränkte Machtbefugnisse gab, hat Russland allen Grund, sich durch eine entsprechende Nachbarschaftspolitik gegen das weitere Vordringen der NATO zu wehren, deren Ziel es ist, „Amerika in Europa zu halten, Russland draußen zu halten und Deutschland klein zu halten“, wie der erste NATO-Generalsekretär das formuliert hat. Und solange die Außenpolitik der SPD durch den NATO-hörigen „Messdiener“ Heiko Maas bestimmt wird, gilt das auch für diese.

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