Ukraine-Russland: Zuspitzung oder Bewegung?Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Ukraine-Russland: Zuspitzung oder Bewegung?

Am 19. Februar 2021 beschloss der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat (RNBO) der Ukraine unter Vorsitz von Präsident Wolodymyr Selenskij Sanktionen gegen 19 Unternehmen und acht Einzelpersonen.[1] Zu diesen Einzelpersonen gehört auch der 1954 in der sibirischen Region Krasnojarsk geborene Viktor Medwedtschuk, der einflussreichste der vier untereinander rivalisierenden Führer der ukrainischen russlandfreundlichen „Oppositionsplattform – Für das Leben“, die bei der Parlamentswahl 2019 mit 13 % die zweitstärkste Partei wurde nach der damals neu gegründeten Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ (43 %). Oppositionsplattform bildet mit 43 Abgeordneten in der Werchowna Rada die zweitstärkste Fraktion (9,6 %) nach der Präsidentenpartei mit 254 Abgeordneten (56,4 %). Seit 2014 steht Medwedtschuk im Zusammenhang mit der Übernahme der Krim durch Russland auf der amerikanischen Sanktionsliste.

Medwedtschuk war von 2002 bis 2005 Leiter der Präsidialverwaltung unter dem damaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma. Er ist eng mit Wladimir Putin und mit Dmitrij Medwedew befreundet. Putin und Medwedews Frau Swetlana waren 2004 Paten von Medwedtschuks Tochter.[2]

Medwedtschuk dürfte sein Vermögen hauptsächlich durch den Import von Kraftstoff in die Ukraine gemacht haben. Zum Jahreswechsel 2016/2017 ermöglichten Maßnahmen des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU gegen LPG-Händler (Autogas-Händler) – ukrainischer Präsident war damals Petro Poroschenko – den von Medwedtschuk kontrollierten Unternehmen, 40 % des ukrainischen LPG-Marktes zu übernehmen.

Medwedtschuk besitzt die drei Informationsfernsehkanäle 112 Ukraine, NewsOne und ZIK. Die Zuschauerzahlen dieser Sender im TV-Nachrichtensegment lagen bei 45 %. Sie waren ein wichtiges Instrument Medwedtschuks zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung, die auch dazu genutzt wurde, die Position der Oppositionsplattform zu stärken. Zu den vorherrschenden Themen dieser Fernsehsender gehörte die Darstellung eines Politikers, der in der Lage ist, den bewaffneten Konflikt im Donbass zu beenden, die ukrainische Regierung kompromisslos zu kritisieren und prorussische Inhalte zu fördern. Der ukrainische Sicherheits- und Verteidigungsrat blockiert nun seit dem 2. Februar das TV-Signal dieser drei Nachrichtensender.

Zu Beginn des Konflikts mit Russland fungierte Medwedtschuk als inoffizieller Vertreter Kiews in den Gesprächen mit Vertretern der selbsternannten Republiken in der Ostukraine. Er warb aktiv für Moskaus Ziele, vor allem für die Anerkennung der „Volksrepublik Donezk“ und der „Volksrepublik Luhansk“ als unabhängige Staaten und die Aufnahme direkter Verhandlungen Kiews mit deren Vertretern. Auf Initiative des damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko (2014-2019) führte Medwedtschuk ab Dezember 2014 Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen zwischen der Ukraine und den Separatistenrepubliken sowie Russland und fungierte als Sonderbeauftragter Kiews während der Friedensgespräche in Minsk. Mit dem Amtsantritt Selenskijs im Mai 2019 trat Medwedtschuk von dieser Funktion zurück.

Im August 2020 hatte Medwedtschuk die Klage einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten der Oppositionsplattform vor dem Verfassungsgericht initiiert unter dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit der Antikorruptionsgesetze von 2014. Als nicht verfassungskonform wurde erachtet, dass strafrechtlich verfolgbar ist, wer falsche Angaben in den Erklärungen zu seinem Einkommen und seinen Ausgaben macht. Politiker und Regierungsmitglieder bestimmter Ebenen sind zur Abgabe dieser Erklärungen verpflichtet. Medwedtschuk hätte einiges zu befürchten, denn er besitzt eine Jacht im Wert von 200 Mio. US-Dollar, hektarweise Land an der bulgarischen Küste und mehrere Immobilienobjekte in der Ukraine, was aber in seiner Vermögenserklärung von 2019 nicht vorkommt.[3] Am 27. Oktober 2020 erklärte das Verfassungsgericht in einem Urteil über einige Rechtsnormen in Antikorruptionsverfahren und Antikorrutionsinstitutionen, diese entsprächen nicht der Verfassung und unterliefen die Unabhängigkeit der Justiz.[4] Dieses Urteil macht die Überprüfung sämtlicher Rechtsakte, auf denen die Tätigkeit der Antikorruptionsstellen beruht, erforderlich. Das Nationale Antikorruptionsbüro musste daraufhin 110 Strafverfahren einstellen. Einige Richter wurden in dieser Verhandlungszeit von der Antikorruptionsbehörde wegen Einreichung angeblich falscher Angaben überprüft!

Laut einer Umfrage des angesehenen Kiewer Rasumkow-Zentrums, die am 8. Februar veröffentlicht wurde, würden nur noch 22,1 % die Selenskij-Partei „Diener des Volkes“ wählen, 21,9 % die Oppositionsplattform Medwedtschuks und 18,1 % die Partei Poroschenkos „Europäische Solidarität“.

Nach zwei erfolgreichen Austauschen von Kriegsgefangenen unter Selenskij hat sich Moskau geweigert, die nächste Phase eines dritten Austausch einzuleiten, die Streitkräfte und schweres Gerät aus den vereinbarten Abschnitten der Demarkationslinie (Separatistengebiete zu von Kiew kontrollierten Gebieten) abzuziehen und neue Punkte zu eröffnen, um sie überqueren zu können. Der am 27. Juli 2020 vereinbarte Waffenstillstand, der lange Zeit weitgehend eingehalten wurde, wurde immer brüchiger. Nach Mitteilung des Leiters der ukrainischen Präsidialverwaltung Andriy Jermak in einem Online-Gespräch am 9. März fielen in den letzten Monaten elf ukrainische Soldaten. Der Anfang Februar von Selenskij erlassene Befehl zur Bewertung der Kampfeffizienz der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes zeigt, dass Kiew bereit ist zu einer möglichen Intensivierung seiner Militäroperationen im Donbass.

Die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation im Donbass ist mit einem Rückgang der russischen Subventionen verbunden, welche die separatistischen Republiken über Wasser halten. Es wird gemunkelt, dass Leute von Medwedtschuk oder ein russischer Manager ernannt werden könnte, um die derzeitige dortige Führung zu ersetzen. Etwa zehn Prozent (400.000) der Bewohner dieser Gebiete erhielten bis Januar 2021 die russische Staatsbürgerschaft.[5]

Wie ist die Situation in den Separatistengebieten? Die russische Tageszeitung „Wedomosti“ zeichnete am 5. März 2021 ein viel komplizierteres Bild der Massenstimmung im Donbass als das, das von den russischen föderalen Fernsehsendern und anderen Massenmedien vermittelt wird.[6] Die Zeitung stützt sich auf eine soziologische Studie, die in den Jahren 2019 und 2020 durch ausführliche Interviews in der „Volksrepublik Donezk“ durchgeführt worden ist. Das Bild des Territoriums dieses Gebildes oder seine offiziellen Symbole sind nicht im Massenbewusstsein fixiert. Die Zukunft der Republik scheint nicht klar definiert und wird negativ gesehen. Die Eliten werden nicht respektiert, sind laut Meinung der Befragten korrupt, inkompetent, haben keine Führung und charismatische Qualitäten, haben sich in ihren Ämtern durch Zufall gefunden und sind nicht an der Entwicklung des Territoriums interessiert. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn der Fortsetzung des Krieges. Trotz der Wahrnehmung des ukrainischen Staats als Aggressor ist sein Bild eines äußeren Feindes nicht so bedeutend, dass es die Existenz der Befragten selbst bedroht. Auf der einen Seite wird Kiew eindeutig die Verantwortung für Zerstörung und Tod auferlegt, auf der anderen Seite verbinden sich erstens mit der ukrainischen Gesellschaft und Kultur positive Konnotationen im Massenbewusstsein der Bewohner des Donbass. Und zweitens stellt das politische Regime der „Volksrepublik“, das die Rechte und Freiheiten stark einschränkt, ohne bedeutende sozio-ökonomische Erfolge zu präsentieren, auch eine Bedrohung dar. Der Autor des Beitrags, der Wissenschaftler des „Moskauer Staatlichen Instituts für internationale Beziehungen“ (MGIMO) des russischen Außenministeriums, Alexej Tokarew, zieht den Schluss, dass die Friedenssicherungskapazität der Menschen dort groß ist. Wenn es eine bestimmte politische Situation gebe, werde ein bedeutender Teil von ihnen zur Wiedereingliederung in die Ukraine bereit sein.

Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass Selenskij im Frühjahr 2019 in seinem Präsidentenwahlkampf damit geworben hatte, den Krieg im Donbass zu beenden. Am 9. März 2021 verkündete Jermak, dass ein „konkreter Plan“ zur Lösung des Konflikts in der Ostukraine existiere, dessen Idee von Frankreich und Deutschland vorgeschlagen worden sei.[7] Ihm zufolge wurde dieser Plan in Kiew fertiggestellt und könne beim nächsten Beratertreffen der Vier des Normandieformats (Frankreich, Deutschland, Ukraine, Russland) zur Diskussion gestellt werden. Dieses Treffen solle laut Aussage des Beraters der Trilateralen Kontaktgruppe (Ukraine, Russland, OSZE), Oleksiy Arestowitsch, Ende März stattfinden. Bis dahin sei der Plan vertraulich.

Jermak erwähnte die Schaffung einiger „Cluster“, die – falls vereinbart – die Grundlage für „einen Fahrplan zur Schaffung von Frieden im Donbass, zur Rückgabe der von Russland besetzten Gebiete und zur Abhaltung von Kommunalwahlen“ bilden könnten. Gleichzeitig nannte er die neue Initiative „einen sehr mächtigen Schritt“ und versicherte, dass der Fahrplan „absolut dem Geist und den Grundsätzen des Minsker Abkommens“ und dem Völkerrecht entspreche. „Wir warten auf eine Position von russischer Seite“ fügte er hinzu und bemerkte, dass, wenn die Russische Föderation das Projekt nicht unterstützte, dies bedeute, dass sie kein Ende des Krieges wolle. Der Leiter des ukrainischen Zentrums für angewandte politische Studien „Penta“, Wolodymyr Fesenko, präzisierte, dass Cluster höchstwahrscheinlich „bestimmte Blöcke miteinander verbundener Themen bedeuten, welche die Grundlage für einen Kompromiss sein können“. Am 9. März erklärte Selenskij: „Es wird kein Treffen im Normandie-Format geben, ich werde ein Format finden, wenn ich mich mit jedem dieser Führer der Normandie-Vier treffe. Wie man sagt, wenn der Berg nicht zu Mohammed geht, ist es in Ordnung, was bedeutet, dass ich mich mit jedem einzelnen treffen werde.“ Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow, schloss die Möglichkeit eines Treffens Putins mit Selenskij nicht aus.

[1]              https://www.rnbo.gov.ua/ua/Diialnist/4815.html

[2]              https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analyses/2021-02-24/ukraine-zelenskys-anti-russian-move

[3]              https://uacrisis.org/de/ukraine-judiciar

[4]              https://ccu.gov.ua/dokument/13-r2020

[5]              https://carnegie.ru/commentary/84020

[6]              https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2021/03/04/860300-strelyayut-donbasse

[7]              https://www.kommersant.ru/doc/4722420

COMMENTS

WORDPRESS: 2
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    Herr Humml 3 Jahren

    Wo steht geschrieben, oder – weil i.d. ZH. permanent das Völkerrecht bemüht wird – welche Regel des Völkerrechtes besagt, daß eine Staatsvolk, oder ein Teil desselben, sich einer Gewalt zu unterwerfen habe, welche, unter gewaltsamer Beseitigung der ursprünglich, selbst nach westlichen Kriterien für „Demokratie“, in jeder Hinsicht legitimen Staatsgewalt, selbige rechtswidrig, unter Ausschaltung aller in einem Lande geltenden, legitimen Regeln, gewaltsam usurpiert hat. Wo steht das geschrieben?

    Darüber hinaus lohnt es nicht, dieses Elaborat auf seine Verfälschungen von Realität hin auseinader zu nehmen.
    Die Begeisterung für eine offensichtlich zumindest protofaschistische Staatsform ist eine für den sog. freien Westen typische Erscheinung, soweit im Sinne und zur Beförderung dieses Dritten Großen Rußlandfeldzuges.

    Und daß dieser „Westen“ vereint auf den Spuren eines einst Größten Führers aller Zeiten lustwandelt, weil er meint, seine 500-jährige Erfolgs- und Expansionsgeschichte legitimiere ihn dazu, wird ihm hoffentlich gleichermaßen auf die Füße fallen, wie 1945.

    Ekel beschreibt noch nicht einmal annähernd unser Empfinden angesichts dieser Ungeheuerlichkeit.

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    Rahr 3 Jahren

    Ein direktes Treffen zwischen Putin und Selenski könnte einen Durchbruch im Donbas bringen, wird aber kaum zustande kommen. Momentan hängt alles davon ab, wie sich Biden gegenüber dem Konflikt in der Ost-Ukraine positioniert. Rr hat es heute mehr als Deutschland in der Hand, ihn zu verschärfen, oder zu deeskalieren.

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