Wertesystem der ÜbergangsgesellschaftProfessor Mark Urnov

Wertesystem der Übergangsgesellschaft

[von Professor Mark Urnov] In den späten 1980er-Jahren führte ich eine Umfrage unter Russen über ihr Vertrauen in soziale Institutionen durch. Die Frage lautete: „Inwieweit vertrauen Sie Vertretern der folgenden Berufe?“ Die Liste der Berufe wurde dem Gallup-Fragebogen entnommen. Die Ergebnisse der Umfrage waren beeindruckend. In den USA war in den späten 1970er-Jahren Priester der vertrauenswürdigste Beruf (etwa 80 Prozent der Befragten), während Gewerkschafter am wenigsten Vertrauen genossen (14 Prozent). In Russland genoss das Militär zu jener Zeit das größte Vertrauen (in den USA dagegen hatte das Militär mit 14 Prozent das Mindestvertrauen), und Gewerkschafter genossen das geringste Vertrauen (zwei Prozent). Deshalb sollte man sich nicht wundern, dass die sowjetische Gesellschaft mit der minimalen Schwächung der totalitären Kontrollmethoden schnell zusammenbrach.

Jetzt ist die Situation qualitativ anders. Laut einer Umfrage des Forschungszentrums ROMIR vertrauten im Jahr 2015 79 Prozent der Befragten dem Präsidenten (86 Prozent laut des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum), 77 Prozent der Armee, 75 Prozent der orthodoxen Kirche, 69 Prozent der Regierung, 49 Prozent den lokalen Behörden und 48 Prozent den Medien.

Die Situation hat sich seither etwas verändert: Nach der Umfrage des Lewada-Zentrums ist das Vertrauen in den Präsidenten von 86 Prozent im Jahr 2015 auf 66 Prozent im Jahr 2019 gesunken. Dieser negative Trend geht jedoch nicht über die Vertrauensschwankungen hinaus, die seit 2000 beobachtet wurden.

Auch das Vertrauensniveau in die Gouverneure verhält sich ähnlich: Nach den Daten des Lewada-Zentrums schwankte es im Zeitraum zwischen 2005 und 2019 zwischen 51 bis 64 Prozent und 61 Prozent im Jahr 2019. Dasselbe Muster zeigt sich in den Antworten auf die Frage „Glauben Sie, dass sich das Land heute in die richtige Richtung bewegt, oder ist es auf dem falschen Weg?“: Von 2005 bis 2019 schwankte der Anteil derjenigen, die glauben, dass sich die Dinge in die richtige Richtung bewegen, zwischen 37 und 60 Prozent, 2019 waren es 49 Prozent.

Kurz gesagt, was das Vertrauen in die sozialen Institutionen betrifft, ist die heutige russische Gesellschaft unvergleichlich stabiler als die sowjetische Gesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Auch in politischer Hinsicht ist die gegenwärtige Regierung kaum bedroht. Die Opposition ist extrem schwach und hat vor allem keine charismatischen Anführer. Die Versuche von Alexej Nawalny, ein charismatischer Oppositionsführer zu werden, sind gescheitert, und selbst am Horizont sehen wir keine weiteren bemerkenswerten Persönlichkeiten. Die Schwäche der Opposition damit zu erklären, dass man sie nicht im Fernsehen zeigt oder mit anderen Formen der politischen Zensur, erscheint mir als falsch. Natürlich gibt es Einschränkungen. Aber ihre Rolle bei der Unbeliebtheit der oppositionellen Kräfte ist minimal.

Der Hauptgrund ist eher die emotionale Übereinstimmung der gegenwärtigen Regierung mit der Stimmung der großen Mehrheit der Russen. Gegenwärtig ist der „durchschnittliche“ Bürger Russlands sehr unpolitisch, neigt nicht zu Massenaktionen, will Stabilität und wünscht sich Größe des Landes. In diesem Sinne sind Proteste im Fernen Osten eher die Ausnahme als die Regel. Die Diskussion, dass diese Proteste keine Unterstützung erhalten, weil sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, ist zweifelhaft: Wer will, kann sich im Internet oder im Radio leicht über sie informieren. Aber es gibt nur sehr wenige Menschen, die dies tun.

Der niedrige Lebensstandard, der Experten in internationalen Vergleichen manchmal schockiert, macht die Bürger sicher nicht glücklich. Aber es ist auch nicht erschreckend. Schließlich ist die aktuelle wirtschaftliche Lage aus der Sicht des „normalen“ Verbrauchers viel besser als 1970 bis 1980. Sie ist auch besser als die Situation in den 1990er-Jahren.

Um die Situation in den 1980er-Jahren zu veranschaulichen, möchte ich ein Bild skizieren, das ich selbst während einer Folklore-Expedition im Sommer 1980 beobachtet habe: Kleinstadt Sewsk an der Grenze zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine. Ein Lebensmittelgeschäft, in dem es buchstäblich nichts gab. Überhaupt nichts. Mit einer kleinen Ausnahme – in der Tiefe der Theke befand sich ein Tablett, darauf ein Haufen Rinderknochen ohne jegliche Anzeichen von Fleisch. Auf dem Pappschild stand: „Nur für Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges“.

Um das heutige Wertesystem der russischen Übergangsgesellschaft zu veranschaulichen, füge ich ein Foto bei, das ich diesen Sommer auf der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft in Moskau aufgenommen habe: Geschwärzter Lenin, vor dem Hintergrund eines luxuriösen Stalinbaus stehend, den verstorbenen Staat verherrlichend (der Pavillon der Sowjetunion), auf dem aus dem Wappen des verstorbenen Staates die Trikolore scheu wächst. Und natürlich ziehen die Wolken die Stirn in Falten…

COMMENTS

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    Horst Beger 4 Jahren

    Professor Urnovs Analysen der russischen Gesellschaft von vorgestern (Ende der 1980.-Jahre) bis heute zeigen eine für den Westen erstaunliche Kontinuität. Es ist daher eher Wunschdenken, von einer „Übergangsgesellschaft“ zu sprechen. Und wenn die meisten Lenin-Denkmale in Russland die Zeiten überdauert haben zeigt dies, dass die Russen im Gegensatz von Deutschland zu ihrer Geschichte stehen; ganz abgesehen davon, dass Lenin und die Oktoberrevolution mit deutscher Hilfe in Russland installiert wurde.

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