Weltpolitik: Old Henry im Chatham HouseDr. Gerhard Mersmann

Weltpolitik: Old Henry im Chatham House

[von Dr. Gerhard Mersmann] Während sich hierzulande ein in konvulsivischen Exzessen badendes Empörium über Vorgänge echauffiert, die in einer gelebten Demokratie keinen Platz hätten, deuten sich auf der Makro-Ebene des Globus gewaltige Veränderungen an. Nicht, dass es außer für bestimmte Kreise in den USA und ihren transatlantischen Gefolgsleuten neu wäre, dass sich das globale Machtgefüge verschoben hätte. Nicht nur Russland hat sich von der tiefen Depression nach dem Zusammenbruch der einstigen Sowjetunion erholt, sondern auch China ist zu einer profunden Macht in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht mutiert und der schlafende Riese Indien wird noch von sich hören lassen. Dass, analog zum einstigen Abstieg des British Empire, ein Teil der us-amerikanischen Elite davon nichts wissen will, gehört zu den Grundmustern von Geschichte. Freiwillig gibt niemand den ersten Platz im Weltgefüge so einfach auf.

Daraus leitet sich nicht nur die Politik Donald Trumps ab, der den alten Begriff des „America First“ reaktivierte, sondern daran hält auch die neue Biden-Administration fest. Sie will die einstige Suprematie zurückgewinnen und spielt Szenarien durch, die politisch, ökonomisch und militärisch ausgerichtet sind. Was sie nicht beinhalten, ist die Akzeptanz einer längst erfolgten globalen Multipolarität.

Umso erstaunlicher mutet es an, dass bei einem Webinar des etablierten britischen ThinkTanks Chatham House, seinerseits Nachfolge des bereits 1920 gegründeten Royal Institut of International Affaires, ein Mann auftauchte, der bereits in den Geschichtsbüchern steht. Und nicht als Friedenstaube oder Appeasement-Politiker, sondern als knallharter Vertreter des us-amerikanischen Imperiums. Henry Kissinger meldete sich zu Wort und warnte eindrücklich davor, die entstandene globale Multipolarität zu leugnen und sich in der Illusion zu verirren, die USA könnten den Zustand der alleinigen Hegemonialmacht wiederherstellen. Selbst Zbigniew Brzezinski, seinerseits ehemaliger Präsidentenberater und Autor des Grand Chessboard, in dem die Wertherrschaft noch durch die Eroberung des eurasischen Blocks, sprich Russlands, als möglich erachtet wurde, war kurz vor seinem Tod zu einer ähnlichen Erkenntnis gekommen wie jetzt Henry Kissinger.

Kissinger selbst führte auf besagtem Webinar weiter aus, dass ein Festhalten an der jetzigen Politik auf eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg zustrebe und katastrophale Folgen haben werde. Er riet, eine politische Strategie zu entwickeln, die auf der Akzeptanz der neuen Verhältnisse beruhe und sowohl die Verteidigungsfähigkeit des Westens einschließe als auch die Kooperation mit den anderen mächtigen Playern ermögliche.

Realismus und Pragmatismus sind, betrachtet man die verheerende, jüngere Geschichte der internationalen Beziehungen, der beste Ratgeber gewesen, um Eskalation und Krieg zu vermeiden. Mangelnde Selbsteinschätzung und Bekehrungsdoktrinen haben jedesmal zur Katastrophe geführt. Insofern sind die Erkenntnisse und Einlassungen des alten Haudegens des US-Imperialismus von großer Bedeutung.

Angesichts der hiesigen Äußerungen zum Weltgeschehen drängt sich der Eindruck auf, als lebe man noch in der Welt des Kalten Krieges. Anders ist auch nicht zu erklären, wie medial um einen derartig lupenreinen Demokraten wie Nawalny gefiebert wird, der, bewegte er sich mit seinen Vorstellungen und seiner Terminologie unter anderem Namen in den bundesrepublikanischen Foren, als absolutes NoGo nach allen Regeln der Kunst verurteilt würde.

Fast könnte man zu der Auffassung kommen, wir lebten in einer verrückten Zeit. Letztere ist aber nicht verrückt, sondern turbulent. Wer in derartigen Perioden einen kühlen Kopf bewahrt, die tatsächlichen Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, seine eigene Bedeutung realistisch einschätzt und sich auf das Neue einstellt, kann mit eine guten Prognose rechnen. Wer schreiend die Vorstellungen der alten Verhältnisse in das neue Zeitalter herüberretten will und seine eigenen Kräfte überschätzt, dem blüht noch so manche Überraschung.

COMMENTS

WORDPRESS: 0
DISQUS: 0