[von Kai Ehlers] Bemerkenswertes offenbart sich am Fall Nawalny. Während westliche Medien Nawalny zum Führer der demokratischen Opposition Russlands stilisieren, distanzierte sich der Gründer und langjährige Vorsitzende der Partei der Liberalen, „Jabloko“, Grigori Jawlinski, öffentlich von Nawalny’s „Populismus“ als „sinnlos“, „antidemokratisch“ und „national-bolschewistisch“. Sergei Iwanenko, ehemaliger Stellvertreter Jawlinskis betonte eine „maximale Distanz“ der Liberalen von dem „Nietzscheaner“ und „Militanten“ Nawalny.
Bemerkenswert ist die Kritik Jawlinskis, weil sie von einem Mann vorgebracht wird, der seit den Tagen des Machtantritts Wladimir Putins zu dessen schärfsten Kritikern gehört. Auch jetzt erklärte er unmissverständlich, der „Vergiftungsversuch“ an Nawalny sei ein Verbrechen, das vor einem internationalen Tribunal geklärt werden müsse. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er erklärt, bei der Vergiftung handle es sich nicht nur um ein Verbrechen, „es könnte auch ein Beweis für die Existenz von staatlich sanktionierten Todesschwadronen in Russland sein.“ Jawlinski steht also mit Sicherheit nicht in dem Verdacht, Putin gegen Kritik abschirmen zu wollen – auch wenn er ihn nicht persönlich zum Mörder und Dieb erklärt wie Alexei Nawalny, sondern ihn politisch anklagt.
Sinnloser „Protestaktivismus“
Dies vor Augen, bekommt Jawlinskis Kritik, auch wenn er aus Altersgründen nicht mehr Vorsitzender der Partei ist, ihr unabweisbares Gewicht. Seine Kritik setzt mit einer Bestandsaufnahme der Protestkultur in Russland ein. Außer Illusionen habe diese Protestkultur bisher trotz allen „Protestaktivismus“ in den Jahren seit 2011 bis heute nichts gebracht, habe keine Perspektive für den demokratischen Aufbau liefern können, habe stattdessen viele politische Gefangene hinterlassen, um die sich niemand wirklich kümmere, der öffentlichen Druck für ihre Befreiung herstellen könne.
Die Proteste, die Nawalny mit seiner Rückkehr jetzt initiierte habe, seien nur eine Fortsetzung dieser sinnlosen Politik, die an den konkreten Verhältnissen nichts ändere und auch keine Zielvorgaben enthalte. Außer Rufen wie „Freiheit für Nawalny“ hätten die Proteste keine Intention gehabt. Vor diesem Hintergrund, so Jawlinski, „ist ein weiterer solcher Zyklus von Straßenprotesten ein Weg zu noch größerer Desillusionierung.“
Sogar Nawalnys Wahlkampfzentrale habe das verstanden, so Jawlinski, wenn sie verkünde, dass sie die Menschen nicht auf die Straße rufen werde, um sie dort verprügeln zu lassen. Allerdings nehme sie eben genau diese Situation mit ihren gegenwärtigen Aufrufen doch in Kauf.
Nötig sei aber eine langfristige, ans Grundsätzlich gehende Bewegung, zum Aufbau von tatsächlichen demokratischen Strukturen, die der Bevölkerung echte soziale Alternativen gäben. Auf dergleichen ziele aber die Politik Nawalny’s nicht. Nawalny sei zurückgekehrt in vollem Wissen, dass er ins Gefängnis kommen werde, ohne eine andere Zielvorgabe als „Befreit Nawalny“ zu nennen. Für Jawlinski ist klar, dass dabei nichts weiter herauskommen könne als eine ziellose Aufwiegelung der Massen.
Kritik an Korruption reicht nicht
Kritik an der Korruption allein, so Jawlinski, bringe gar nichts. Dass Korruption im Lande herrsche, sei nichts Neues für die Menschen. Wichtig sei, Wege aufzuzeigen, wie aus der Situation herauszukommen sei, die durch die kriminelle Privatisierung seit den 90 Jahren entstanden sei. „Die Ermittlungen Nawalny‘s“, so Jawlinski, „hatten leider keine praktischen Ergebnisse für die Gesellschaft, konnten sie auch nicht haben. Alle, die entlarvt wurden, bleiben an ihrem Platz und mit ihrem Geld. Das Problem ist nicht so sehr die uralte Tradition des Diebstahls an der Macht, sondern die Tatsache, dass während der Reformen der 90er Jahre und insbesondere der halbkriminellen (und in einigen Fällen, wie den Hypothekenauktionen, völlig kriminellen) Privatisierung, die auf einer Verschmelzung von Eigentum und Macht basiert, ein System geschaffen wurde, das keine unabhängige Justiz, keine unabhängigen Medien, kein echtes Parlament und keine fairen Wahlen vorsieht. Und ohne eine kategorische Trennung von Eigentum und Wirtschaft von der Macht, ohne Gewaltenteilung, ist der Kampf gegen Korruption unmöglich.
Deshalb ist der wichtigste gesellschaftlich bedeutsame Effekt, auf den die Filme Nawalny’s abzielen, die Aufstachelung zu primitivem sozialen Unfrieden. Auch das ist nicht neu. Genau das taten auch die Behörden, als sie Chodorkowski 2003 Yukos entrissen. Das Schüren von Klassenpopulismus in Russland und das Provozieren von Zusammenstößen zwischen Reichen und Armen wird nichts bringen. (…) Die Menschen in Russland werden ja nicht nur wegen der Korruption arm. Unsere Bürger verlieren unvergleichlich mehr wegen des Krieges in Syrien und im Donbas, wegen des Wettrüstens und der völlig grenzenlosen, intransparenten und unkontrollierten Ausgaben für den militärisch-industriellen Komplex, wegen der internationalen Sanktionen, gegen die Russland ständig anrennt, aber vor allem wegen der ineffizienten, kostspieligen Wirtschaft des Staatskapitalismus (wenn Gewinne privat und Verluste öffentlich sind). Korruption kann nur durch eine Änderung des Systems wirklich besiegt werden. Deshalb, ich wiederhole es, ist der wirkliche Kampf gegen die Korruption kein Drohnenschnappschuss auf die Anwesen korrupter Beamter, sondern ein politischer Kampf für einen neuen russischen Staat, für eine neue Verfassung, für eine verfassungsgebende Versammlung.“
Nawalny schon 2011 – quer zu allen
Hier setzt Jawlinski dann zu seiner schärfsten Kritik an. Er erinnert daran, dass Nawalny schon 2011 aus der liberalen Partei wegen nationalistischer und tendenziell sogar faschistischer Aktivitäten ausgeschlossen worden sei. Zu Bekräftigung lässt Jawlinski eine Zeugin aus dieser Zeit sprechen, Valeria Nowodworskaya, die schon damals die Position und den politischen Stil Nawalny’s treffend charakterisiert habe: Nawalny könne, hatte sie geschrieben, „der zukünftige Führer eines gestörten Mobs werden, mit einer Nazi-Neigung. (…) Der Kampf gegen die Korruption, kann dahin führen, wozu er in Weißrussland bereits geführt hat. Lukaschenko hatte das Volk verführt, indem er von morgens bis abends über den Kampf gegen die Korruption sprach. Und es war leicht, leichtgläubige Weißrussen zu kaufen. Und die unbewusste Intelligenz unterstützte ihn, weil sie dachte, sie könne ihn drehen, wie sie wollte. So sehen wir die belarussische Landschaft heute. … Verhaftungen sind kein politischer Ablasshandel. Die Bolschewiken wurden ebenfalls inhaftiert, und Dserschinski saß 10 Jahre lang im Gefängnis. Auch Hitler wurde inhaftiert. Schade, dass es nicht 15 Jahre lang war. Vielleicht hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben… Wenn die Massen für Nawalny gehen, kann das Land in Zukunft mit Faschismus rechnen… Die Welle, die sich jetzt erhebt, ist nicht nur gegen Putin. Sie erhebt sich für die undemokratische Zukunft Russlands. Es ist ein Aufstehen für den vergangenen Kommunismus oder für den zukünftigen Faschismus. Und Nawalny ist einer der potenziellen Anführer dieses neuen Untergangs.‘“
Seitdem, also seit 2011, so Jawlinski, habe sich überhaupt nichts geändert. Es gebe nichts Positives an Nawalny‘s Anspruch, mit den Ideen und der Agenda, die er vorschlage, um damit an der russischen Politik teilzunehmen. Als 2009 der Menschenrechtsaktivist Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa von Neonazis im Zentrum Moskaus ermordet wurden, habe Nawalny die „Russischen Märsche“ organisiert, bei denen zu ethnischem Hass und ähnlichen Morden aufgerufen worden sei. Auch zum Krieg mit Georgien oder bei der Kommentierung des Krieges im Donbas habe er seine nationalistischen Positionen „nicht versteckt“.
Nawalny, darf man ergänzen, hat sich bis heute von seinen nationalistischen Auftritten nicht distanziert. Und bis heute sind die Menschen, die er anspricht, nicht links oder rechts. Im Gegenteil, fordert die von ihm entwickelte Strategie des „smart vote“ die Menschen dazu auf, unabhängig von ihrer politischen Orientierung die Partei zu wählen, die der Partei der Macht, als Putins politischer Stütze, die meisten Stimmen abspenstig zu machen in der Lage ist. So sammeln sich in seinem Gefolge, bei Wahlen wie bei den jetzigen Protesten, Menschen quer durch das politische Spektrum, die nur die Parole „Weg mit Putin“ und die damit verbundene vage Hoffnung auf diverse Lebensvorteile auf die Beine bringt.
Ob man Nawalny als Politiker unterstütze oder nicht, so Jawlinski schließlich, bleibe jedem selbst überlassen. Aber notwendig sei zu verstehen: „Das demokratische Russland, die Achtung des Individuums, die Freiheit, das Leben ohne Angst und ohne Repression sind unvereinbar mit Nawalny‘s Politik. Es sind grundlegend verschiedene Richtungen.“
Nawalny’s „Stabschef“ spricht
Auf Kritik aus den eigenen Reihen antwortete Jawlinskis ehemaliger Stellvertreter Sergei Iwanenko mit einem Artikel, in dem sich noch schärfere Worte finden. Nawalny habe gewusst, so Iwanenko, dass er, wenn er nach Russland zurückkehre, ins Gefängnis käme. Er habe sich trotzdem entschieden zu kommen und einzusitzen. Dies sei die Taktik seines politischen Spiels. Das Gefängnis werde von Nawalny benutzt, um Unterstützung zu generieren und zu versuchen, alle Kritiker zum Schweigen zu bringen.
Zum Beleg zitiert Iwanenko die Erklärung, die Nawalny’s „Stabschef“ Leonid Wolkow zur gegenwärtigen Strategie von Nawalny’s Einsatzstab gegeben habe:
„Es gab kein Mitleid für irgendetwas, in der Tat nahm ich eine riesige moralische Last auf mein Herz… Ich gab allen unseren Mitarbeitern des Hauptquartiers einen Befehl, eine Anweisung: Leute, ihr müsst für eine lange Zeit in Haft gehen, weil die Organisation dieser Kundgebungen unweigerlich mit Haftandrohungen für alle unsere Koordinatoren verbunden ist. Und so wurden sie alle als Organisatoren genommen und eingesperrt…
Aber mir war klar, dass wir in dieser Situation eine maximale öffentliche Aufmerksamkeit sowohl in Russland als auch außerhalb um Alexej Nawalny, um diese Verhaftung und diesen Prozess gewinnen mussten. Wir mussten die Aufmerksamkeit so weit wie möglich bündeln, um maximale Unterstützung zu erhalten. Dass Millionen von Menschen sehen, was passiert und dahin kommen zu verstehen, dass sie sich aus den Fängen des Putinismus und der Propaganda befreien. Wir hätten also schon damals alles ins Feuer werfen sollen.
Obwohl es eine schreckliche Entscheidung war, den Leuten zu sagen: Ihr werdet mit der Kavallerie gegen die Panzer gehen, ihr werdet auf allen Kanälen des Hauptquartiers schreiben, dass wir morgen eine Kundgebung abhalten, wissend, dass die Häscher hinter euch her sein werden und ihr verhaftet werdet. Aber wir hatten keinen anderen Ausweg, wir mussten das tun, um am 23. und 31. Januar vor der Gerichtsentscheidung, vor dem Urteil, eine große soziale Konsolidierung erreichen zu können.
Und wir haben es zu einem furchtbar hohen Preis erreicht – Dutzende unserer Mitarbeiter wurden verhaftet, Hunderte von Menschen wurden in Moskau verhaftet, unter schrecklichen Bedingungen in Sacharow, 12.000 Menschen wurden inhaftiert. Niemand würde einen solchen Preis zahlen wollen. Es ist schrecklich, dass wir das bezahlen müssen. Es ist furchtbar, dass Putin das Land in eine solche Situation gebracht hat, dass es einfach so viel kostet, friedliche Menschen auf die Straße zu bringen: Hunderte von Menschen, die geschlagen wurden, einige Anklagen, alle Arten von einfach ungeheuerlichen Dingen. Es ist sehr schmerzhaft und schlimm.
Aber es hatte seinen Sinn, denn wir sammelten die öffentliche Meinung zu unseren Gunsten auf unserer Seite, bevor das Urteil gefällt wurde. Und wir haben Millionen von Zuschauern und Millionen von Menschen, die schockiert sind von dem, was sie gesehen haben. Und sie haben zugeschaut, weil wir mit unseren Veranstaltungen darauf aufmerksam gemacht haben. Und jetzt sind diese Millionen von Menschen, die von Putin enttäuscht waren, mit uns oder werden mit uns sein, werden mit uns sein bei der Smart Vote.“
„Kannibalische Taktik“
Das heißt, kommentiert Iwanenko, sie wussten, dass dies geschehen würde. „Sie warnten ihre Zentrale, aber nicht andere potenzielle Demonstranten, und warfen alles in diesen ‚Feuersturm‘, um Aufmerksamkeit für den Prozess von Nawalny zu gewinnen, zu dem er absichtlich kam. Dies ist eine ungeheuerliche, kannibalische Taktik. Warum sollten wir ihm folgen?“
Nawalny, erklärt Iwanenko an anderer Stelle seines Textes, um Nawalny’s „Stil“ zu kennzeichnen: „Nawalny ist ein Nietzscheaner, ein Nationalist, ein Gesprächspartner von Militanten (Girkin-Strelkow und Prilepin)[1]. Das reicht aus, um uns auf maximale Distanz zu Nawalny zu bringen, egal wie viele Millionen Anhänger er hat.“
Es wäre gut, wenn diese Stimmen, die eine nicht minderkritische Position zu Putin vertreten wie Nawalny, zugleich aber auch Nawalnys Aktivitäten transparent machen, auch im Westen gehört würden, statt dass Nawalny zum Führer der Opposition aufgeblasen wird. Es ist aber offensichtlich, dass dies in der Ost-West-Konfrontation, die im Gefolge des Präsidentenwechsels in den USA gegenwärtig wieder hochgefahren wird, nicht gewollt wird. Tatsache ist, dass ein Wolkow stattdessen zu den Beratungen der EU hinzugezogen wird, die Nawalny’s Wirken zum Anlass für neue Sanktionen gegen Russland nimmt.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
Wer sich ein eigenes Bild von den hier zitierten Texten machen will:
- Jawlinski: https://www.yavlinsky.ru/article/bez-putinizma-i-populizma (russisch)
- Iwanenko: https://echo.msk.ru/blog/ivanenko_sergej/2787888-echo/ (russisch)
- Oder beide zusammen als technische- Übersetzung (über den Autor)
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Ohne Putinismus und Populismus
Über den Sinn der aktuellen Politik 06.02.2021 / Main
Fast zehn Jahre sind seit den Protesten von 2011 vergangen. In diesen Jahren hat unser Land Straßenproteste unterschiedlichen Ausmaßes erlebt, und jedes Mal hieß es hoffnungsvoll: „Das ist anders, jetzt wird alles anders.“
In Wirklichkeit hat sich in den zehn Jahren fast nichts am Protestaktivismus geändert, weder in Bezug auf die Zahlen, noch in Bezug auf die Art des Protests. Und das nach einer optimistischen Einschätzung. Denn zu den Protestaktionen in Moskau im Januar 2021 kamen weniger Menschen als 2011, 2012 und sogar 2019. Aus den 100 Millionen Views auf YouTube wurden landesweit ca. 200 Tausend Menschen und in der Hauptstadt 20-30 Tausend Menschen1. Nach heutigen Maßstäben für „offline“ ist das eine große Zahl. Dies ist jedoch nicht einmal annähernd genug, um die politische Situation im Land zu beeinflussen, geschweige denn, um die Behörden zu einem friedlichen, sinnvollen Dialog zu zwingen (was das Wichtigste ist) (siehe Aktivismus und Politik, Oktober 2019) .
Gleichzeitig haben die Protestwellen, die im Laufe der Jahre in Russland periodisch aufgekommen sind, nie ein ernsthaftes Problem für die Behörden dargestellt. Das wichtigste reale Ergebnis dieser Protestaktivität ist ein Anstieg der Zahl der Verhafteten und der politischen Gefangenen, für die kein „öffentlicher Druck“ aufgebaut wird und die niemand freilassen wird. Vor diesem Hintergrund ist ein weiterer solcher Zyklus von Straßenprotesten ein Weg zu noch größerer Desillusionierung. Sogar Nawalnys Wahlkampfzentrale hat das verstanden und verkündet, dass sie die Leute nicht auf die Straße rufen werden, um sie zu verprügeln.
ZEHN JAHRE „WANDEL“
In zehn Jahren wird die russische Macht (dieselbe Macht, die Wahlkämpfer als „verängstigt“ und „bröckelnd“ darzustellen versuchen) – hat Putins Wahl zum Präsidenten zweimal orchestriert – für eine dritte Amtszeit im Jahr 2012 und eine vierte im Jahr 2018;
– die Krim annektiert und ein Blutvergießen im Donbass entfesselt;
– schickte ein militärisches Kontingent nach Syrien, um sich am Bürgerkrieg zu beteiligen;
– sich über PMCs in mehr als einen bewaffneten Konflikt in Afrika eingemischt;
– hat ein ganzes System von repressiven Gesetzen durch ein vollständig kontrolliertes Parlament verabschiedet;
– organisierte ein Plebiszit, um die Verfassung zu ändern, einschließlich der Erlaubnis für Putin, für weitere 12 Jahre nach 2024 an der Macht zu bleiben;
– Erfolgreich und konsequent eine Atmosphäre der Unterdrückung von Dissens und der Suche nach inneren und äußeren Feinden gefördert.
VERDRÄNGUNGEN UND ILLUSIONEN
In den letzten Jahren hat sich die Informationspolitik der Regierung in Bezug auf die Protestberichterstattung von totalem Schweigen in den kontrollierten Medien zu einer detaillierten, propagandistischen Zerschlagung von Straßenprotesten entwickelt, um jegliche Opposition zu diskreditieren. Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass das Regime die Proteste nutzen wird, um die Schrauben anzuziehen und vor den so genannten Dumawahlen im Herbst „das Feld zu säubern“. Man sollte nicht denken, dass die Proteste die Behörden erschrecken oder für den Kreml überraschend kommen. Der Kreml hatte sich seit langem auf eine rigide Unterdrückung möglicher Proteste des Volkes vorbereitet: repressive Gesetze wurden verabschiedet, die Bereitschaftspolizei OMON und die Rosgwardija wurden verstärkt, die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden wurden ausgeweitet, und ihre Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgern wurde konsequent beseitigt.
Schon die offensichtlich höchst unpopuläre Rentenreform zeigte, dass es nicht um Verständnis und nicht einmal um einen Flirt mit dem Volk geht, sondern um bolschewistische Methoden: Lüge, Propaganda, Einschüchterung, Repression und Terror. Und wir sollten nicht so tun, als würden wir nicht verstehen, mit wem wir es zu tun haben und wozu diese Menschen fähig sind.
Das ist die Realität, mit der wir jeden Tag konfrontiert werden und mit der wir vielleicht noch lange leben müssen. Und nach den Ereignissen von Januar-Februar 2021 und nach den nächsten Kundgebungen wird es einen sehr schweren Nachgeschmack geben: Es wird Prozesse und schwere Repressionen geben. Russlands derzeitige Regierung ist jenseits des Gesetzes. Es wird also zweifellos ein „Bolotnaja Delo-2“ entstehen, mit entsprechenden normativen administrativen und strafrechtlichen Verschärfungen.
In dieser Situation ist es notwendig, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um sich der Repression zu widersetzen, den Inhaftierten und Verhafteten und ihren Familien zu helfen, alle verfügbaren Mittel zu nutzen, um die Rechte der Menschen zu schützen, politische Gefangene freizulassen – sowohl neue als auch solche, die ihre Strafe in früheren Fällen verbüßen.
Dabei sollte man sich jeglicher Illusionen entledigen und sich klar bewusst sein, wo wir leben.
Es ist symptomatisch, dass Putin, als er über die jüngsten Proteste sprach, die Beschießung des Weißen Hauses in Moskau im Jahr 1993 erwähnte. Damals schlossen sich Kommunisten, Nationalisten, Faschisten und andere verschiedene Andersdenkende im Protest gegen Jelzin und seine Reformen zusammen. Heute wirkt diese Analogie des Präsidenten wie eine Warnung vor der Entschlossenheit der Behörden, vor nichts Halt zu machen.
Optimistische Erwartungen im Lager der Regimegegner gehen davon aus, dass sich die Behörden angesichts eines gewissen Massencharakters und der Hartnäckigkeit der Proteste zurückziehen werden, weil sie sich nicht trauen, groß angelegte und brutale Mittel der Repression einzusetzen. Sie setzen also auf einen gewissen Humanismus des repressiven Systems oder darauf, dass der Kreml sich vor einer Verurteilung von außen hüten wird. In der Realität ist die Situation ganz anders. Die Verhaltensmaßstäbe des Putin-Systems sind Jelzin 1993 und Deng Xiaoping 1989 mit Panzern auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Was Ende Januar und Anfang Februar dieses Jahres auf den Straßen Moskaus und anderer russischer Städte geschah, bestätigt dies.
KORRUPTION ALS AUSREDE
Navalny kehrte absichtlich nach Russland zurück, trotz einer unmissverständlichen Warnung der Behörden vor seiner Verhaftung. Die Entscheidung des Gerichts, Nawalny zu inhaftieren, war politisch. Aber auch die Ersetzung seiner Verurteilung im Fall Kirowles durch eine Bewährungsstrafe im Juli 2013, die Übergabe von Unterschriften an ihn durch die Behörden zur Kandidatur für das Amt des Moskauer Bürgermeisters und das Ignorieren von wiederholten Verwaltungsstrafverfahren und Auslandsreisen als Rechtsgrund für die Ersetzung einer Bewährungsstrafe durch eine echte waren politisch. Alle gerichtlichen und juristischen Entwicklungen mit Nawalny sind politisch motiviert und spiegelten bis vor kurzem, gelinde gesagt, innerelitäre Intrigen und Widersprüche wider. Und für all diejenigen, die zur Unterstützung von Nawalny auf die Straße gegangen sind und weiterhin auf die Straße gehen werden, ist es nützlich zu verstehen, welche gesellschaftlich bedeutenden Rollen er in den letzten Jahren gespielt hat.
Als Blogger und „Auditor“ der oberen Ränge der russischen Macht und Wirtschaft hat Navalny als Indikator gedient, der es ermöglicht, nach der Art der von ihm verbreiteten Informationen über den Untergrundkampf innerhalb der Eliten zu urteilen. Da aber fast jeder in Russland von der Existenz einer gigantischen Korruption überzeugt ist, wurden Nawalnys Enthüllungen positiv wahrgenommen, und der wirtschaftliche Niedergang und die Verarmung der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren erlaubten ein erfolgreiches Spiel mit der Vergrößerung des Wohlstandsgefälles bis zum Abgrund („Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“). Dies umso mehr, als politischer Populismus, der in Nationalismus umschlägt und in der Folge oft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt, mittlerweile ein gefährlicher globaler Trend ist. Russland ist da keine Ausnahme.
Die Ermittlungen Nawalnys hatten und können leider keine praktischen Ergebnisse für die Gesellschaft haben. Alle, die entlarvt wurden, bleiben an ihrem Platz und mit ihrem Geld. Das Problem ist nicht so sehr die uralte Tradition des Diebstahls an der Macht, sondern die Tatsache, dass während der Reformen der 90er Jahre und insbesondere der halbkriminellen (und in einigen Fällen, wie den Hypothekenauktionen, völlig kriminellen) Privatisierung, die auf einer Verschmelzung von Eigentum und Macht basiert, ein System geschaffen wurde, das keine unabhängige Justiz, keine unabhängigen Medien, kein echtes Parlament und keine fairen Wahlen vorsieht. Und ohne eine kategorische Trennung von Eigentum und Wirtschaft von der Macht, ohne Gewaltenteilung, ist der Kampf gegen Korruption unmöglich.
Deshalb ist der wichtigste gesellschaftlich bedeutsame Effekt, auf den die Stilistik von Nawalnys „Exposé“-Filmen abzielt, die Aufstachelung zu primitivem sozialen Unfrieden. Auch das ist nicht neu. Genau das taten die Behörden bereits, als sie Chodorkowski 2003 Yukos entrissen. Das Schüren von Klassenpopulismus in Russland und das Provozieren von Zusammenstößen zwischen Reichen und Armen wird nichts bringen. Nationalistische Kriegstreiberei um des Kampfes gegen Putin willen war eine der Voraussetzungen für den Frühling 2014 – mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine.
Heute hat Putin die Karte der Eigentumsumverteilung noch im Ärmel, aber sie kann jederzeit wieder für seine Zwecke gespielt werden, und zwar wieder mit äußerst negativen Folgen, wenn nicht sogar mit Blut.
Die Menschen in Russland werden nicht nur wegen der Korruption arm. Unsere Bürger verlieren unvergleichlich mehr wegen des Krieges in Syrien und im Donbass, wegen des Wettrüstens und der völlig grenzenlosen, intransparenten und unkontrollierten Ausgaben für den militärisch-industriellen Komplex, wegen der internationalen Sanktionen, gegen die Russland ständig anrennt, aber vor allem wegen der ineffizienten, kostspieligen Wirtschaft des Staatskapitalismus (wenn Gewinne privat und Verluste öffentlich sind). Korruption kann nur durch eine Änderung des Systems wirklich besiegt werden. Deshalb, ich wiederhole es, ist der wirkliche Kampf gegen die Korruption kein Drohnenschuss auf die Anwesen korrupter Beamter, sondern ein politischer Kampf für einen neuen russischen Staat, für eine neue Verfassung, für eine verfassungsgebende Versammlung (siehe Über die Zukunft, Juli 2020).
TERROR
Was den Vergiftungsversuch an Alexej Nawalny betrifft, so ist hier alles sehr ernst. Es muss eine umfassende internationale Untersuchung geben, die keine noch so lauten „Enthüllungen“ auf YouTube ersetzen werden. Es geht überhaupt nicht darum, das stalinistische System zu entlarven, es wird nicht einmal versteckt. So ist zum Beispiel die Verurteilung des Historikers Juri Dmitriev eine unangekündigte und, um die heutige Terminologie zu verwenden, hybride politische Liquidierung eines Mannes, der den Staatsterror untersucht hat. Und nichts wird versteckt – weder die Methoden noch die Teilnehmer.
Allerdings ist die Vergiftung von Navalny nicht nur ein Verbrechen. Es könnte ein Beweis für die Existenz von staatlich sanktionierten Todesschwadronen in Russland sein, die sich am Staatsterror gegen politische Gegner beteiligen. Darüber hinaus bleibt die höchst beunruhigende Frage des Einsatzes eines chemischen Kampfstoffes auf der Tagesordnung. Hier geht es um die glaubwürdige Identifizierung der Täter und Auftraggeber und um die Aufdeckung des gesamten Mechanismus des Verbrechens. Dies ist für die Gesellschaft als Ganzes von entscheidender Bedeutung. Ebenso wichtig ist es, die Ermittlungen zu den Morden an Boris Nemzow, Juri Schtschekotschichin, Timur Kuaschew, Farid Babajew und Larissa Judina abzuschließen und die Morde und Anschläge auf das Leben anderer Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im heutigen Russland zu untersuchen.
POLITISCHER VEKTOR
Navalnys politischer Vektor ist Populismus und Nationalismus. Meiner Meinung nach wurde es am besten von Valeria Novodvorskaya im Jahr 2011 zusammengefasst: Navalny kann „der zukünftige Führer des gestörten Mobs werden, mit einer Nazi-Neigung. „Der Kampf gegen die Korruption“, so Nowodworskaja, „kann zu dem führen, wozu er in Weißrussland bereits geführt hat. Lukaschenko hatte das Volk verführt, indem er von morgens bis abends über den Kampf gegen die Korruption sprach. Und es war leicht, leichtgläubige Weißrussen zu kaufen. Und die unbewusste Intelligenz unterstützte ihn, weil sie dachte, sie könne ihn verdrehen, wie sie wollte. So sehen wir die belarussische Landschaft heute… Verhaftungen sind kein politischer Ablasshandel. Die Bolschewiken wurden ebenfalls inhaftiert, und Dserschinski saß 10 Jahre lang im Gefängnis. Auch Hitler wurde inhaftiert. Schade, dass es nicht 15 Jahre lang war. Vielleicht hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben… Wenn die Massen für Nawalny gehen, kann das Land in Zukunft mit Faschismus rechnen… Die Welle, die sich jetzt erhebt, ist nicht nur gegen Putin. Sie erhebt sich für die undemokratische Zukunft Russlands. Es ist ein Aufstehen für den vergangenen Kommunismus oder für den zukünftigen Faschismus. Und Nawalny ist einer der potenziellen Anführer dieses neuen Untergangs.
Seitdem hat sich überhaupt nichts geändert. Es gibt nichts Positives an Nawalnys Anspruch, mit den Ideen und der Agenda, die er vorschlägt, an der russischen Politik teilzunehmen. Als 2009 der Menschenrechtsaktivist Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa von Neonazis im Zentrum Moskaus ermordet wurden, organisierte Nawalny die „Russischen Märsche“, bei denen zu ethnischem Hass und ähnlichen Morden aufgerufen wurde. Nawalny hat diesen nationalistischen Vektor während des Krieges mit Georgien oder bei der Kommentierung des Krieges im Donbass nicht versteckt (allein sein Gespräch mit Strelkow-Girkin ist erwähnenswert).
Weder Nawalny noch sein innerer Kreis sorgen sich um das zerrüttete Leben der Bürger, die auf ihr Drängen hin zu nicht genehmigten Kundgebungen gingen und im Gefängnis landeten (man denke nur an die Versprechungen von Geldentschädigungen durch den EGMR für die Verhaftungen). Sie befürworten bewusst den kriminellen Einsatz von Minderjährigen für politische Zwecke. Nawalny ist als zielstrebiger Führer nur auf sich selbst fokussiert und zerstört jede Andeutung einer Koalition.
Ob man Nawalny als Politiker unterstützt oder nicht, bleibt also jedem selbst überlassen. Aber es ist notwendig zu verstehen:
Das demokratische Russland, die Achtung des Individuums, die Freiheit, das Leben ohne Angst und ohne Repression sind unvereinbar mit Nawalnys Politik. Es sind grundlegend verschiedene Richtungen.
ART DES PROTESTES
Bei den jüngsten Protesten gab es weder eine organisierte Forderung nach der Freilassung politischer Gefangener (obwohl sich unter ihnen auch solche befinden, die für ihre Teilnahme an den Kundgebungen im Sommer 2019 gegen Fälschungen und den Ausschluss enger Mitarbeiter des FBK-Gründers von den Wahlen verurteilt wurden), noch gab es Forderungen, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Alle Forderungen betrafen ausschließlich die Figur von Nawalny.
In die persönlich orientierte Anti-Putin-Koalition sind alle ohne Unterschied eingeladen: Kommunisten, Nationalisten, Linke, Rechte, … generell alle, außer denen, die für Putin sind. Und das ist keine neue politische Technologie. Es geschah bereits im Oktober 1993 im Weißen Haus.
Man sollte niemals der Masse folgen – egal wie eifrig und aggressiv die Masse ist, egal wie viel Aggression auf diejenigen niedergeht, die „aus dem Takt“ sind und noch weniger auf diejenigen, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen.
Diejenigen Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die heute Angst haben, dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass sie den Protest nicht unterstützen, oder die erwarten, auf dieser Welle zu reiten, sollten schon verstehen, dass genau diese Welle sie hinwegfegen wird.
Aber es ist nicht nur – und in der aktuellen Situation vielleicht auch nicht so sehr – die Gefahr eines nationalbolschewistischen revolutionären Triumphs nach dem Vorbild von 1917. Nawalny scheint nicht mehr Teil des Spiels zwischen den Behörden und der Öffentlichkeit (bzw. ihrem politisch inkompetenten liberal-kreativen Teil) zu sein, das seit 2011 lief. Das bedeutet aber nicht, dass er und seine Entourage sich von ihren bisherigen Bindungen und Abhängigkeiten innerhalb der Regierung befreit haben – das Spiel hat sich einfach geändert. Nawalny und sein Team können unter den Tisch gekehrt werden, während die Ernte von anderen eingefahren wird – und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie aus demselben Putin-System kommt, um es zu schützen oder umgekehrt, um die Fassade zu ersetzen. Es ist wichtig zu verstehen und sich daran zu erinnern, dass Putins System viel größer ist als nur eine Person: Putin hat es nicht begonnen und es wird nicht von selbst verschwinden.
„INFORMATIONSBLASEN“ UND DIE WAHL DER ZUKUNFT
Es ist besonders schwierig, über all das zu sprechen, weil wir in der Praxis mit den Erscheinungsformen der Probleme konfrontiert sind, über die die ganze Welt diskutiert und für die noch keine effektive Lösung gefunden wurde. Das sind die Versäumnisse in der öffentlichen Kommunikation, die aus der Informationsrevolution resultieren, der Zerfall des Informationsraums in radikalisierte Cluster und die Bildung von „Blasen“, deren Bewohner buchstäblich nichts sehen oder hören wollen, was nicht ihrer Sichtweise entspricht. Die Menschen in Russland wollen schon die politische Realität ändern, sie sind müde, sie brauchen Hoffnung.
Navalny schafft ein alternatives Informationsbild für seine Anhänger. Und es geht nicht um Fakten gegen Propaganda oder Wahrheit gegen Lüge. Die Hauptsache in dem Film über „Putins Palast“ ist also nicht der Palast, sondern das Bild von Putin, der vor Navalny und seinen Enthüllungen eine Heidenangst hat. Außerdem war eine der Ideen der Filmemacher, eine assoziative Verbindung zwischen Putin und Janukowitsch zu schaffen, dessen geschmacklos pompöser Wohnsitz zum Symbol für das berüchtigte Ende der Behörden geworden ist. Nur gibt es jetzt eine Klobürste statt eines Goldbrotes. All dies ist ein Verkauf von Emotionen nach den Technologien der Verbraucherwerbung. Schließlich ist es besser, nicht im Land der verlorenen Zukunft zu leben, sondern in der Morgendämmerung des schönen Russlands: „Ich habe den Sonnenaufgang nicht gesehen, aber ich habe verstanden: er ist dabei aufzugehen“.
Dies ist jedoch keine Werbung für ein iPhone oder Turnschuhe, hier geht es um die Zukunft des Landes und all derer, die in ihm leben und leben werden. Es ist zynisch, die Müdigkeit und das Gefühl des Zukunftsverlustes der Menschen für egoistische, auch politische Zwecke zu nutzen. Das nennt man Betrug, und dagegen muss man sich trotz der Schwierigkeiten und unangenehmen Folgen wehren. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Es ist notwendig, mit offenen Augen für die Zukunft zu kämpfen und zu verstehen, dass der Weg dorthin lang und sehr schwierig sein wird.
Unser Land und unsere Landsleute verdienen eine ehrliche moderne Politik, eine Politik des XXI Jahrhunderts. Politik, deren oberste Priorität das Leben und die Würde des Menschen ist.
„WIRD DAS AUSLAND UNS HELFEN“?
Hoffentlich werden die führenden westlichen Demokratien nach dem Schock des Angriffs auf das Washingtoner Kapitol gründlich nach Wegen suchen, die moderne Politik von Populismus und Nationalismus zu säubern – wenn Menschen um die Macht kämpfen, indem sie Hass schüren und die Menge mit Propaganda aufpumpen, wenn reale Probleme von Staat und Gesellschaft nur als Instrumente der Einflussnahme benutzt werden.
Aber unabhängig davon, was der kollektive Westen unternehmen wird, sollte berücksichtigt werden, dass westliche Politiker aufgrund eines systematischen Missverständnisses dessen, was in verschiedenen Teilen der Welt geschieht, schwerwiegende Fehler machen. Schauen Sie sich nur die westliche Politik der letzten Jahrzehnte gegenüber Myanmar an: die Glorifizierung von Aung San Suu Kyi, die Verleihung des Friedensnobelpreises an sie, ihre Rückkehr an die Macht im Jahr 2016, gefolgt von militärischer Repression mit ihrer Duldung, dem Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya im Jahr 2017 und schließlich dem Militärputsch im Januar 2021, der Aung San Suu Kyi hinter Gitter brachte. Aber jetzt hütet sich der Westen, den „Menschenrechtsaktivisten“ aus Myanmar zu erwähnen.
Die politischen Kreise in Europa und den USA bekommen ein immer schlechteres Verständnis für Russland. Und es hat nicht gestern angefangen. Erinnern Sie sich, dass George W. Bush im Juni 2001 in Ljubljana „in Putins Augen schaute“ und „seine Seele spürte“ und in ihm einen „direkten und vertrauenswürdigen Mann“ sah? Es ist also nützlich, die Meinung des Westens zu kennen, aber man sollte sich nicht von ihr leiten lassen.
Außerdem ging es bei dem riesigen Aufruhr, der nach der Vergiftung Nawalnys durch die Welt ging, natürlich nicht um ihn, sondern um eine weitere Runde von Verdächtigungen über den Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch Russland. Davor haben sie im Westen natürlich große Angst, weshalb sie so einen Wirbel um eine bizarre Vergiftung machen. Eine solche Reaktion ist im Kontext eines neuen Kalten Krieges, der zweifellos von Russland und Putin persönlich angezettelt wurde, verständlich. Und hier ist es wichtig, an den Mord an Boris Nemzow im Jahr 2015 zu erinnern. Als politische Figur war Nemzow viel größer als Nawalny, aber im Westen wurde dies als eine interne russische Angelegenheit betrachtet und es gab keine journalistischen Untersuchungen wie heute.
Generell kann der Westen mit seinen formelhaften Ansätzen zur Demokratie, sagen wir, in nicht-demokratischen Regionen an Einfluss verlieren und ganz aus dem Geschäft bleiben, wenn er nicht lernt zu verstehen, was vor sich geht. Im Großen und Ganzen gilt dies auch für Russland. Im Westen werden heute Standardschemata und -lösungen aus den 1990er Jahren auf komplexe und nicht standardisierte Situationen angewendet.
Was die Prozesse in Russland betrifft, so ist die Gleichsetzung von politischer Führung mit dem Besitz von Technologien zur Manipulation des Massenbewusstseins ein Fehler von gestern, der die heutigen Probleme verursacht hat. Es ist eine bösartige Praxis, den Westen als eine entwickelte Demokratie zu bezeichnen, während wir das System Putins haben, gegen das alle Mittel recht sind. Diese Herangehensweise hat ihre Wurzeln in der vorsichtig verächtlichen Haltung der sowjetischen und postsowjetischen Eliten gegenüber dem Volk, das nicht zu einer wirklichen Demokratie „herangewachsen“ ist und ständig eine „Hand“ braucht, die entweder „die Latte hochlegen (Diktator) oder subtil sein kann (Manipulator).
Es kann keine würdige Zukunft aufgebaut werden, wenn wir nicht hier und jetzt eine Haltung gegenüber den Bürgern praktizieren, die dem Russland entspricht, das wir schaffen wollen. Es ist zwingend notwendig, dass der Protest politisch bewusst, zivil im vollen, hohen Sinne des Wortes ist. Die Basis eines solchen Protestes sind Menschen, die sich offen gegen Putins System stellen, aber gleichzeitig den Populismus nicht unterstützen, Nationalismus, Häuptlingstum, bolschewistisches Schüren von sozialem Unfrieden ablehnen und die Ersetzung demokratischer Verfahren und Institutionen durch Pöbelherrschaft und Manipulation nicht akzeptieren. Diese Menschen sind das Rückgrat des Russlands der Zukunft. Wir werden dafür kämpfen, ihre Interessen zu vertreten.
MÜSSEN WIR WIEDER ZWISCHEN ZWEI ÜBELN WÄHLEN?
Es gibt diejenigen, die nicht wissen, was sie tun sollen, nachdem Nawalny ins Gefängnis gekommen ist. Obwohl es nicht schwer zu verstehen ist, dass die Ära der postsowjetischen Modernisierung – der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und Staatlichkeit in Russland – in einer Niederlage endete. Und das formale Symbol dieser Niederlage war die Zerstörung der Verfassung im letzten Sommer zusammen mit der Einrichtung der praktisch ewigen Unabänderlichkeit der unbegrenzten persönlichen Macht.
Dann, im Juli 2020, begann eine neue, düstere Ära. War es möglich, unter diesen Bedingungen etwas anderes zu erwarten als Urteile und harte Repressionen gegen Demonstranten? Ich spreche natürlich nicht von politischen Analysten, sondern von den „reflexiven“ Intellektuellen, die meist aus der Hauptstadt kommen. Früher, in solchen Situationen – zum Beispiel nach der Verhaftung Chodorkowskis – tauchten diese „nachdenklichen“ Bürger, nachdem sie wieder einmal beklagt hatten, dass das Regime „den Tiefpunkt erreicht“ hatte, zuerst in ihre persönlichen Themen und Sorgen ein und begannen dann zu überlegen, wen sie wählen sollten. Heute ist auf der einen Flanke bereits die Partei „Neues Volk“ und auf der anderen die Partei „Für die Wahrheit“ für sie vorbereitet worden. „Autoritäten“ liberal-demokratischen „Aussehens“ werden sowohl für die Mitgliedschaft in diesen Parteien als auch für deren Förderung in ihren jeweiligen Zielgruppen gefunden.
Die Unterstützung offensichtlicher Kreml-Projekte durch „Protestleute“ scheint schon lange nicht mehr unmöglich. Erinnern Sie sich daran, dass direkt nach dem Bolotnaja-Platz im Winter 2011-2012 die Präsidentschaftskampagne des Milliardärs Prochorow stattfand, die ihm Millionen von Stimmen einbrachte, die gleich nach der Wahl zusammen mit seinen Plänen zur Gründung einer neuen Partei den Abfluss hinuntergespült wurden. Es ist klar, dass bei den offensichtlichen Verbindungen des Kandidaten zum Kreml nicht einfach ein Auge zugedrückt wurde. Viele „Demonstranten“ sahen darin fast einen Vorteil – aufgrund ihres Zynismus, ihres politischen Minderwertigkeitskomplexes, ihrer Verachtung für das Volk und ihres tiefsitzenden Paternalismus, ihrer Überzeugung, dass Freiheit nur von oben, von der Schulter des Herrn kommen kann.
Genau wegen dieser Überzeugung wurden die Menschen 1996 dazu gedrängt, für Jelzin zu stimmen und förderten Lebed und 2018 – Sobtschak. Wer weiß, vielleicht im Herbst zur Unterstützung von Nawalny und seine „smart vote“ „reflexive“ Bürger werden für die Kommunisten oder die Just Russland, in Nationalsozialisten verwandelt stimmen – es ist egal, für wen, solange es nicht für „Einheitliches Russland“ (aber für diejenigen, die dort oder auf die LDPR bei der ersten Gelegenheit überlaufen wird).
In diesem Sinne ist die paradoxe emotionale Enttäuschung über den Ausgang des jüngsten Prozesses gegen Nawalny aufschlussreich. Ein anderes Urteil wäre nicht denkbar gewesen. Doch nun bestätigt das Händeringen und Wehklagen über „wie weiterleben?“ nur, dass sie bis zum letzten Moment auf ein weiteres Winken von oben gewartet haben und ihn gehen ließen. Daher der endlose „Jaroslawna-Schrei“, das Gerede über das „liberale System“, die Sorge um Tschubais und die Erwartung einiger noch nie dagewesener persönlicher Sanktionen, woraufhin sich die Oligarchen von Putin gegen ihre Herren erheben werden.
Neidische Stimmen und anschließende Seufzer des „Wer hätte das gedacht?“ begleiten die russische, sozusagen gebildete Klasse seit Mitte der 1990er Jahre. Wenn damals jeder verpflichtet war, Jelzin zu unterstützen, weil der Kommunismus ein Schreckgespenst der Gesellschaft war, erschrecken heute die neuen Propagandisten, die sich Oppositionelle nennen, die Menschen, die der Unbeweglichkeit der Macht und der Korruption überdrüssig sind, mit dem Putinismus.
Sie drängen die Menschen absichtlich dazu, zwischen zwei Übeln zu wählen, erklären aber nicht, dass ein kleineres Übel, das ein größeres überwindet, immer zu einem noch größeren Übel wird.
Und wieder einmal, zum elften Mal in 28 Jahren (dreimal bei den Präsidentschafts- und achtmal bei den Dumawahlen), werden wir eine Alternative anbieten: den Weg zu Freiheit und Würde. Wir werden überzeugen, beweisen, unvorstellbare Gelder für die Teilnahme an der so genannten Wahl sammeln, versuchen, den Betrug einzuschränken, unsere Kräfte sammeln und zu einer grundlegend neuen russischen Staatlichkeit, einer neuen Verfassung und einer Konstituierenden Versammlung übergehen.
WAS IST JETZT ZU TUN?
Um Menschen vor Repressionen zu schützen. Einen politischen Kampf für die Änderung des Systems, gegen das Regime der unabsetzbaren Macht, der autoritären persönlichen Herrschaft zu beginnen. Wir müssen in allem eine Alternative anbieten: im Regierungssystem, in der Wirtschaft, in der Innen- und Außenpolitik.
Es ist an der Zeit, eine ernsthafte personelle Alternative zu bilden, die aus Fachleuten besteht, die in der Lage sind, die Regierung auf eine neue Art und Weise zu führen, die die Freiheit schätzen und die Menschen respektieren, die Russland wirklich lieben und verstehen und nichts mit Nationalismus und Populismus gemein haben.
Um mit dem Aufbau eines neuen Staates zu beginnen, bedarf es einer neuen Verfassung, der Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung, einer tiefgreifenden Wirtschaftsreform zur Beseitigung des ineffizienten staatsmonopolistischen Kapitalismus, der Einführung eines garantierten Grundeinkommens für die russischen Bürger und der Umsetzung von Programmen wie „Landstraßen“ und „Gas in jedes Haus“. Das ist die substanzielle Alternative zu Putins Stillstand.
Es wäre naiv und gefährlich, darauf zu hoffen, dass ein Führer oder eine Gruppe von Führern alles auf einem Silbertablett serviert. Wir müssen uns auf die Politik der Kreativität als gemeinsame Anstrengung einlassen. Dazu müssen Sie endlich einer politischen Partei beitreten, die sich für Ihre Interessen einsetzt. Es ist kein Gefallen, nicht die Erfüllung einer Bitte von jemandem, nicht die Unterstützung von jemandem, es ist nur für Sie und vor allem für Ihre Kinder notwendig.
Wie erreicht man es? Man muss den Menschen Alternativvorschläge vermitteln, sie überzeugen, erklären, ihr Vertrauen gewinnen. Mit anderen Worten: Sie müssen lernen, unter den gegebenen Bedingungen Wahlen zu gewinnen.
Sie fragen sich vielleicht, was das praktisch bedeutet? Hier ist der Aktionsplan.
Es ist notwendig, dass bei den Wahlen im September dieses Jahres mindestens 20 Millionen Menschen für Freiheit und Selbstachtung, also für Jabloko, stimmen – so wie sie sind (übrigens wahrscheinlich die letzten). Das sind diejenigen, die nicht für Putin und nicht für die populistischen Nationalisten sind. Dann gibt es eine Grundlage für den Dialog mit den Behörden, und wir können einen echten Regimewechsel einleiten. Die Menschen werden dann viel sicherer sein und die Polizei wird sich ganz anders verhalten. Dann wird sich Freiheit einstellen, es wird möglich sein, ohne Angst zu leben.
Was dazu benötigt wird:
- Hunderttausende von Beobachtern werden nötig sein, um Massenfälschungen zu verhindern. In Russland gibt es 97 Tausend Wahllokale – das bedeutet, dass wir mindestens 300 Tausend Beobachter (Mitglieder der Kommissionen) brauchen. Melden Sie sich jetzt als Beobachter an! Besuchen Sie eine Schulung und machen Sie sich bereit.
- Werden Sie Unterstützer von „Jabloko“. Unser Unterstützer zu sein bedeutet, Propaganda und Agitation für Freiheit und Gerechtigkeit zu betreiben, für ein Leben ohne Angst, für Frieden und Freundschaft mit den Nachbarn, für die Unverletzlichkeit des Privateigentums und fairen Wettbewerb, für Recht und Rechtsstaatlichkeit, für echten Föderalismus und gegen Korruption, für eine unabhängige Justiz und für viele andere Dinge, die für unser Volk lebenswichtig sind. Wie man das macht, steht in unserem Programm. Erzählen Sie den Leuten davon, agitieren Sie, überreden Sie sie, verteilen Sie Flugblätter und Broschüren. Erklären Sie ihnen, dass die Stimmabgabe für Jabloko die einzige Möglichkeit ist, das Leben zum Besseren zu verändern. Jeder Jabloko-Anhänger muss in den verbleibenden sechs Monaten 50 Menschen mobilisieren, sie zu den Wahlen bringen und eine Verfälschung der Ergebnisse verhindern. Sie tun dies für sich selbst und für Ihre Kinder. Solange es noch friedlich geht, ohne Schlägereien und Prügeleien, ohne Verhaftungen und Prozesse. Tun Sie es!
- Unterstützen Sie die „Jabloko“-Petition für die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen, es werden 20 Millionen Unterschriften benötigt. Ob die Behörden zustimmen werden, die zu Unrecht Verurteilten freizulassen, ist eine Frage, aber sie sollen wissen: Millionen von Menschen fordern dies und werden dafür kämpfen, gegen die Repression kämpfen.
- Wenn Sie unser Programm „Politisches Alternativ-Memorandum“ teilen, werden Sie ein Kandidat bei den Wahlen. Ja, wir nominieren nur und ausschließlich Gleichgesinnte, nicht irgendwen. Denn wir sind verantwortlich für jeden unserer Kandidaten und für seine Leistung als Abgeordneter, wenn er gewählt wird.
- Nehmen Sie an der Arbeit des öffentlichen Verfassungsrates teil. Wir bereiten eine neue Volksverfassung für freie Menschen vor.
- Lernen Sie, richtige Politiker zu sein, kommen Sie in die Jabloko-Bundesschule. Wir teilen mit Ihnen die Erfahrungen und das Wissen, das wir in den 28 Jahren unserer Teilnahme an der russischen Politik gewonnen haben. Das Land braucht Hunderte von professionellen, ehrlichen, nicht korrupten Politikern! Kommen Sie!
- Helfen Sie mit, Spenden für den Wahlkampf zu sammeln. In Kürze werden wir das Fundraising für die Kampagne zu den Wahlen zur Staatsduma der Russischen Föderation ankündigen.
Der politische Kampf im modernen Russland ist eine äußerst komplexe Angelegenheit. Wir wissen und können längst nicht alle – kommen, mitmachen, mitarbeiten, Ideen einbringen. Haben Sie eine Weile Geduld. Wir wünschen uns Ihre ernsthafte Teilnahme. Und wenn wir nicht alles auf einmal organisieren, seien Sie geduldig oder helfen Sie uns, dass es klappt. Sicherlich ist dies besser und klüger als ein Kampf mit der Bereitschaftspolizei.
Und denken Sie daran: Putins System gewinnt, wenn Sie nicht wählen gehen. Das System braucht das NAH-NAH. Das System braucht Künstler, Musiker, Schriftsteller und Rundfunksprecher, noch ein paar Sobtschak und Prochorow, Buzow und Isinbajew, um in die Politik zurückzukehren; Hauptsache, „wir brauchen keine Politiker“. Anstatt sich um eine Partei zu scharen, die seit fast drei Jahrzehnten besteht, gibt es Rufe, etwas mehr zu schaffen – einen „Koordinierungsrat“ oder eine dritte, vierte oder fünfte Kraft. Es werden Dilettanten und Amateure sein. Sie rufen bereits danach, wir können sogar die Namen nennen. Das Ergebnis solcher Aktivitäten ist, wie üblich, Null. In der Zwischenzeit werden die Menschen in Internierungslagern und Kolonien sitzen und das Regime wird gestärkt und lacht mit Stalins Schnurrbart über unsere Dummheit.
Eine letzte Sache. Niemand weiß, an welchem Punkt die wirklichen Winde der Veränderung wehen werden – wenn zig Millionen Menschen im ganzen Land gleichzeitig eine Veränderung wollen, so wie es in den 1980er und 1990er Jahren der Fall war. Unsere Verantwortung ist es, ein fertiges Segel zu haben: einen neuen Verfassungsentwurf, ein Programm für wirtschaftliche Reformen, qualifizierte menschliche Ressourcen und die Fähigkeit, das Segel zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu setzen.
Die Hauptsache ist, dass wir mehr an uns und unsere Mitarbeiter glauben als an irgendwelche Technologien, Algorithmen oder vorgefertigte Rezepte.
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19:07 p.m., 09. Februar 2021
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Antwort an Lev Shlosberg
Autor Sergej Iwanenko stellvertretender Vorsitzender von Jabloko
„Ich bitte Sie – fordern Sie ihn zu einem Kampf heraus.
Natürlich wird er Sie umbringen, aber bis der Prozess vorbei ist,
Sie können träumen, lümmelnd vor dem Kamin,
darüber, wie, durch Zufall oder ein Wunder, auf diese oder jene Weise,
oder dies, oder das, vielleicht, irgendwie,
„oder du wirst ihn vielleicht auch töten.“
Aus „Der Drache“ von E. Shvarts.
Lieber Lew Markowitsch!
Sie beginnen Ihren Brief mit dem Vorwurf, dass kein einziges Ihnen bekanntes Mitglied des Föderalen Politischen Komitees von Jabloko den Artikel „Kein Putinismus und Populismus“ von Grigori Jawlinski kannte. Aber Sie wissen sehr wohl, dass es hier nicht üblich ist, Veröffentlichungen zu koordinieren. In den dreißig Jahren des Bestehens der Partei hat sich diese Frage nie gestellt. Und soweit ich weiß, bekommt man nie die Zustimmung von jemandem für das, was man druckt.
Es gibt nichts in dem Artikel „Kein Putinismus und Populismus“, was nicht schon oft innerhalb der Partei diskutiert wurde und worüber wir nicht schon öffentlich gesprochen haben. Grundsätzliche Dinge wurden vor anderthalb Jahren in einem anderen Artikel von Jawlinski veröffentlicht – „Aktivismus und Politik“.
Was meinen Sie mit öffentlicher Meinung? Wenn Sie über Nawalnys soziologische Bewertungen sprechen, dann sind nach den neuesten Daten des Levada-Zentrums* seine Bewertungen und die Aufmerksamkeit der russischen Gesellschaft für ihn recht bescheiden. Nach den soziologischen Daten zu urteilen, widersprechen die von Jawlinski geäußerten Ansichten also nicht der öffentlichen Meinung.
Wir haben Nawalny wegen seines Nationalismus, seiner „Russischen Märsche“ und seines Bündnisses mit Faschisten (Potkin-Below) aus der Partei ausgeschlossen, und wir haben es nie bereut. Ihre Annahme, dass wir, wenn Nawalny an der Macht ist, in Opposition zu ihm stehen werden, ist zutiefst fehlerhaft, schon allein deshalb, weil, wenn er an die Macht kommt, Leute wie Sie oder wir an der Wurzel zerstört werden.
Was meinen Sie mit „stilistischen Unterschieden“ zu Nawalny? Was hat der Stil damit zu tun? Nawalny ist ein Nietzscheaner, ein Nationalist, ein Gesprächspartner von Militanten (Girkin-Strelkow und Prilepin). Das reicht aus, um uns auf maximale Distanz zu Nawalny zu bringen, egal wie viele Millionen Anhänger er hat.
Was das Thema Leben und Tod des russischen Bürgers A. Nawalny betrifft, so wird in einem Artikel von Jawlinski die Position der Partei in äußerst harschen Worten formuliert. Ich werde dieses Fragment vollständig zitieren:
„TERROR“.
Was den Vergiftungsversuch an Alexej Nawalny betrifft, so ist hier alles sehr ernst. Es muss eine umfassende internationale Untersuchung geben, die keine noch so lauten „Enthüllungen“ auf YouTube ersetzen werden. Es geht überhaupt nicht darum, das stalinistische System zu entlarven, das es selbst nicht einmal versteckt. So ist zum Beispiel die Verurteilung des Historikers Juri Dmitriev eine unangekündigte oder, um die heutige Terminologie zu verwenden, hybride politische Liquidierung eines Mannes, der den Staatsterror untersucht hat. Und nichts wird versteckt – weder die Methoden noch die Teilnehmer.
Allerdings ist die Vergiftung von Navalny nicht nur ein Verbrechen. Es könnte ein Beweis für die Existenz von staatlich sanktionierten „Todesschwadronen“ in Russland sein, die am Staatsterror gegen politische Gegner beteiligt sind. Darüber hinaus bleibt die höchst beunruhigende Frage des Einsatzes eines chemischen Kampfstoffes auf der Tagesordnung.“
Warum Sie meinen, dass „Nawalnys Rückkehr nach Russland die öffentliche Politik in unser Land zurückgebracht hat“ – und seine Freiheit fordern – ist aus Ihrem Text nicht zu verstehen. Glauben Sie, wenn Navalny nicht ins Gefängnis gegangen wäre, hätte es in Russland keine öffentliche Politik gegeben und niemand hätte die Freiheit gebraucht? Das ist eine seltsame Aussage…
In der öffentlichen Politik geht es nicht darum, auf der Straße herumzulaufen und sich mit der Bereitschaftspolizei zu prügeln, das ist eine ganz andere Kategorie. In Russland gibt es keine öffentliche Politik, weil es keine Meinungsfreiheit und keinen politischen Wettbewerb gibt, keine unabhängige Justiz und kein unabhängiges Parlament.
Nawalny ist zweifelsohne ein politischer Gefangener. Dies ist jedoch kein wertendes, sondern ein rechtlich-juristisches Merkmal. Ein politischer Gefangener kann ein Faschist, ein Nazi, ein Kommunist, ein Sozialist, ein Liberaler, ein Demokrat und generell jede Person sein, die für etwas anderes inhaftiert ist als für das, was sie getan hat. Chodorkowski war zum Beispiel ein typischer politischer Gefangener – formal wurde er wegen nicht gezahlter Steuern angeklagt, in Wirklichkeit aber wegen seines Konflikts mit dem Präsidenten.
Was Navalny betrifft, so wurde er 2013 für den Fall Kirowles verurteilt. Und buchstäblich am Tag nach seiner Verurteilung ließ Putin ihn frei, wandelte seine Strafe in eine Bewährungsstrafe um und gab ihm die nötigen Unterschriften, um als Bürgermeister von Moskau zu kandidieren.
Nawalny, der zwei Bewährungsstrafen erhalten hatte, blieb jahrelang auf freiem Fuß, trotz zahlreicher administrativer Verhaftungen und, wie sich kürzlich herausstellte, systematischer (etwa 60-maliger) Weigerung, sich bei der Strafvollzugsinspektion zu melden.
Als unser Parteifreund und Kuban-Umweltschützer Evgeny Vitishko, der übrigens einer der ersten war, die über Putins Palast in Gelendzhik sprachen, sich einmal nicht meldete, reichte das, um aus seiner Bewährungsstrafe eine echte zu machen.
All dies zeigt, dass alles, was sich seit 2008 um Nawalny herum abgespielt hat, völlig unrechtmäßig war. Das Gleiche gilt für die aktuelle Situation. Sie haben Recht, Nawalny ist einer von 369 politischen Gefangenen. Aber da endet meine Übereinstimmung mit Ihnen.
Nawalny ist ein Politiker, und er ist für seine politische Position verantwortlich, auch wenn er im Gefängnis sitzt. Chodorkowski war ein Geschäftsmann, und das ist eine ganz andere Geschichte.
Warum sollte es unethisch sein, Navalny aufgrund der Tatsache zu beschimpfen, dass er im Gefängnis sitzt? Gefängnis für einen populistischen Politiker ist Hefe für das Wachstum der Glaubwürdigkeit in der Menge. Die falsche und unmenschliche „Autorität“ von Uljanow, Dshugaschwili, Schicklgruber wurde gerade deshalb geschaffen, weil die Liberalen der damaligen Zeit es als „taktlos“ ansahen, diejenigen mit dem Status eines politischen Häftlings scharf zu kritisieren.
Nawalny wusste, dass er, wenn er nach Russland käme, ins Gefängnis käme. Er entschied sich zu kommen und sich zu setzen. Dies ist eine Taktik seines politischen Spiels. Das Gefängnis wird von Navalny benutzt, um Unterstützung zu generieren und zu versuchen, alle Kritiker, die nicht vom Kreml sind, zum Schweigen zu bringen.
Hier ist, was Volkov sagte, als er Navalnys Plan am 4. Februar äußerte:
„Es gab kein Mitleid für irgendetwas, in der Tat nahm ich eine riesige moralische Last auf mein Herz… Ich gab allen unseren Mitarbeitern des Hauptquartiers einen Befehl, eine Anweisung, dass, Leute, ihr müsst für eine lange Zeit in spezielle Haftzentren gehen, weil die Organisation dieser Kundgebungen unweigerlich mit Verhaftungsartikeln für alle unsere Koordinatoren verbunden war, weil sie alle als Organisatoren genommen wurden, sie wurden alle genommen und eingesperrt…
Aber ich habe verstanden, dass diese Situation, müssen wir die maximale öffentliche Aufmerksamkeit sowohl in Russland und außerhalb dieses Falles um Alexej Nawalny, diese Verhaftung und diese ungezügelte Prozess zu gewinnen. Wir müssen die Aufmerksamkeit so weit wie möglich bündeln, um maximale Unterstützung zu erhalten. Dass Millionen von Menschen sehen, was passiert und eine Erleuchtung haben, um sich aus den Fängen des Putinismus und der Propaganda zu befreien. Wir hätten also schon damals alles in den Ofen werfen sollen.
Obwohl es eine schreckliche Entscheidung war, den Leuten zu sagen: Ihr werdet mit der Kavallerie gegen die Panzer gehen, ihr werdet auf allen Kanälen des Hauptquartiers schreiben, dass wir morgen eine Kundgebung abhalten, wissend, dass die Eshniks hinter euch her sein werden und ihr verhaftet werdet. Aber wir hatten keinen anderen Ausweg, wir mussten das tun, weil wir am 23. und 31. Januar vor der Gerichtsentscheidung, vor dem Urteil, eine große soziale Konsolidierung erreichen konnten.
Und wir haben es zu einem furchtbar hohen Preis erreicht – Dutzende unserer Arbeiter wurden verhaftet, Hunderte von Menschen wurden in Moskau verhaftet, unter schrecklichen Bedingungen in Sacharow, 12.000 Menschen wurden inhaftiert. Niemand würde einen solchen Preis zahlen wollen. Es ist schrecklich, dass wir das bezahlen müssen. Es ist furchtbar, dass Putin das Land in eine solche Situation gebracht hat, dass es einfach so viel kostet, friedliche Menschen auf die Straße zu bringen: Hunderte von Menschen, die geschlagen wurden, einige Anklagen, alle Arten von einfach ungeheuerlichen Dingen. Es ist sehr schmerzhaft und schlimm.
Aber es hatte seinen Sinn, denn wir sammelten die öffentliche Meinung zu unseren Gunsten auf unserer Seite, bevor das Urteil gefällt wurde. Und wir haben Millionen von Zuschauern und Millionen von Menschen, die schockiert sind von dem, was sie gesehen haben. Und sie haben zugeschaut, weil wir mit unseren Veranstaltungen darauf aufmerksam gemacht haben. Und jetzt sind diese Millionen von Menschen, die von Putin enttäuscht waren, mit uns oder werden mit uns sein, werden mit uns sein bei der Smart Vote.
Das heißt, sie wussten, dass dies geschehen würde, warnte ihre Zentrale (aber nicht andere potenzielle Demonstranten), „warf in diesem Feuersturm“ alles, um diese „Aktivitäten“ Aufmerksamkeit auf den Prozess von Navalny zu gewinnen, zu dem er absichtlich kam.
Dies ist eine ungeheuerliche, kannibalistische Taktik. Warum sollten wir ihm folgen?
Nawalnys Plan spricht von der Fortsetzung der Straßenaktionen im Frühjahr, also in ein paar Wochen. Wir haben bereits Tausende von Häftlingen und Dutzende von offenen Strafverfahren, die sicherlich in einem neuen Fall auf dem Bolotnaja-Platz enden werden, aber in einem viel größeren Maßstab. Die Menschen werden mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit bezahlen, das Land wird mit seiner Zukunft dafür bezahlen, dass es „Aufmerksamkeit“ auf Nawalny lenkt, und wir werden uns zurücklehnen und zusehen und nichts sagen? Ich bin gegen diese Taktik. Es ist verachtenswert und sinnlos und führt unter anderem die Gesellschaft in tiefste Enttäuschung. Ein Politiker ist verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, wenn die Ereignisse eintreten, nicht irgendwann später.
Man schlägt keinen Mann, der am Boden liegt? Nawalny legt sich nicht hin. Er führt die Proteste vom Gefängnis aus an.
Was Sie dann schreiben, kann ich leider nicht nachvollziehen. Für Jabloko ist in dieser Situation der Schutz der Menschen das Wichtigste: nicht zuzulassen, dass sie unter die Schlagstöcke der Bereitschaftspolizei gedrängt und in Haftanstalten geschickt werden. Genau das ist der Grund für diesen Artikel – die Menschen vor Repression und Willkür, vor Provokationen und Strafverfahren zu schützen.
Ich wiederhole, Jawlinskis Artikel hat niemanden verletzt – nicht Nawalny, nicht das Volk. Es ist klar, dass es Ihnen um Stimmen bei Wahlen geht, die keine Wahlen mehr sind, während es dem Autor von „Kein Putinismus und Populismus“ um das Leben und die Gesundheit der Bürger in dieser Situation geht. Für Sie sind es WÄHLER und für Jawlinski sind es MENSCHEN! Das ist der Unterschied, Lev Markovich. Das ist genau der Grund, warum Sie den Artikel „Ohne Putinismus und Populismus“ nicht verstanden haben.
Ich denke, dass Jabloko sich seiner Verantwortung gegenüber seinem Volk, gegenüber unserem Land und sogar gegenüber der Geschichte voll bewusst ist. Sonst wäre die Partei schon längst in Vergessenheit geraten.
Sie haben völlig Recht – die Forderungen unserer Partei sind bereits deklariert und werden von den Menschen gut verstanden. Unsere Forderungen sind übrigens breiter und präziser als Sie in Ihrem Brief angegeben haben. Unsere Ziele umfassen (um Jawlinski zu zitieren):
Sie erfordert eine zuverlässige Identifizierung derjenigen, die sie angeordnet und ausgeführt haben, und die Offenlegung des gesamten Mechanismus des Verbrechens. Sie ist lebenswichtig für die gesamte Gesellschaft. Genauso wie es notwendig ist, die Untersuchung der Morde an Boris Nemzow, Juri Schtschekotschichin, Timur Kuaschew, Farid Babajew, Larissa Judina abzuschließen, die Morde und Anschläge auf das Leben anderer Politiker und öffentlicher Persönlichkeiten des modernen Russlands zu untersuchen“.
Darüber hinaus halten wir es für absolut notwendig:
„Entfesseln Sie einen politischen Kampf zur Veränderung des Systems, gegen das Regime der unabsetzbaren Macht, der autoritären persönlichen Herrschaft. In allem eine Alternative zu bieten: im Staatssystem, in der Wirtschaft, in der Innen- und Außenpolitik. … um auch eine ernsthafte personelle Alternative zu bilden – von Fachleuten, die fähig sind, den Staat auf eine neue Art zu führen, die die Freiheit schätzen und die Menschen respektieren, die Russland wirklich lieben und verstehen und nichts mit Nationalismus und Populismus gemein haben“.
Sie schreiben richtig, dass beim Aufbau einer „breiten öffentlichen Koalition auf der Basis von Jabloko und maximaler öffentlicher Unterstützung“ die Werte der Freiheit, des Respekts vor den Menschen und des menschlichen Lebens nicht geopfert werden dürfen. Das ist genau der Grund, warum Jawlinski schrieb, dass Nawalny und ich unseren Weg nicht gehen werden, weil die Nationalisten keinen Respekt vor Menschen und menschlichem Leben haben und haben können. Das heißt, es gibt sie zwar, aber nicht für jeden. Und das wissen wir aus unserer Erfahrung mit Nawalny.
Was die wichtigen Worte in den letzten fünf Absätzen Ihres Briefes betrifft, so stimme ich persönlich völlig zu. So werden wir handeln.
P.S. Übrigens ist es interessant, dass Sie und Grigorij Aleksejewitsch Ihre Inschriften sehr genau gewählt haben. In „Requiem“ schrieb Anna Achmatowa über die siebzehn Monate, die sie während der schrecklichen Jahre des Jeschew-Systems in den Gefängnisschlangen verbrachte. Die Aufgabe eines Politikers, Lev Markovich, ist es nicht, in Gefängnisschlangen zu stehen, sondern den Menschen den Weg in die Freiheit zu zeigen und zu widersprechen, wenn sie sich irren.
Der Epigraph zu Jawlinskys Artikel ist politisch und Ihrer ist poetisch. Genau der gleiche Unterschied zwischen seinem Artikel und Ihrem Brief.
Original
* von den russischen Behörden als ausländischer Agent anerkannt
[1] Girkin-Strelkow, Kommandant in den Kämpfen um Donez; Prilepin, Autor, Mitglied des nationalbolschewistischen Partei
COMMENTS
Dass der „Fall Nawalny“ auf allen Ebenen instrumentalisiert wird, zeigt auch die jüngste Teilnahme des deutschen und des amerikanischen Botschafters an einer Gedenkfeier für dessen „Vorgänger“ Boris Nemzow in Moskau. Die Bundesregierung hat das scheinheilig damit begründet, „dass es zu den Aufgaben der Botschaft gehöre, sich über das Land zu informieren“. Und die USA haben schon vor einiger Zeit den Straßenabschnitt vor der russischen Botschaft in Washington umbenannt in Boris-Nemzow-Bouleward, „ein Schuft, wer Böses dabei denkt“.
Kann diesen Namen ( Nawalny) schon nicht mehr hören!!! Was bildet dieser Her sich eigentlich ein??? Und die EU ist auf seiner Seite und geben diese unerwünschte Person auch noch einen Rahmen, wo er sich profilieren kann.
Sein angeblicher Sprecher ist hoch erfreut, dass sich die EU und auch andere Staaten sich den Sanktionen anschließen. Wer finanziert bzw. unterstützt diese Gruppe??????Vermutet wird, das die USA und andere Institutionen diese Gruppe unterstützt, sowie bei den Umbruch in der Ukraine!!!!
Man sollte diesen Herrn nach seiner Haftstrafe umgehend ausweisen und als unerwünschte Person keinen Anlass mehr in die Russische Föderation zurück zu kehren!!!! Siehe Herr Chorodowski!!! Dies sollte man ganz nüchtern betrachten und ein Dogma setzen!!!!
Den Namen Nawalny werden wir noch lange zu hören bekommen. Denn er handelt nicht nur aus eigenem Antrieb sondern ist zum Spielball antirussischer geostrategischer Interessen der USA, der EU und der NATO geworden. Selbst unser Biedermann Herr Bundespräsident Steinmeier fordert jüngst geschichtsvergessen und völkerrechtwidrig „die umgehende Freilassung von Nawalny und die Rückgabe der Krim an die Ukraine“.