Man möchte sehnsüchtig zum Himmel hoch blicken und welche Instanz auch immer anflehen. Um sich zu wünschen, dass der seit langer Zeit eingeübte Brauch erstürbe, alle und alles nach einem fiktiven Wertemaßstab zu beurteilen, der vor allem eines garantiert: die überzogene, in keinem Verhältnis stehende Reaktion auf andere Sichtweisen. Das einzige Maß, das sich aus dieser Übung ableiten lässt, ist das der Empörung. Bei einem einzelnen Individuum in unseren Breitengraden spräche man von einer Adoleszenzkrise. Aber wie soll das Phänomen genannt werden, wenn es sich um eine ganze Gesellschaft handelt?
Da ist zum einen die Übersteigerung der individuellen Befindlichkeit und ihre Erhebung zum Maß aller Dinge. Und genau das ist ein Kriterium für den Prozess des Erwachsen-Wederns. Da kommt das vor. Und es gilt als ein Erfolg der Sozialisation, wenn diese hormonell bedingte Übersteigerung zugunsten einer realistischen Einschätzung der eigenen Existenz im Konsortium eines sozialen Ensembles zurück gedrängt werden kann.
Und zum anderen ist es die Absenz einer jeden Form von Rationalität. Rationalität im gesellschaftlichen Sinne. Wo es nicht um Befindlichkeit, sondern um berechtigte Interessen geht. Die im Ensemble austariert werden müssen und die als Grundlage eines Modus Vivendi zu gelten haben.
Diese zwei Kleinigkeiten trüben zur Zeit die Urteilskraft. Zuviel Emotion und zu wenig Verstand. Und die nicht vorhandene Urteilskraft für gesellschaftliche Zusammenhänge und ihr Wirken strahlt in voller Kraft auf die Welt, die betrachtet wird. Gerade in diesen Tagen wird deutlich, dass die wie auch immer generierte Emotion das Urteil nach den eigenen Interessen unbarmherzig ertränkt.
Da mag man nur hoffen, dass so manches Phänomen, das sich vor den Augen der überhitzten Betrachter entfaltet, so schockiert und beeindruckt, dass der tief im Innern schlummernde Selbsterhaltungstrieb erwacht und zu einem kühlen Urteil rät. Denn, auch das weiß diese Instanz, Panik ist nicht nur die schlechteste mögliche Ratgeberin, sondern, ganz im Gegenteil, nahezu eine Garantie für das größt mögliche Desaster. Wäre es nicht so banal, müsste man den Rat geben, sich an der Natur zu orientieren. Da heißt Panik Tod.
Aber, kann man mehr als appellieren? Zu hoffen und zu bitten, sich zu besinnen, tief durchzuatmen und nach den eigenen Interessen zu entscheiden? Nein. Aber darum geht es. In einer der wohl emotional überhitztesten Phasen der Republikgeschichte stehen Wahlen an. Und es geht um sehr viel. Jeder möge sich seiner tatsächlichen, existenziellen Interessen besinnen und dann entscheiden, wer das Potenzial hat, sie zu vertreten. Und seine Urteilskraft nicht kaufen lassen vom Ressentiment. Weder vom einen noch vom anderen! Von keinem! Und kalt kalkulieren wie eine Registrierkasse. Gefühl bei Wahlen zeugt davon, nicht erwachsen zu sein. Alle großen Zivilisationen haben gezeigt, wie das geht. Davon sind wir im Moment sehr weit entfernt. Auch das sollte uns bewusst sein. Wir sind nicht in der Position, anderen Ratschläge zu erteilen. Es ist zu zeigen, was verstanden wurde. Und was nicht. Ambition ohne Demut garantiert die Katastrophe.
Nun gehts hinaus und wählt!
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Die Mehrheit hat für Aufrüstung und Fortsetzung des Stellvertreterkrieges Deutschlands und der NATO gegen Russland in der Ukraine gestimmt und muss wie 1918 und 1945 die Folgen tragen.
„Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn.
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen…
Der Staat muss untergehen früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“
Mit dieser Beurteilung der „Mehrheit“ weist Friedrich Schiller in seinem „russischen“ Demetrius-Dramenfragment darauf hin, dass der polnische Sejm 1605 trotz eines gerade mit Russland geschlossen Friedensvertrages dafür gestimmt hat, den betrogenen Betrüger Demetrius mit einem polnischen Heer und dem Segen Roms auf den Zarenthron zu bringen – und scheitert.