Sowjet-NostalgieSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Sowjet-Nostalgie

Anlässlich des 30. Jahrestags des Zerfalls der Sowjetunion im Dezember 2021 versucht der russische Präsident Wladimir Putin eine sicherheitspolitische Korrektur.[1] Er hat sich offensichtlich bis heute nicht wirklich mit der Auflösung der sowjetischen Supermacht abgefunden. In seinem Bericht zur Lage der Nation vor der Föderalversammlung am 25. April 2005 nannte er den Zerfall der UdSSR die „größte geopolitische Katastrophe des XX. Jahrhunderts“.[2] Dmitrij Medwedew widersprach ihm am 19. Juni 2011 in seiner damaligen Funktion als Präsident in einem Interview mit der “Financial Times“, indem er erklärte, dass der Zweite Weltkrieg die größte geopolitische Katastrophe gewesen sei.[3]

Putin ist der Ansicht, dass die Sowjetunion den Kalten Krieg nicht verloren, sondern nur kapituliert hat. Deshalb will er ihn noch einmal führen und siegen. Diese Denkweise beschrieb der Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und internationale Angelegenheiten der Nationalen Universität-Hochschule für Wirtschaft in Moskau und Vorsitzende des Präsidiums des „Rats für Außen- und Verteidigungspolitik“, Sergej Karaganow, in einem Aufsatz „Über den dritten Kalten Krieg“ in dem russischen Gegenstück zu „Foreign Affairs“, in Nummer 4/2021 der Zweimonatszeitschrift „Rossija w globalnoj politiki“ („Russland in der globalen Politik“).[4] Während der Perestrojka-Zeit Michail Gorbatschows war Karaganow ein Verfechter des „Neuen Denkens“. Unter Boris Jelzin war er für kurze Zeit einmal im Gespräch für das Amt des Stellvertretenden Außenministers. Später trat er für eine Annäherung Russlands an Europa ein, jetzt an China.

Karaganow sieht Russland in einem neuen Kalten Krieg, die Aussichten, diesen diesmal zu gewinnen, stünden gut. Die Demokratien befänden sich in einer „unvermeidlichen Degeneration der herrschenden Eliten“. Angesichts der „umfassenden Krise des Westens“ würden die liberalen Werte, die Demokratie als solche, Menschenrechte, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, politischer Pluralismus „immer weniger“ überzeugen. Wahlen seien oft nur eine Farce, anstelle des pluralistischen Ideenwettbewerbs würde ein „Einheitsdenken spätsowjetischen Ausmaßes oktroyiert“. Die autoritären Tendenzen würden „unweigerlich zunehmen“, auch in der westlichen Welt, Russland könne beweisen, dass seine autoritäre Ordnung überlegen sei. Russland sei wieder in der Lage, Krieg zu führen, und verfüge über die Rohstoffe in Sibirien. Zudem habe Russland einen wichtigen Rückhalt in China. „Die Gefahr eines neuen Weltkriegs ist äußerst akut.“

Putin dürfte klar sein, dass das Verteidigungsbündnis NATO Russland nicht angreifen wird. Vielmehr ist wohl allein die Weiterexistenz der NATO für ihn der ständige Ausdruck dafür, dass die Sowjetunion den Kalten Krieg verloren hat, denn das östliche Gegenstück zur NATO, den Warschauer Pakt, haben seine Mitgliedsländer 1991 aufgelöst. Die Atlantische Allianz besteht also nicht nur weiter, sondern sie erweiterte sich zudem um die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes und sogar – um das Maß voll zu machen – um die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Estland und Litauen.

Die Sowjetunion beendete ihre Existenz im Dezember 1991 aus sich heraus aus ökonomischen (administrative Planwirtschaft), ideologischen (die marxistisch-leninistische Ideologie verlor massiv an Überzeugungskraft), politischen (Unreformierbarkeit des sowjetischen Systems), gesellschaftlichen (aus Parteinomenklatur wurde Nomenklatur-Bourgeoisie), außenpolitischen (Überdehnung: Europa, Asien, Afrika, Mittelamerika) und nationalistischen (innersowjetische nationale Unabhängigkeitsbewegungen) Gründen.[5]

Die neue russische Verfassung, die dann unter Jelzin in anderthalb Jahren ausgearbeitet worden war und die nach einem Referendum im Dezember 1993 in Kraft trat, orientierte sich an westlichen Vorbildern, auch deutlich am Grundgesetz.[6] Wenn man nur nach dem Verfassungstext geht, dann fußt das heutige Russland auf denselben politischen Wertmaßstäben wie der Westen. Eigentlich bräuchte Russland dem Westen gegenüber keine Abwehrposition einzunehmen.[7] Es geht also im Grunde letztlich nicht um Werte, sondern einfach „nur“ um Prestige und Macht.

Anfang der 1990iger Jahre machte der Autor dieser Zeilen in seiner politikberatenden Funktion den Vorschlag, die NATO aus polit-psychologischen Gründen umzubenennen, weil diese vier Buchstaben wie ein rotes Tuch im Kreml wirken. Die Antwort war, dass man wegen des schwachen Jelzin das nicht zu machen brauche.

Der neu gewählte Präsident Dmitrij Medwedew unterbreitete im Rahmen seines Vortrags im Hotel Interkontinental in Berlin am 5. Juni 2008 dem Westen den Vorschlag, ein kollektives Sicherheitssystem zu schaffen, den die NATO ablehnte, weil sie ihre Auflösung nicht wollte. Moskau präzisierte im Oktober 2008 seinen Vorschlag, der anfangs absichtlich allgemein gehalten geworden sei, um Vorschläge des Westens einbauen zu können.

Moskau hatte bei der Präsentation seines Vorschlags meines Erachtens zwei handwerkliche Fehler gemacht. Wenn man möchte, dass die andere Seite meinen Vorschlag nicht von vornherein negativ beurteilt, darf man diesem nicht eine Bezeichnung geben, die schon zu Breschnews Zeiten für den Westen ein Reizwort war. Zweitens muss man eine so grundlegende Änderung seiner Außenpolitik der anderen Seite vorher signalisieren und sie darauf vorbereiten, sonst wird sie umgehend als Propaganda abgetan.[8]

Was heißt das heute? Die NATO und Russland sollten vereinbaren, in einem mehrjährigen Prozess ein gemeinsames, umfassendes, überwölbendes und sich selbst gegenseitig kontrollierendes Sicherheitssystem auszuhandeln, dem auch die NATO angehört, das alle Ängste berücksichtigt und in dem dann die NATO-Mitgliedschaft von Ländern keine so große Rolle mehr spielt, weil das Bündnis selbst Mitglied eines solchen Systems ist.

[1]              Vgl. meine Januar-Kolumne „Putins jährliche große Pressekonferenz“.

[2]              https://ria.ru/20170613/1496353896.html

[3]              http://en.kremlin.ru/events/president/news/11630

[4]              https:/lobalaffairs.ru/articles/o-tretej-holodnoj-vojne/

[5]              Ausführlich dazu mit Quellenangaben: Schneider, Eberhard, Russland, in: Petri, Mario/Schnier, Ulrich/Bellers, Jürgen (Hrsg.), Handbuch der transitorischen Systeme, Diktaturen und autoritären Regime der Gegenwart. Berlin 2006, S. 439-451.

[6]              In jener Zeit lernte der Autor dieser Zeilen einen der Verfassungsautoren kennen.

[7]              Vgl. meine August-Kolumne „Putins neue Sicherheitsstrategie: ‚Kampf gegen die Verwestlichung‘“.

[8]              Willy Brandt ging so Ende der 1960er Jahre bezüglich seiner Ostpolitik vor. Die Sondierungsrolle übernahm damals das Kölner „Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien“ – zum 1.1.2000 wurde es von der Bundesregierung leider aufgelöst – mittels der Vermittlung nach Moskau (mit Rückantwort) durch die Kommunistischen Partei Italiens, zu dessen Führung das Institut damals sehr gute Kontakte unterhielt.

COMMENTS

WORDPRESS: 2
  • comment-avatar
    Horst Beger 2 Jahren

    Wer die Auflösung der Sowjetunion vor Ort erlebt hat, kann verstehen, dass die Menschen dies zunächst als geistig-kulturelle Befreiung von den Systemzwängen der Sowjetunion empfunden haben, obwohl sich die materiellen Verhältnisse und Möglichkeiten nur langsam verbesserten. Erst als sich zeigte, dass der wirtschaftliche Ausverkauf des Landes durch Jelzin neue materielle Rückschläge mit sich brachte und der Kalte Krieg des Westens und der NATO gegen Russland keineswegs zu Ende war, änderte sich auch die Stimmung. Der damalige Patriarch Alexij II. hat die Osterweiterung der NATO daher zu Recht als „Kreuzug des Westens gegen Russland“ bezeichnet und die russische Kirche hat entsprechend darauf reagiert. Auch das von Putin daraufhin erfolgte militärische Eingreifen in Georgien und die unterstützte Wiedervereinigung der Krim mit Russland wurde allgemein begrüßt und insbesondere das Unverständnis Deutschlands für diese auch geistig-kulturelle Wiedervereinigung mit der Krim beklagt. Dem liegt im Hintergrund auch der Jahrhunderte alte Kulturkampf des westlichen(römischen) Christentums gegen das russische Christentum und dessen geopolitischen Folgen zugrunde, wie der amerikanische Politologe Samuel Huntington das in dem entsprechenden Kapitel seines Buches „Kampf der Kulturen“ aufgezeigt hat. Darin weist er darauf hin, dass diese „Kulturgrenze“ auch die Ukraine in eine vom russischen Christentum geprägte Ostukraine und eine vom römischen Christentum beeinflusste und verdorbene Westukraine teilt. Dies erklärt auch den derzeitigen besonders umstrittenen Ukrainekonflikt, der uns an den Rand eines Dritten Weltkrieges bringt.

  • comment-avatar
    Rahr 2 Jahren

    Putin folgt Vordenkern wie Solschenitsyn, Sobtschak u.a. Russland sollte innerhalb seines Kerngebietes Bestand haben. Dazu gehören Belarus und die Ostukraine. Den Rest hat Russland abgeschrieben, will diese Gebiete jedoch nicht der NATO überlassen. Putin hat die Mehrheit der Russen hinter sich. Einen Krieg mit dem Westen wird es nicht geben, auch weil der Westen die NATO niemals auf postsowjetischen Territorium erweitern wird. Wenn der Westen Russland dessen Einflusszone nicht anerkennen will, wird Russland sich diese Einflusszone mit Hilfe Chinas sichern, was in Zentralasien schon passiert.

  • DISQUS: 0