Von der Schönheit der WerteAnnalena Baerbock

Von der Schönheit der Werte

[von Leo Ensel] Werte können Orientierung geben. Wer sich allerdings nur öffentlich mit ihnen brüstet, wird schnell politikunfähig. Denn Politik ist nichts anderes als das mühsame Geschäft des permanenten Austarierens von Interessen.

„Das Übel der Welt hat seinen Ursprung ausgerechnet
in der Arroganz derer, die sich für die Guten halten!“

(Papst Franziskus)

Werte sind etwas Feines. Sie geben Orientierung und verbreiten stets eine feierlich-andachtsvolle Stimmung, wenn man sich öffentlich mit ihnen schmückt. Der Glanz dieses hehren Wortes färbt sofort ab auf denjenigen – und erst recht diejenige –, der oder die es in den Mund nimmt. Das Charakteristische von Werten ist, dass sie, einmal postuliert, die Aura des Unhinterfragbaren annehmen. Was früher Gott war, das sind heute die zelebrierten Werte. Sie sind das neue Absolute.

Beyond discussion

Und daher sind sie, wie Gott, auch nicht hinterfragbar. Man kann sie verehren, sie wie eine Monstranz vor sich hertragen, man kann – mehr oder weniger erfolgreich – versuchen, sein Handeln nach ihnen auszurichten, aber man kann über sie nicht diskutieren. Genau das macht Werte so gefährlich: Sie sind beyond discussion! Sie sind – anders als Interessen – nicht verhandelbar.

Nun haben andere Länder, Völker, Kulturen auch Werte. Andere. Die für sie ebenfalls nicht verhandelbar sind. Und da es sich hier in allen Fällen um das jeweils Absolute handelt, gibt es, ‚Gott‘ sei‘s geklagt!, auch keinen allgemein anerkannten übergeordneten Maßstab, der im Diskurs – im, zumindest deklamatorisch immer wieder bemühten, „Dialog der Kulturen“ – allen Beteiligten verbindliche Orientierung gäbe.

Ich habe auch Werte. Und ich habe – aber das bleibt bitte unter uns! – auch immer mal wieder gegen sie verstoßen. Und ich fürchte, ich bin nicht der Einzige. Als Menschen sind wir ja alle – bezogen auf das jeweilige Absolute – Sünder! Etwas mehr Demut im Umgang mit Werten wäre also durchaus angebracht.

Das Ende der Politik

Was allerdings – zumindest in der offiziellen Politik des Westens, aber vermutlich nicht nur dort – nicht gerade gängige Praxis ist. Nehmen wir exemplarisch unsere junge grüne Außenministerin, die sich ihr – nicht selten vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit inszeniertes – Werte-Geprotze einfach nicht verkneifen kann. Zu verführerisch das wohlige Gesuhle in der (gefühlten) moralischen Superiorität! Die Folgen sind fatal: Statt zum Beispiel alle – alle!! – überhaupt denkbaren diplomatischen Initiativen zu starten, um das Blutvergießen in der Ukraine schnellstmöglich zu beenden und eine weitere – im Worst Case sich ins Unermessliche steigernde – Eskalation gerade noch zu verhindern, verrecken ungezählte ukrainische und (ja, auch!!) russische Soldaten. Von den getöteten, verletzten, geflüchteten und geschändeten Zivilpersonen und der zerstörten Infrastruktur dies- und jenseits der Frontlinien ganz zu schweigen.

Kurz: Wer politisches Handeln nur noch auf feierliches Werte-Gebete reduziert, wird sehr schnell politikunfähig!

Mit den Werten und ihren als Politiker-Sternchen-innen verkleideten Priester-Doppelpunkt-innen ist es wie mit der berühmten Max Weber‘schen Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik: „Verantwortlich fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt!“ – Die Folgen? So what!! Hauptsache, die Reinheit der Werte wird nicht durch die Niederungen der Realpolitik, die ja notwendig auf Kompromisse abzielt, beschmutzt.

Lob der Interessen 

Das Wort „Interesse“ verbreitet keinen Weihrauch. Es klingt eher schmutzig, es stinkt nach Egoismus. Aber es hat einen unschätzbaren Vorteil: Über Interessen kann man ins Gespräch, in Verhandlungen kommen. Wie ja Politik überhaupt nichts anderes ist als das permanente – hoffentlich einigermaßen zivilisierte!! – Austarieren unterschiedlicher Interessen. Mit einem Wort: Wer über Interessen spricht, ist wenigstens ehrlich!

Nach wie vor gilt die klassische Sentenz, die der damals 91jährige Egon Bahr im Dezember 2013 – übrigens unter der Überschrift „Wir leben in einer Vorkriegszeit!“ – Heidelberger Schülern ins Stammbuch schrieb: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das – egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt!“

Interessengeleitete Politik schließt übrigens eine grundsätzliche Orientierung an Werten gar nicht aus. Man sollte sich allerdings tunlichst mit ihnen nicht coram publico weit aus dem Fenster hängen. Werte eignen sich als innerer Kompass für das eigene Handeln. Zelebrieren sollte man seine Werte nur im stillen Kämmerlein vor dem Hausaltar. Wer sich öffentlich mit ihnen brüstet, riskiert auch, an ihnen gemessen zu werden. Wie zum Beispiel der Westen mit der von ihm herbeigebombten ‚Zeitenwende‘ im Frühjahr 1999 in Jugoslawien oder 2003 im Irak!

Wer Andacht schätzt, sollte daher das öffentliche Wertegequassel aufgeben und statt dessen einen Gottesdienst besuchen!

PS:

Zu den (wenigen) Dingen, die ich im Leben gelernt habe, nein: zu denen das Leben mich geprügelt hat, gehört folgende Einsicht: Je moralisierender Menschen oder Organisationen – mit welchen Argumenten und auf welchem ‚ideologischen‘ Hintergrund auch immer – auftreten, je mehr sie uns unter Druck setzen, möglichst sofort dies zu tun oder jenes zu lassen, je weihevoller die Worte klingen, die sie dafür ‚ins Feld führen‘, desto mehr sollte man sich vor ihnen in acht nehmen!Denn wer sich im Besitz der alleinseligmachenden Erkenntnis, Moral oder gar Gnade wähnt, der wird – wie die katholische und die stalinistische Inquisition bewiesen haben – zwangsläufig intolerant, nein: brutal, nein: mörderisch.

Der Weg von der Tugend zum Terror kann – siehe Robespierre – verdammt kurz sein!

Erstveröffentlichung: https://globalbridge.ch/von-der-schoenheit-der-werte/ 

COMMENTS

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    Horst Beger 1 Jahr

    PS:“Die Schönheit der alleinseeligmachenden katholischen Inquisition“ besteht darin, dass sie „dem Geist in der Wüste, das heißt dem Antichrist dient“, wie der Dichterphilosoph Fjodor Dostojewski das in seiner Erzählung „Der Großinquisitor“, einer Philisophie der Freiheit literarisch ausgedrückt hat.

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