Stanislaw Petrow in Oberhausen – Ausgerechnet im Ruhrpott steht seit fünf Jahren das weltweit erste Denkmal für den „Man who saved the world“Der Oberhausener Bestatter und enge Freund von Stanislaw Petrow, Karl Schmacher, bei der Enthüllung des weltweit ersten Denkmals für den „Man who saved the world“. (Oberhausen, 19. Mai 2019; Foto privat)

Stanislaw Petrow in Oberhausen – Ausgerechnet im Ruhrpott steht seit fünf Jahren das weltweit erste Denkmal für den „Man who saved the world“

[von Leo Ensel] Am 19. Mai 2019, dem zweiten Todestag des Mannes, der im Herbst 1983 durch besonnenes Handeln vermutlich einen Atomkrieg verhindert hatte, wurde zu dessen Ehren in Oberhausen das weltweit erste (und bislang einzige) Denkmal enthüllt. Warum gerade dort? Dahinter verbirgt sich eine herzzerreißende deutsch-russische Geschichte. 

So hatte sich der Oberstleutnant a.D. der Sowjetarmee diesen Samstag mit Sicherheit nicht vorgestellt. An jenem Mittag des kalten 21. November 1998 saß er alleine – und seit dem frühen Tod seiner geliebten Frau anderthalb Jahre zuvor zunehmend vereinsamt – in der Küche seiner 60 Quadratmeter großen Plattenbauwohnung in Frjasino nördlich von Moskau, als es plötzlich an der Wohnungstür klopfte. Stanislaw Petrow öffnete und draußen im Treppenhaus standen zwei Männer, Mitte 40.

„Are you Mr. Petrow?“ – Der ehemalige Offizier der Sowjetarmee nickte. – „This is Mr. Höhn and I am Mr. Schumacher. We come from Germany. Only to say ‚Thank you‘! Not more.“ – Petrow blickte einen einen Moment erstaunt auf, dann lachte er. – „Come in!“ – Die drei begaben sich in die sieben Quadratmeter große Küche, Petrow setzte in seinem Kocher Wasser für den Instantkaffee auf und Karl Schumacher legte einen Zeitungsausschnitt aus der BildZeitung auf den Tisch. „Verarmt und traurig“ stand dort in dicken Lettern. Und obendrüber in etwas kleineren Buchstaben: „Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte.“

Am Anfang war Bild! 

Rückblende. Am 8. Oktober 1998 hatte der Oberhausener Bestatter Karl Schumacher diesen kurzen Artikel in Deutschlands auflagenstärkstem Boulevardblatt gelesen und war, wie er später schrieb, „wie vom Donner gerührt“. Damals war die mittlerweile zu recht berühmt gewordene Geschichte von der Nacht vom 26. September 1983 noch völlig unbekannt: Als diensthabender Offizier im sowjetischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau hatte Petrow die Nerven behalten, als das Frühwarnsystem den Start einer amerikanischen Interkontinentalrakete meldete. Er hielt auch dann noch an seiner Einschätzung, Fehlalarm infolge Computerirrtums, fest, als das System unmittelbar darauf noch vier weitere Male Alarm schlug – und behielt recht!

Anders als 99 Prozent seiner Zeitgenossen hatte Schumacher den Mut, Eins und Eins zusammenzuzählen: „1983 wohnten wir nur etwa 500 Meter von der Gute-Hoffnungshütte (GHH) entfernt, die damals noch ein Stahlkonzern von Weltgeltung war. Ein Volltreffer einer sowjetischen Atomrakete auf die GHH hätte so auch für mich und meine Familie das Ende bedeutet. Und nun las ich, dass dieses Szenario beinahe wahr geworden wäre, hätte es damals nicht einen gewissen Herrn Petrow, Oberstleutnant der Sowjetarmee, gegeben, der gerade dies verhindert hatte.“ Und eben dieser Mann, der durch seine Besonnenheit die Welt vor dem Untergang bewahrt hatte, sollte – laut Zeitungsbericht – nur etwa 15 Jahre später in bescheidensten Verhältnissen in einem Vorort von Moskau sein Dasein fristen!

Ein Flug nach Moskau ins Blaue

Der Gedanke ließ Schumacher keine Ruhe mehr: Er musste etwas für den Mann tun, dem er und Millionen, gar Milliarden andere Menschen ihr Leben verdankten! Nach zwei Wochen Telefonaten mit Bild, Hamburg, Berlin, Manchester, London und Moskau hatte er endlich die Adresse: 141195 Frjasino bei Moskau, ulitsa 60 let SSSR, d 1, kw 152. Telefonisch Kontakt mit Petrow aufzunehmen, war unmöglich, da sein Anschluss nicht funktionierte. Schumacher sprach seinen Freund Helmut Höhn an, der ein paar Brocken Russisch beherrscht, und am Freitag, den 20. November flogen die beiden auf gut Glück für ein Wochenende nach Moskau.

Und sie hatten Glück. Nicht nur, dass der Taxifahrer – ohne Navi, versteht sich! – die Adresse in dem riesigen Gebäudekomplex, 50 Kilometer nördlich vom Moskauer Stadtzentrum schließlich fand; nicht nur, dass Petrow tatsächlich zuhause war; auch die ‚Chemie‘ zwischen den dreien stimmte auf Anhieb! Der passionierte Raucher Schumacher: „Am besten hat mir sein Aschenbecher gefallen. Und dann diese Erfahrung: Diesen Mann gibt es wirklich!“

Fast drei Stunden lang radebrechten die drei bei Instantkaffee im Zigarettenqualm auf Russisch und Englisch in Petrows mit 25 Grad für deutsche Verhältnisse reichlich überheizten Miniküche – nicht über die Nacht, sondern über ihre Familien und das aktuelle Leben in Russland und Deutschland –, dann stand der Plan fest: Petrow sollte für zwei Wochen nach Oberhausen kommen! Schumacher stattete den Oberstleutnant a.D., der sich von seiner damaligen 1000-Rubel-Rente gerade mal zehn Tassen Kaffee in einem Hotel im Moskauer Zentrum hätte leisten können, mit den notwendigen finanziellen Mitteln aus – allerdings galt es noch mindestens eine größere Hürde zu nehmen: Petrow besaß keinen Pass und wusste nicht, ob er als ehemaliger Geheimnisträger überhaupt eine Genehmigung erhalten würde, sein Land für 14 Tage zu verlassen. (Aus genau diesem Grunde hatte Petrow selbst seiner Ehefrau niemals etwas von seiner weltrettenden Entscheidung erzählt.)

Der Held, der keiner sein wollte, in Oberhausen

Und wieder klappte alles: Am 8. April 1999 war der Ex-Sowjetoffizier zum ersten Mal in seinem Leben im Ausland, will sagen: in Oberhausen! Schumacher organisierte ein äußerst vielseitiges lokales Programm für den Retter der Welt: Besuche im Bottroper Moviepark, im Tiergehege des Oberhausener Kaisergartens, ein Blueskonzert, Visite einer Oldtimerwerkstatt und der Filiale der örtlichen Volksbank, ein Blick vom Gasometer. Schumacher: „Ich nahm ihn überall hin mit. Er interessierte sich einfach für alles! Er pfiff sogar ein Fußballspiel an, das mein Sohn als Schiedsrichter leitete. Und musste ich zum Zahn- oder Augenarzt, dann ließ ich ihn Petrow gleich mit untersuchen.“ Natürlich durften ein Empfang beim Bürgermeister im Rathaus mit Vertretern der Parteien und eine Geschichtsstunde, bei der Petrow vor Schülern des örtlichen Sophie-Scholl-Gymnasiums sprach sowie Interviews für den WDR und SAT1 nicht fehlen. Nur Stern TV sagte ab, da für den entsprechenden Abend Wichtigeres, sprich: ein Bericht über einen mobilen Pudelfriseur, auf dem Programm stand! Dafür berichtete die lokale Presse ausführlich über den damals noch so gut wie unbekannten Helden, der keiner sein wollte.

Schumacher fuhr mit Petrow quer durchs Ruhrgebiet bis zum Kölner Dom – kurz: er zeigte ihm all das, was es aufgrund Petrows weltrettender Entscheidung noch gab! „Der Besuch tat ihm sichtlich gut. Am Wohlsten aber“, schmunzelt Schumacher, „hat er sich gefühlt, als meine Mutter, die damals noch lebte, ihn im Ruhrpott-Slang anknuffte: ‚Stanislaw, ob Du die Welt jerettet hast oder nicht, dat intressiert mich jetzt überhaupt nicht! Du isst jetzt meine Erbsensuppe und dann sagste mir, ob se Dir jeschmeckt hat!‘“

Als Stanislaw Petrow zwei Wochen später wieder nach Moskau zurückflog, war der Grundstein für eine deutsch-russische Freundschaft gelegt, wie sie zauberhafter nicht sein könnte. Und nicht nur das: Auch infolge dieser ersten Veröffentlichungen zog die Geschichte um Petrow langsam international Kreise. Acht Jahre später wurde ihm im UN-Hauptquartier in New York der Word Citizen Award verliehen, es folgten in Deutschland 2011 der Deutsche Medienpreis, mit Laudatio von Ex-Bundespräsident Roman Herzog, und im Februar 2013 der Dresdner Friedenspreis. Es wurde auch ein abendfüllender Film über ihn gedreht, den man allerdings besser vergessen sollte!

Der einsame Tod des Mannes, der die Welt gerettet hatte

Am 7. September 2017 rief Karl Schumacher in Frjasino an, um Petrow, wie jedes Jahr, zum Geburtstag zu gratulieren. Am anderen Ende der Leitung hörte er eine ihm unbekannte Stimme in gebrochenem Englisch: „Dmitrij here. Father dead!“ Stanislaw Petrow, war, wie sich nun herausstellte, bereits am 19. Mai desselben Jahres verstorben und im engsten Familienkreis in Frjasino beigesetzt worden. Durch die Traueranzeige, die Schumacher zwei Tage später in der WAZ Oberhausen veröffentlichte, erfuhr die Welt mit einer Verspätung von dreieinhalb Monaten vom einsamen Tod des Mannes, der die Welt gerettet hatte. Wenige Tage später stand Schumachers Telefon nicht mehr still: Nachrichtenagenturen rund um den Globus wollten Einzelheiten wissen, die Weltpresse in 150 Staaten berichtete.

Damit aber war Schumachers Einsatz für seinen russischen Freund noch lange nicht beendet. Am ersten Jahrestag des Todes von Petrow war er mit Helmut Höhn wieder in Frjasino. Diesmal legten die beiden auf dem Grab Petrows und seiner Frau Raissa eine Marmorplatte nieder mit der kurzen Inschrift auf kyrillisch und lateinisch: „Stanislaw Petrow, 7.9.1939 – 19.5.2017. Спасибо – Thank You – Danke“.

Das erste Denkmal weltweit

Am 19. Mai 2019, vor fünf Jahren, enthüllte Schumacher dann an Petrows Todestag das weltweit erste Denkmal für den Retter der Welt: eine Gedenkstele in deutscher, englischer und russischer Sprache im Oberhausener Park an der Vestischen Straße dort, wo Petrow im April 1999 ein TV-Interview über die Ereignisse der Nacht vom 26. September 1983 gegeben hatte. Eingeladen waren aus Frjasino Petrows Kinder Dmitrij und Elena plus Ehemann. Alle Parteien im Oberhausener Stadtrat – das hatte es dort noch nie gegeben! – hatten Schumachers Initiative einstimmig zugestimmt. Überflüssig zu betonen, dass Schumacher sämtliche Kosten für das Denkmal und die Einweihungsfeier (inclusive Musikband), an der um die 150 Personen teilnahmen, aus eigener Tasche übernahm.

Manche nennen Karl Schumacher den „Mann, der den Mann gerettet hat, der die Welt gerettet hat“. Schumacher, durchaus mit solidem Selbstbewusstsein ausgestattet, mag es hier lieber ein paar Nummern kleiner: „Ich bin der Mann, der ‚Danke!‘ gesagt hat.“ Und er findet auch sonst die passenden Worte. Seine Laudatio auf den russischen Freund gipfelte in der folgenden lapidaren Sentenz: „Der Mensch ist ein Versuch Gottes oder der Natur. Dank Stanislaw Petrow geht dieser Versuch weiter.“

Heute, in dieser höchst angespannten Lage, liegt es an uns allen, dass dieser Versuch weitergeht!

COMMENTS

WORDPRESS: 4
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    Horst Beger 4 Monaten

    Der Beitrag von Niels Beyer bestätigt, „dass Deutschland nicht nur die dümmsten und gefährlichsten Politiker hat, die wir je hatten“, wie Sahra Wagenknecht das festgestellt hat sondern, dass diese auch Ausdruck des Zustandes der Gesamtgesellschaft sind.

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    Niels Beyer 4 Monaten

    Der Kreml-Propagandist, der sich Horst Beger nennt, wird mit seiner ständigen absurden, unflätigen Beschimpfung des deutschen Volkes und der deutschen Regierung (die im Gegensatz zur russischen wirklich demokratisch gewählt wurde) keinen Beitrag zur Völkerverständigung leisten. Er wird nur erreichen, dass sich alle deutschen Leser angewidert von dieser Internetseite abwenden. Wenn ich wollte, könnte ich mich hier auch ausführlich über die Dummheit und Geschichtslosigkeit des russischen Volkes auslassen, das vor 80 Jahren unter riesigen Opfern eine faschistische Aggression abwehren musste und heute selbst in einer faschistischen Diktatur lebt, die in Angriffskriegen ihr Volk verheizt und ihren unermesslichen Machthunger austobt, unter Propaganda-Lügen ihre Nachbarländer überfällt, anderen Ländern und Völkern nach Lust und Laune ihr Existenzrecht abspricht. Der nächste Held, der die Menschheit rettet, wird der Russe sein, der Wladimir Putin tötet, damit dessen Nachfolger den furchtbaren Ukraine-Krieg beenden kann und am Verhandlungstisch einen tragfähigen Frieden aushandeln kann.

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    Pjotr56 5 Monaten

    Vielen lieben Dank für diesen rührenden Artikel. Demnächst geht es von Viersen nach Oberhausen um Stanislaw Petrow wegen seiner Verdienste für die Menschheit zu ehren.

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    Horst Beger 5 Monaten

    Die Feststellung, „dass Deutschland die dümmsten und gefährlichsten Politiker/innen hat, die je dagewesen sind“ (Sarah Wagenknecht), und diese von Ausnahmen abgesehen ein Spiegelbild der Gesamtgesellschaft sind, gibt wenig Hoffnung, dass der „Versuch Mensch“ so weitergeht, wie der Autor das erhofft.

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