[von Michael Schütz] Dieses in der Überschrift wiedergegebene Zitat ist, sagen wir mal vorsichtig, inhaltlich problematisch. Daher werden wir hier diesen oft zitierten Spruch im Hinblick auf die aktuelle Konfliktlage zwischen West und Ost hinterfragen.
Wladimir Lenin, dem dieser Ausspruch zugeschrieben wird, hat den Satz in dieser Form nie gesagt oder zu Papier gebracht, nichts desto trotz hat er sich als „Weisheit“ ausgerechnet im kapitalistischen Westen durchgesetzt.
Die beiden Begriffe „Vertrauen“ und „Kontrolle“ können in verschiedenen Farben schillern und daraus ergeben sich auch jeweils unterschiedliche Zugänge zu dieser Redewendung.
Für uns hier ist bedeutsam, dass der Ausgang der militärischen und politischen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland mit dem richtigen Verständnis des Verhältnisses zwischen Vertrauen und Kontrolle zusammenhängen.
Das Problem dabei ist: Kontrolle kollabiert, wenn man sie überzieht. Anders gesagt: wenn ich Kontrolle und Kontrollverhalten immer mehr steigere und steigere, erreiche ich irgendwann den Punkt, an dem sie zusammenbricht oder aber mich vollständig lähmen wird.
Das bedeutet, absolute Kontrolle ist unmöglich bzw. ohne Vertrauen gibt es keine Kontrolle.
Wir lösen dieses Problem im Alltag zum Beispiel dadurch, dass wir uns unbewusst auf Basis von Wahrscheinlichkeiten durchs Leben bewegen.
Im Spannungsverhältnis von Kontrolle zu Vertrauen, eröffnet sich zudem ein neuer Horizont, nämlich der der Transformation, die unmittelbar mit dem Zulassen von Vertrauen zusammenhängt. Mit dieser Transformation werden wir uns zum Schluss beschäftigen.
Zunächst geht es aber um Kontrolle und Vertrauen in der politischen und militärischen Auseinandersetzung des Westens mit Russland.
Der heutige Westen, dieser freie Westen also, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Kontrollgesellschaft durch und durch:
Wenn man über die Regelung von Bananenkrümmungen noch erhaben lächeln kann, dann wird dieses Kontrollbedürfnis allerdings ungemütlich, wenn es ins Gesellschaftliche und Politische hineinreicht:
Cancelculture, Einengung des Meinungskorridors, Ausgrenzung Andersdenkender, die Verweigerung eines offenen wissenschaftlichen Diskurses, der Angriff auf die Grund und Freiheitsrechte, die zunehmende Zensur („Kampf gegen Desinformation“) sowie Bevormundung in der EU etc., etc., all das spricht dafür, dass sich die westliche Gesellschaft stetig steigernd in eine Kontrollgesellschaft verwandelt hat, die direkt auf einen Kollaps dieser Kontrolle zusteuert…,
…denn in den Sanktionsregimen gegen Russland und andere, in der ständigen propagandistischen, politischen und schließlich auch militärischen Eskalation gegen Moskau erscheint dieses Kontrollverhalten des Westens als dermaßen prägend, dass sein potentielles Scheitern sichtbar im Raum steht.
Und sollte man dann sogar noch vorhaben, auf der Überholspur Richtung Atomkrieg zu fahren, dann … wie gesagt, Kontrolle kollabiert, wenn man sie überzieht.
Das sollte eigentlich einleuchten.
Dummerweise weiß man im Vorhinein nie genau, wann dieser Punkt erreicht ist, an dem sich der Kollaps der Kontrolle vollziehen wird.
Das bedeutet, wenn sich der Westen als ernstzunehmender Spieler auf der Weltbühne behaupten möchte, dann hat er gar keine andere Wahl, als jetzt seinen Hang zur Kontrolle beiseite zu schieben und zum Ausgleich deutlich auf Vertrauen in Diplomatie und internationale Beziehungen auf Augenhöhe zu setzen.
Andernfalls wird der Westen und vor allem EUropa Gefahr laufen, zumindest als relevantes kulturelles, wirtschaftliches und politisches Phänomen aus der Weltgeschichte gelöscht zu werden. In hundert oder zweihundert Jahren wird sich dann niemand mehr daran erinnern können, dass Westeurasien einmal „Europa“ genannt worden ist.…
Man fragt sich natürlich, wieso sich der Westen in eine derartige Kontrollsucht verrannt hat?
Einerseits findet man sicherlich in der Psychologie des Kapitalismus eine Antwort, andererseits spielt der Verlust von Spiritualität eine Rolle, in der Vertrauen von fundamentaler Bedeutung ist. Dass sich der Westen zum selbsternannten Sieger des Kalten Krieges ausgerufen und daraus das Recht auf Alleinherrschaft über den Globus abgeleitet hat, ist ebenso ein Grund für dieses maximierte Kontrollverhalten.
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist im Moment des Untergangs von Kulturen zu finden: Gesellschaften und Kulturen beschleunigen in der Regel selbst ihren Niedergang dadurch, dass sie, in die Krise geraten, starr auf früher einmal scheinbar erfolgreiche Konzepte zurückgreifen und in einem Tunnelblick alles ausblenden, was dagegen die Krise tatsächlich entschärfen könnte.
Von der Habsburgermonarchie lernen:
Eine der bekanntesten und zugleich kürzesten Anekdoten aus der Geschichte der Donaumonarchie, ist die: Als sich im Revolutionsjahr 1848 die revolutionären Massen durch die Straßen der Wienerstadt wälzten, blickte Kaiser Ferdinand, der sog. Gütige, von einem Fenster in der Hofburg hinunter auf das Geschehen und fragte erstaunt: „Ja, dürfen sie denn das“?
Wie reagierte das Kaiserhaus schlussendlich auf die Revolution: Staatskanzler Metternich musste sich ins (vorübergehende) Exil absetzen, Kaiser Ferdinand wurde ins Ausgedinge geschickt und verbrachte dieses auf der Prager Burg. Und der Aufstand selbst wurde blutig niedergeschlagen. Aus dieser Phase der Revolution stammt der Satz: Ideen kann man nicht erschießen.
Stattdessen wurde ein 18-jähriger Jüngling auf den Thron gehoben, Franz Josef mit Namen, um den herum ein neoabsolutistisches System aufgebaut worden war.
Dieser Neoabsolutismus bedeutete einerseits keineswegs Stillstand. Staat und Verwaltung wurden modernisiert und sogar die eine oder andere Errungenschaft der Revolution beibehalten. Andererseits aber wurde der revolutionäre österreichische Reichstag einkassiert, mitsamt seinem Anspruch, dass die Macht vom Volk ausgehe.
Das heißt, Kontrolle wurde über Vertrauen gestellt.
Doch dieser Neoabsolutismus konnte sich nur etwa ein Jahrzehnt lang halten.
Fehlleistungen, militärische Niederlagen, sowie Gebiets- und Machtverluste stürzten die Monarchie in eine fundamentale Krise, sodass der wegen seiner Krankheit von vielen unterschätzte Ex-Kaiser Ferdinand auf der Prager Burg das Geschehen mit den Worten kommentierte: „Das hätt‘ ich auch noch zusammengebracht“.
Wir sehen also das Muster:
Das System gerät in eine Krise, das Revolutionsjahr 1848 und reagiert darauf, indem es eine alte, früher erfolgreiche Herrschaftsweise installiert (= Kontrolle), die aber schlussendlich die Monarchie fast zum Absturz bringt.
In dieser Situation passierte etwas wirklich erstaunliches, wenn man es mit den bisherigen westlichen Herrschaftsmustern vergleicht:
Die Monarchie legte schrittweise eine komplette Kehrtwendung hin. Es entstand eine neue Verfassung, Kaiser Franz Josef begnügte sich darin mit der Rolle eines konstitutionellen Herrschers und erste Formen von Demokratie hielten Einzug in die Politik.
Bald später wurde der Ausgleich mit den rebellischen Ungarn gesucht, der die Monarchie zu einem Doppelstaat machte.
Das verschaffte der Donaumonarchie eine Zeit zum durchatmen, die man heutzutage zu verklären geneigt ist, bevor sie an der Komplexität ihres Vielvölkerreiches zerbrach.
Die Schnittstelle mit unserer Gegenwart besteht also in dem Moment, als die Monarchie, nicht zuletzt aus Selbstherrlichkeit heraus, Schlachten verliert, Länder und Einfluss abtreten muss und in eine mentale Krise gerät, weil das Selbstbild mit den objektiven Tatsachen in der Welt nicht mehr übereinstimmt.
Die darauf folgende Wende der Habsburgermonarchie entstand nicht so sehr aus der Überzeugung des Herrschers heraus, sondern schlicht aus der Not-wendig-keit in der gegebenen Situation.
Da stellt sich die Frage, wo sind denn heutzutage unsere „Potentaten“, die eine solche Notwendigkeit zur Wende erkennen können?
Vielleicht ist es ja das Wasser der Donau, das doch noch die Mühlen der Geschichte wieder in Bewegung bringt?
Das Motto lautet also: Und sie bewegt sich doch, die Politik!
Vertrauen versus Kontrolle in Russland:
Das richtige Verhältnis von Vertrauen und Kontrollverhalten zueinander spielt in der militärischen und politischen Auseinandersetzung Russlands mit dem Westen eine oder sogar die zentrale Rolle.
Präsident Putin ist offenbar von Seiten der Hardliner in Moskau unter Druck geraten, weil er die Eskalationsstufen des Westens, bisher zumindest, nicht eins zu eins mitgegangen ist, sondern abzufedern versucht, auf Überzeugung als auch den Faktor Zeit gesetzt hat, statt auf die schnelle Befriedigung des Kontrollimpulses.
Dieses Verhalten wird ihm fälschlicherweise sowohl vom Westen als auch den Kritikern in den eigenen Reihen als Schwäche ausgelegt, mit den jeweils spezifischen Schlussfolgerungen daraus.
Als ein bekanntes Beispiel für diesen aufflammenden Kontrollimpuls in Russland könnte man den Vorschlag von Professor Karaganow interpretieren, so wie er in der Öffentlichkeit rüber gekommen ist, eine Atombombe auf feindliches Gebiet abzuwerfen, um dem Westen zu demonstrieren, dass man es tatsächlich ernst meine.
Putin setzte dagegen bisher augenscheinlich auf ein ausgewogenes Vertrauen. Vertrauen in Russland und die Fähigkeiten seiner Gesellschaft und vor allem in den Lauf der Weltgeschichte.
Dagegen übernimmt in der öffentlichen Inszenierung Ex-Präsident Medwedjew die Rolle des Rufers nach mehr Kontrollverhalten.
Die Logik des Spannungsverhältnisses zwischen Vertrauen und Kontrolle lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass die russische Führung mit ihrem bisherigen Ansatz den nicht nur aus der Sicht Russlands nachhaltigeren und erfolgreicheren Weg eingeschlagen hat.
Es sieht so aus, als hätte man das im Kreml auch verstanden.
Was hat das Alles mit Transformation zu tun?
Transformation (gemeint ist grob gesagt, die Weiterentwicklung einer Persönlichkeit oder einer Gruppe von Persönlichkeiten Richtung Vollendung) ist ein zentraler Bestandteil unserer Existenz, sie ist sozusagen die Essenz unseres Erdenlebens.
Kontrolle verhindert Transformation, während Vertrauen eine Voraussetzung dafür ist, einen transformativen Prozess zu durchlaufen.
Transformation ist Erneuerung und dieser Erneuerungsimpuls ist für unser Leben so wichtig und zentral, dass zahlreiche Mythen und Märchen sich immer wieder mit diesem Thema befassen.
Transformation hat immer etwas mit einem symbolischen Tod und folgender Auferstehung zu tun und der daraus sich ableitenden Neuerschaffung des Menschen, der Gesellschaft, aber auch des ganzen Planeten.
Erst kommt der Abstieg, dann der Aufstieg, so läuft die Reihenfolge, aus der Transformation entsteht.
Der Held ist nicht der, der den Drachen tötet und die Prinzessin befreit, sondern der, der sich auf den ganzen Transformationsprozess einlässt – das heißt, den Abstieg mit seinem symbolischen Tod
und der Auferstehung, wobei die befreite Prinzessin nicht nur der Lohn für den bewiesenen Mut ist, sondern eben auch ein Symbol des Neuanfangs darstellt.
Wir erahnen bereits, dass das fundamentale Problem des Westens darin besteht, eben diesen Mut dafür aufzubringen, sich auf den politischen Transformationsprozess einzulassen, der gerade in die Weltgeschichte Einzug gehalten hat. Stattdessen versucht er, diesen Prozess zu stoppen, das heißt, zu kontrollieren, auch um den Preis des Verlusts seiner Autorität und seines eigenen Untergangs.
Unter den zahlreichen Geschichten und Mythen zur Transformation, die die Menschheit seit Urzeiten überliefert hat, gibt es für den europäischen bzw. christlich-jüdischen Kulturkreis gleichsam die „Mutter“ aller Transformationsgeschichten und das ist die Erzählung vom Propheten Jona im sog. Alten Testament. Das ist der Mann, der drei Tage im Bauch des großen Walfisches verbracht hat.
Am Ausgangspunkt dieser Geschichte ist dieser Jona sozusagen ein Herr Jedermann, nicht weiter auffallend im Alltag und genau diese graue Type erhält von Gott den Auftrag, die Einwohner von Ninive zur Um- und Abkehr von ihren schlechten Taten aufzurufen. Jona lehnt den Auftrag Gottes allerdings ab und flüchtet Richtung hinterster Winkel der Welt.
Er reagiert also mit Kontrollverhalten, was allerdings massive Turbulenzen auslöst: Das Schiff auf dem er unterwegs ist, gerät in einen so fürchterlichen Sturm, dass es zu sinken droht. Als die Seeleute erkennen, dass Jona den Auslöser für diesen Sturm darstellt, werfen sie ihn – übrigens mit seinem Einverständnis – über Bord.
Jona bleibt in diesem Moment nichts anderes übrig, als vollständig auf Vertrauen zu setzen: Er wird von dem großen Fisch verschluckt, ist einerseits geborgen, andererseits aber in einem Zustand der Dunkelheit und des Nicht-Wissens.
Das ist der symbolische Tod und nach Jonas erfolgter „Auferstehung“ – der Fisch speit ihn an Land – besitzt er soviel Autorität, dass die Bewohner von Ninive auf sein Wort hin umkehren, sich in den Staub setzen und Buße tun.
Was das mit unserer jetzigen Weltlage zu tun hat, liegt auf der Hand.
Die Weltgeschichte befindet sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. 500 Jahre oder mehr an westlicher Vorherrschaft gehen unwiderruflich zu Ende.
Der Westen kann mit noch so viel Kontrollverhalten darauf antworten, er wird nichts anderes damit erreichen, als schwerste Stürme auszulösen.
Und wenn es sogar so weit kommen sollte, dass man ihn ( diesmal unfreiwillig) über Bord wirft, wird kein einziger Fisch kommen und ihn retten.
Der Schlüssel zum Erfolg besteht für den Westen in dieser Situation allein darin, auf Vertrauen zu setzten und sich damit zumindest noch einen Rest an internationaler Autorität zu bewahren.
Bei Russland liegen die Dinge anders.
Russland hat schon mehrmals transformative Prozesse durchlaufen, Phasen der absoluten Dunkelheit und vollständigen Aussichtslosigkeit und ist immer wieder gestärkt daraus hervorgegangen, zuletzt etwa im Zweiten Weltkrieg und den Neunziger Jahren.
In Russland hat sich daher ein gewisses Vertrauen darauf entwickelt, sich auf solche Phasen der Dunkelheit einlassen zu können und in ihnen zu überleben. Wie belastbar dieses Vertrauen ist, werden wir in den nächsten Monaten und Jahren sehen.
Diese Fähigkeit Russlands hat der Westen im aktuellen Konflikt komplett unterschätzt bzw. negiert, weil sie ihm selbst so ziemlich fremd ist.
Der jetzige transformative Prozess in Russland zwingt das Land sich in der Welt neu zu verorten. Wo steht man geographisch, (außen)politisch, wirtschaftlich aber auch mental, sowohl gesellschaftlich als auch als einzelner Bürger.
Und das, was sich beobachten lässt, ist, dass das Land durch diesen Transformationsprozess international keineswegs an Autorität eingebüßt hat, sondern im Gegenteil, ein größeres Gewicht zu bekommen scheint.
Vertrauen ist gut und Kontrolle ist auch gut.
Manchmal muss man, um kurzfristig zu überleben, auf vollständige Kontrolle setzen, als eine langfristige Strategie ist das allerdings wenig geeignet.
Manchmal gibt es aber auch Momente, in denen uns nur absolutes Vertrauen in das Dasein retten wird.
Jetzt ist ein solcher Zeitpunkt gekommen!
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Die abstrakte Ideologie der Lenin zugeschriebenen Sätze stammt ja nicht aus Moskau oder Petersburg sondern aus Trier und Wuppertal. Und Lenin wurde 1917 aus militärtaktischen Gründen von der deutschen Reichsregierung aus dem Exil in der Schweiz nach Petersburg geschleust und finanziert in der Erwartung, mit der Förderung der Revolution noch eine Wende im Ersten Weltkrieg gegen Russland herbeiführen zu können. Aus den gleichen pathologischen militaristischen Gründen als Ersatzreligion glauben die derzeitigen deutschen Politiker und die NATO, Russland mit dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine doch noch besiegen zu können. Und der „Verlust von Spiritualität“ kann heute auch nicht mehr mit dem Argument „denn sie wissen nicht was sie tun“ entschuldigt werden, weshalb Russland den Konflikt in der Ukraine auch als „Verteidigung der Russischen Welt gegen die antichristliche Welt des Westens“ bezeichnet.