Selbstanalyse: Im Land der toten Seelen

Wer es versäumt, sich seiner eigenen Position zu vergewissern und keine Vorstellung davon hat, was ihn eigentlich ausmacht, hat bezüglich der Navigation in stürmischen Zeiten nahezu eine Garantie für das eigene Scheitern. Es handelt sich nämlich bei diesen beiden Fragestellungen um eine existenzielle Essenz. Jedes Lebewesen und jede soziale Organisation sollte sich darüber im Klaren sein, in welchem Umfeld es existiert und was die eigenen Stärken und Schwächen ausmacht. Was die meisten Menschen und Organisationen als eine Binsenweisheit betrachten, erweist sich in der momentanen Weltlage als ein toxisches Defizit in Deutschland.

Da wurden zum einen derartig notwendige Analysen von so genannten Partnern unkritisch übernommen oder sie wurden kategorisch verteufelt. Und die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden zu sehr auf ökonomische Kategorien reduziert. Und nun, wo der Schutzpatron nicht mehr da ist, löst sich die Illusion über das eigene Dasein in Luft auf. Die Reaktion derer, die lange Zeit mit dem epistemologischen Müßiggang gut gefahren sind, verstehen die Welt nicht mehr und reagieren wie störrische Kinder, denen die harte Hand der Eltern fehlt. Das als Politik kategorisierte Gekeife ist nichts weiter als eine Bankrotterklärung für die Fähigkeit einer kritischen Selbstanalyse.

In den USA ist das anders. Dort kämpfen seit jeher unterschiedliche Flügel miteinander, die allerdings einen Konsens in Bezug auf die globale Bedeutung des eigenen Landes eint. Und eines muss man den USA lassen: ihr Frühwarnsystem für tektonische Verschiebungen im globalen Machtgefüge hat bis heute zumindest intellektuell immer existiert.

Es sei daran erinnert, dass es nicht nur einen Francis Fukuyama gab, der kurz nach dem Ende der Sowjetunion vom Ende der Geschichte schrieb, sondern auch einen Samuel P. Huntington, der bereits 1996 mit seinem Buch The Clash of Civilizations deutlich machte, wo die Grenzen eines freiheitlich-amerikanischen Kapitalismus liegen. Wenn man sich die Karten, auf denen er illustrierte, wo überall in der Welt die westliche Vorstellung von Gesellschaft auf andere kulturelle Konzeptionen stieß, dann bekommt man sehr schnell den Eindruck, man läse gerade aktuelle Berichte über politische Friktionen in der Welt. In Deutschland reichte bereits die – leider, muss man sagen – üblich hirnrissige Übersetzung des Titels. Aus dem Aufeinandertreffen von Zivilisationen wurde ein Kampf der Kulturen. Und allein aus diesem Grund war der Autor auf den Index zu setzen. Süffisanterweise exakt von jenem politischen Milieu, das sich heute exklusiv für militärische Lösungen im Sinne des westlichen Imperialismus einsetzen.

Und, hier kaum noch beachtet und in den USA auch nicht sonderlich gewürdigt, stellte derselbe Autor im Jahr 2004 die nächste, logisch aus dem ersten Buch abgeleitete Frage: Who Are We? The Challenges To America ´s National Identity. Darin untersuchte er den dramatischen Wandel in Bezug auf die Rolle der Religion, die kulturellen und ethnischen Verschiebungen in der amerikanischen Gesellschaft und riet dazu, die traditionellen Identitätsmuster einer historischen Anpassung zu unterziehen.

Man muss nicht mit dem, was in diesen beiden Büchern dargestellt und entwickelt wurde, einverstanden und glücklich sein. Aus deutscher Sicht vielleicht gar nicht. Aber es ist zu konzedieren, dass man daraus lernen kann, was ein Gemeinwesen und seine politischen Protagonisten leisten müssen, um eine Chance auf eine einigermaßen realistische, den Interessen der eigenen Bevölkerung entsprechenden Vorgehensweise zu erhalten.  Und es stellt sich die Frage, wann die ersten Ideen aufkommen, die sich mit einer realistischen Welteinschätzung und einer robusten Selbstanalyse befassen.

Ich rate trotzdem, die Bücher von Huntington noch einmal zu lesen. In Who Are We? findet sich übrigens ein Kapitel mit dem Titel: Dead Souls: The Denationalization of Elites. Das klingt irgendwie überaus aktuell. Oder? Im Land der toten Seelen.

COMMENTS

WORDPRESS: 1
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    Horst Beger 2 Wochen

    Man kann wie der Autor darüber streiten, ob die deutsche Übersetzung von Huntingtons „The Clash of Civilizations“ mit „Kampf der Kulturen“ inhaltlich angemessen ist, denn jede Übersetzung ist auch eine Interpretation. Bezogen auf die „historische Scheidelinie zwischen Europa und Rußland, die auf die Teilung des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert und auf die Errichtung des Heiligen Römischen Reiches im 10. Jahrhundert zurück geht“, ist die Übersetzung „Kampf der Kulturen“ durchaus angemessen. Denn das westliche (römische) Christentum bekämpft das östliche (russische) Christentum seit dessen Bestehen und teilt auch die Ukraine in eine überwiegend vom russischen Christentum geprägte Ostukraine und eine vom römischen Christentum beeinflusste Westukraine, wie Huntington das auf einer entsprechenden Landkarte auf Seite 253 aufzeigt, ohne auf den substanziellen Unterschied einzugehen, ist also ganz aktuell.

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