Schere zwischen Arm und Reich wird größerSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Schere zwischen Arm und Reich wird größer

Die Zeitung „Wedomosti“ teilte am 21. Oktober 2019 als ein Ergebnis der Vermögensumfrage der Credit Suisse mit, dass in Russland die Einkommensungleichheit im Laufe eines Jahres (vom Juli 2018 bis Ende Juni 2019) um 1 % zugenommen hat.[1] 10 % der Russen besitzen 83 % des Gesamtvermögens aller russischen Haushalte. Dieser Anteil sei deutlich höher als in anderen großen Volkswirtschaften: In den USA beträgt der Anteil des nationalen Reichtums, den zehn Prozent der Reichsten besitzen, 76 %, in China 60 %. Zudem ist die Zahl der Milliardäre in Russland von 74 auf 110 Personen gestiegen.

Am 28. Oktober 2019 berichtete die Zeitung „Wedomosti“ über die Untersuchung „Unpolitischer Proteste in den Regionen“ der Moskauer „Agentur für politische und wirtschaftliche Kommunikation“ (APEK)[2], wonach die Anzahl der sozialen Proteste zunehmen wird und dass sie politisiert sein werden.[3] Darüber hinaus stellten die Experten einen Trend hin zu einer breiteren Einbeziehung von Menschen in die Protestagenda fest, die weit von der Politik entfernt sind.

Die allgemeine Struktur und Dynamik regionaler unpolitischer Proteste in Russland wurde auf der Grundlage der Ergebnisse der letzten eineinhalb Jahre folgendermaßen analysiert:

  1. Die Situation des Protestes hat sich in vielen Fällen in Massenkampagnen mit regelmäßigen Kundgebungen und Streikposten verwandelt, deren Intensität sich in Wellen entwickelt. Zuerst ist die Kampagne gegen die Rentenreform zu nennen, die bisher nicht vollständig von der Tagesordnung verschwunden ist, dann die Kampagne gegen die „Müllreform“ und gegen die Initiative, Anlagen zur Behandlung radioaktiver Abfälle in einer Reihe von Regionen einzusetzen. Im Februar begannen landesweite Proteste unter dem Motto „Russland ist kein Müll“ (Unzufriedenheit mit dem Bau von Müllverbrennungsanlagen und neuen Deponien). Am massivsten wurde im Gebiet Archangelsk protestiert, wo der gesamte Moskauer Müll abgelagert werden solle. Und in vielen anderen Regionen (Kasan, Saratow, Krasnojarsk, Kaliningrad) fanden Kundgebungen statt, an denen Tausende von Protestierende teilnahmen.
  2. Es zeichnet sich eine Tendenz ab, die territoriale Lokalisierung des Protestes durch die Stärkung der horizontalen Solidarität zu überwinden. So wurde der Protest gegen die Deponie in Schijes im Gebiet Archangelsk nicht nur von den Regionen des Nordens, sondern auch von den Bewohnern von Moskau, St. Petersburg und anderen Regionen unterstützt.
  3. Die Teilnahme an den Protestkundgebungen entspricht nicht dem Umfang der Tagesordnung. Die Agenda der Protestkundgebungen wird viel breiter als ursprünglich angekündigt. So klingen in fast allen Protestkundgebungen Parolen gegen die Renten- und die Müllreform an. Der offensichtliche negative kumulative Effekt der sozio-ökonomischen Politik des Staates als ganzer ist spürbar. Andererseits können Situationsprobleme als direkte Mobilisierungsfaktoren dienen.
  4. Stabilere Bestrebungen nach neuen Organisationsformen und die Spezifität von Ansprüchen an die Macht deuten auf die Wahrscheinlichkeit einer Politisierung des Protestes hin, unabhängig von der Art seines ursprünglichen Inhalts.
  5. In der ersten Hälft des Jahres 2019 fanden landesweit mehrere hundert Proteste statt, hauptsächlich soziale Proteste, in geringem Umfang Umwelt- und Arbeitsproteste. Aktionen im großen Maßstab fanden dann statt, wenn die sozialen Probleme durch Umweltrisiken verstärkt wurden wie im Fall der Müllreform. Wenn gewöhnlich die Zahl der Teilnehmer bei lokalen Aktionen zehn beträgt, steigt sie dann bei offensichtlichen Umweltrisiken auf hunderte oder sogar tausende.
  6. Die derzeitige Dynamik unpolitischer Proteste in den Regionen lässt vermuten, dass die Zahl der Proteste in naher Zukunft nicht geringer ausfallen wird.

Laut einer Umfrage des Moskauer Lewada-Zentrums im August 2019 (22.-28.8.2019 1.608 Personen über 18 Jahren in 137 Bevölkerungspunkten in 50 Föderationssubjekten) beunruhigten die russische Gesellschaft folgende Probleme (über 10 % in Rangfolge)[4]: Preisanstieg 59 %, Armut, Verarmung des Großteils der Bevölkerung 42 %, Korruption und Bestechung 41 %, Anstieg der Arbeitslosigkeit 36 %, nicht ausreichender Zugang zu medizinischer Versorgung 30 %, scharfe Schichtung von Armen und Reichen, ungerechte Einkommensverteilung 29 %, Umweltverschmutzung 24 %, Wirtschaftskrise, Produktionsrückgang in Industrie und Landwirtschaft 24 %, Verteuerung von und Unzulänglichkeit der Bildung 22 %, Ansteigender Drogenkonsum 20 %, Anstieg der Migration 18 %, Krise von Moral, Kultur und Sittlichkeit 18 %, Bürokratische Willkür 16 %, schwache Regierungsführung 15 %, Unfähigkeit, die Wahrheit vor Gericht zu bringen 13 %, Polizeigewalt 11 %, verzögerte Auszahlung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen 10 %, Kriminalitätsanstieg 10 %.

[1]              https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2019/10/21/814324-rossii-uvelichilos-neravenstvo

[2]              http://www.apecom.ru/projects/item.php?SECTION_ID=91&ELEMENT_ID=5673

[3]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/10/28/814909-eksperti-predskazali

[4]              https://www.levada.ru/2019/09/25/trevozhashhie-problemy-2/

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