Putin forever?Eberhard Schneider

Putin forever?

[von Eberhard Schneider] Der russische Präsident Wladimir Putin ist mächtiger als es Leonid Breschnew war, denn er ist keinem staatlichen Organ rechenschaftspflichtig. Der Generalsekretär der „Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ war in die kollektive Führung des 15köpfigen Politbüro eingebunden, dem die obersten Funktionäre des Parteiapparats angehörten und die wichtigsten Minister. Er hatte dort zwar die stärkste Position, musste aber für seine Politik letztlich doch die Zustimmung dieses obersten Machtgremiums der Partei erreichen. So wurde Generalsekretär Nikita Chruschtschow nach seinem fehlgeschlagenen Kuba-Abenteuer im Oktober 1962 – versuchte Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba zur Bedrohung der USA – im Oktober 1964 von allen seinen Ämtern enthoben. Das Hauptmachtinstrument des russischen Präsidenten ist das Dekret, mit dem er alle Fragen entscheiden kann, die nicht durch die Verfassung oder durch Gesetze geregelt sind und das keine Billigung durch irgendein staatliches Organ benötigt.

Das einzige Machtkorrektiv ist die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre mit nur einer Wiederwahlmöglichkeit und die Impeachmentmöglichkeit, aber nur im Fall des Hochverrats oder eines anderen schweren Verbrechens. Das ist ein schwieriges mehrstufiges Verfahren, in das die beiden Parlamentskammern, die Staatsduma und der Föderationsrat (2/3 Mehrheit erforderlich), das Oberste Gericht und das Verfassungsgericht eingebunden sind. Durch die Verfassungsänderung von 2020 wurden die bisherigen vier Präsidentenamtszeiten Putins auf null gesetzt, so dass er nach dem Auslaufen seiner gegenwärtigen Amtszeit 2024 erneut kandidieren kann und danach 2030 ein zweites Mal, also bis 2036 als Präsident amtieren könnte.

Putin möchte zwar bezüglich des politischen Einflussbereichs die Sowjetunion 2.0 wiederherstellen[1], aber nicht deren Ideologie wiederbeleben, denn ihm geht es um reinen Nationalismus. In der Sowjetunion stellten die Russen 53 % der Bevölkerung, im heutigen Russland sind es 80 %. 2009 besuchte Putin das Grabmal des Kommandeurs der Weißen Armee, die im Bürgerkrieg gegen die Rote Armee der Bolschewiki kämpfte und verlor, General Anton Denikin (1872-1947) im Moskauer Donskij-Kloster, und legte dort einen Kranz nieder. Gern zitiert Putin den Philosophen und Schriftsteller Iwan Iljin (1883-1954), der ein Anhänger der Weißen Armee und Slawophiler war, der Westler entgegensetzte Position des Panslawismus.

Der langjährige Spindoktor Putins, Gleb Pawlowskij, der nach 15 Jahren 2011 in Ungnade fiel, weil er sich öffentlich für eine zweite Präsidentenkandidatur von Dmitrij Medwedew ausgesprochen hatte, erklärte am 31. März 2022 in einem Interview in „Georgia Today“ zu Putin folgendes[2]: „Ich denke, wir können sagen, dass er mit der Ukraine in eine Falle getappt ist, dass die Entscheidung keinen politischen Sinn ergibt, sie ist verrückt. Das ist alles Putins persönliche Entscheidung… Niemand, einschließlich mir selbst, war sich bewusst, wie wahnsinnig besessen Putin von der Ukraine gewesen sein muss…Die Ukraine sollte ein Hebel sein, um den Westen zu einer Diskussion über Sicherheitsfragen zu drängen. Es ist ein Strategiespiel. Aber ich war verblüfft zu sehen, wie er alle Verhandlungsmöglichkeiten über die echte Sicherheit Russlands wegwarf und sich stattdessen für dieses seltsame Pogrom entschied, das er eine ‚besondere militärische Operation‘ nennt.“

Pawlowskij beschreibt Putin so: „In seiner eigenen Vorstellung hat er sich über alles und jeden erhoben und blickt auf jeden herab, mit dem er spricht. Ich kann mir vorstellen, wie er Macron verspottet, der fast jeden Tag mit ihm spricht. Er hat diesen Glauben an sein eigenes Glück und denkt wahrscheinlich, dass er noch eine weitere göttliche Glückssträhne haben wird. Er glaubt an seine große Mission – ich bin mir absolut sicher, dass er sich für größer hält als alle Helden der russischen Geschichte zusammengenommen. So kann er es sich leisten, niemanden zu beachten und weiter zu gehen, um seine Mission zu erfüllen. Ich glaube nicht, dass er ein rationales Verständnis für diese Situation hat.“

Pawlowskij geht nicht davon aus, dass sich die Oligarchen gegen Putin erheben werden. „Oligarchen haben Russland nie regiert, nicht einmal in Zeiten des schwachen Jelzin. Sie haben immer gegen die herrschende Macht verloren.“ Und wer könnte auf Putins Thron spekulieren? „Sein gesamter innerer Kreis. Sie sind keine Idealisten, sie haben ihre eigenen Pläne für diesen Thron. Sie alle warten auf den Übergang. Und es macht Putin tatsächlich ziemlich nervös, von Menschen umgeben zu sein, die sich nach seinem Thron sehnen. Vor allem wenn man bedenkt, dass der Großteil des Tagesgeschäfts des Landes von ihnen und nicht von ihm erledigt wird. Wenn jemand denkt, dass Putin sitzt und die Wirtschaft oder das öffentliche Leben des Landes leitet, dann ist das einfach nur lächerlich. Putin ist eigentlich kein fleißiger Typ. Und er fand sich in der einzigen Dimension wieder, in der er völlig unabhängig von irgendjemandem sein kann – …… Und er stürzt kopfüber darauf zu und reißt andere mit sich.“ Pawlowskij geht für die Zeit nach Putin von einem „kollektiven Management“ aus, „weil jeder von ihnen Angst und Widerwillen haben wird, dem anderen Platz zu machen.“ Für Pawlowskij ist klar: „Putin wird auf die eine oder andere Weise verschwinden, aber das System wird bleiben.“

Der Förderer des Konzepts „Großeurasien“, Sergej Karaganow, Wissenschaftlicher Leiter der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der „Nationalen Forschungsuniversität-Hochschule für Wirtschaft“ in Moskau, die der russischen Regierung untersteht, und Ehrenvorsitzender des „Rates für Außen- und Verteidigungspolitik“, geht in seinem Interview in der britischen Zeitschrift „New Statesman“ am 2. April 2022 davon aus, dass es in der einen oder anderen Weise zu einer Teilung der Ukraine kommen werde[3]: „Russland kann es sich nicht leisten zu ‚verlieren‘, also brauchen wir eine Art Sieg. Und wenn es das Gefühl gibt, dass wir den ….. verlieren, dann gibt es meiner Meinung nach durchaus die Möglichkeit einer Eskalation. Dieser ….. ist eine Art Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und dem Rest – Russland ist, wie es in der Geschichte der Fall war, die Spitze ‚des Rests‘ – für eine zukünftige Weltordnung. Der Einsatz der russischen Elite ist sehr hoch – für sie ist es ein existenzieller ……“

Karaganow nimmt an, dass Putin den Waffenfluss in die Ukraine zu stoppen versuchen werde, was die Wahrscheinlichkeit eines direkten Zusammenstoßes zwischen Russland und der NATO steigen lasse. „Als Historiker weiß ich, dass Artikel 5 des Nato-Vertrags wertlos ist. Nach Artikel 5, der es einem Staat erlaubt, andere Mitglieder des Bündnisses um Unterstützung zu bitten, ist niemand verpflichtet, tatsächlich für andere zu kämpfen. Aber niemand kann absolut sicher sein, dass es nicht zu einer solchen Eskalation kommt. Ich weiß auch aus der Geschichte der amerikanischen Atomstrategie, dass die USA Europa wahrscheinlich nicht mit Atomwaffen verteidigen werden. Aber hier besteht immer noch die Möglichkeit einer Eskalation, also ist es ein abgrundtiefes Szenario, und ich hoffe, dass eine Art Friedensabkommen zwischen uns und den USA und zwischen uns und der Ukraine erreicht werden kann, bevor wir uns weiter in diese unglaublich gefährliche Welt begeben.“ Werden die USA eingreifen? „Ich glaube also nicht, dass Amerika möglicherweise eingreifen könnte, aber wir befinden uns bereits in einer viel gefährlicheren Situation als noch vor einigen Wochen. Und Artikel 5 setzt keine automatischen Verpflichtungen voraus.“

Ein Nicht-Sieg Russlands oder seine vermeintliche Niederlage wäre eine existentielle Gefahr für Russland und würde zur Eskalation führen „hin zu Konflikten in anderen Gebieten außerhalb der Ukraine“ und zum „möglichen Einsatz von Atomwaffen“.[4]

Was ist zu erwarten?

  1. Die russische Bevölkerung wird Putin nicht stürzen, weil sie sich infolge der permanenten einseitigen staatlichen Propaganda in einer Art Festungsmentalität befindet und alle Schuld für den ….. der Ukraine und dem Westen, für den diese ihrer Meinung nach kämpft, zuschiebt.
  2. Die Oligarchen werden Putin nicht stürzen, weil sie ihren großen Reichtum letztlich der Nähe zu Putin verdanken und im Kampf gegen die Politik immer verloren haben.
  3. Die verschiedenen Geheimdienste werden Putin nicht stürzen, weil sie sich gegenseitig zutiefst misstrauen.
  4. Die Militärs werden Putin nicht stürzen, weil sie immer unpolitisch waren und die Geheimdienste nicht ausstehen können, die sie kontrollieren.
  5. Mögliche Variante: Mittelfristig müssen infolge der Wirkung der Sanktionen immer mehr Sozialleistungen abgebaut werden, wogegen die Menschen dann massenweise fortlaufend protestieren werden. Die Geheimdienste bewegen schließlich Putin – Reizfigur für den Westen – zum Rücktritt, um den Wechsel an der Staatsspitze selbst organisieren zu können. Es könnte sein, dass sie Dmitrij Medwedew als Präsidenten installieren, der im Westen besser angesehen ist als Putin, in der Hoffnung, dass der Westen beginnt, schrittweise Sanktionen abzubauen.

[1]                Vgl. meine Kolumne vom Januar 2022 „Sowjet-Nostalgie“

[2]                https://georgiatoday.ge/putins-ex-advisor-glebovsky-putin-stepped-into-a-trap-with-ukraine/

[3]                https://www.newstatesman.com/world/europe/ukraine/2022/04/russia-cannot-afford-to-lose-so-we-need-a-kind-of-a-victory-sergey-karaganov-on-what-putin-wants

[4]                Die russische Militärdoktrin von 2014 setzt den Ersteinsatz von Atomwaffen bei existentiellen Bedrohung Russland vor (http://www.rg.ru/2014/12/30/doktrina-dok.html)

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