Wes der Fürst, des der GlaubFasbender, Dr Thomas © russland.news

Wes der Fürst, des der Glaub

Die deutschen Sozialdemokraten, lange ein Inbegriff für Verständnis und Offenheit Russland gegenüber, ringen um ihre künftige Ostpolitik. Eine jüngere Generation weigert sich, nur um des lieben Friedens willens anzuerkennen, dass die Verhältnisse anderswo – anders sind. Man kann auch sagen: Sie weigert sich, Realitäten durch Anerkennung akzeptabel zu machen.

Begonnen hat es im Frühjahr 2016 mit der Gründung des Arbeitskreises Neue Ostpolitik durch drei SPD-Mitglieder. Einer von ihnen, der Historiker und ehemalige US-Stipendiat Jan C. Behrends, blies wenig später im Parteiorgan Vorwärts zum Angriff: „Wie eine neue Ostpolitik der SPD aussehen sollte“.

Seither kämpfen die Vertreter des etablierten Kurses, in der Öffentlichkeit verkörpert durch den Ex-Parteichef und Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums Matthias Platzek, zunehmend aus der Defensive heraus. Die Modernisten, um sie so zu nennen, sähen es am liebsten, wenn sein Forum die Kontrolle über den Petersburger Dialog verlöre; dann könnten sie auch dort den Russen die Leviten lesen. Altkanzler Gerhard Schröder, der mit Realitäten von allen die geringsten Probleme hat, ist seinen Genossen ohnehin nur noch ein Objekt der Fremdscham.

Für den atlantischen Flügel der SPD war der Wechsel von Heiko Maas ins Außenamt ein Gottesgeschenk. Damit ist die Partei, 59 Jahre nach dem Godesberger Programm, jetzt endlich ganz im Westen angekommen. Die Freude teilt übrigens auch die stramm auf Demokratie gebürstete Riege, die im Mittelbau des Ministeriums den Ton angibt.

Was ist das für eine Generation, die parteiübergreifend und ohne Rücksicht auf Verluste die westlichen Werte wie eine Monstranz durch die Weltgeschichte trägt? Sie ist geboren in den zehn, fünfzehn Jahren um 1970, die ersten Kinder der Achtundsechziger. Ihre Erinnerungen bestehen nicht aus Bombennächten, auch nicht aus der Angst der Eltern vor der anderen Seite im Kalten Krieg. Sofern sie aus dem Westen stammen, sind sie aufgewachsen und erzogen im wohligen Bewusstsein, dass der liberalen Demokratie die Zukunft gehört. Überall. Irgendwann.

Ein Beispiel: Im Berliner Abgeordnetenhaus hat der FDP-Mann Marcel Luthe sich mit Vehemenz gegen die „Gleichsetzung von Angriffen auf Juden mit irgendwelchen anderen Angriffen auf Menschen in Deutschland“ ausgesprochen. Das hat ihm viel Ärger eingebracht. Dabei hat er lediglich das in seiner Generation (Jg. 1977) – stärker als in den Generationen davor und danach – wirkmächtigste deutsche Tabu beschrieben: die Singularität des Holocaust. Zwei andere: die Universalität der Menschenrechte und der sakrosankte Status der westlichen Werte. Luthe hat das Heilige der Generation zum Ausdruck gebracht, die in den Jahren um und nach 1990, nach dem „Ende der Geschichte“ (F. Fukuyama), ihr Coming of Age erlebte.

Das Haus Springer, dem die Sozis lange Zeit als Vorhut der Bolschewiken suspekt waren, wohnt der Exekution der alten Garde mit Genugtuung bei. Axel Springer höchstselbst hat den Ton vorgegeben; Willy Brandts Besuch in Warschau 1970 ließ ihn Gift und Galle spucken: „(…) was der Kanzler und seine Freunde für Morgenröte halten, ist die Farbe des Fahnentuches sowjetischer Imperialgewalt, die ganz Europa bedroht. Wer dabei glücklich ist, riskiert nicht nur eigenes Unglück“, schrieb der Verleger seinerzeit in der Welt.

Ein halbes Jahrhundert später stößt Welt-Online-Chefkommentator Jacques Schuster ins gleiche Horn, nur dass es statt sowjetisch jetzt russisch heißt.           Die Ostpolitik der siebziger Jahre, die „hochrangigen Gesprächen und Übereinkünfte der Sozialdemokraten mit den herrschenden kommunistischen Parteien Osteuropas und der Sowjetunion, darunter auch der SED“, bezeichnet Schuster als „so fragwürdig, so moralisch verwerflich, dass heutige Sozialdemokraten nicht einmal mehr an sie denken sollten“. Und jetzt lohnt es sich, genau zu lesen: „(…) das Gebot der damaligen Stunde lautete: Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden. Ihm hatte sich selbst die Freiheit unterzuordnen.“

Die Freiheit dem Frieden unterordnen. Vielleicht muss man in Bombennächten groß geworden sein, um das nachvollziehen zu können.

Ja, Ostpolitik im Brandt’schen Sinne nahm und nimmt in Kauf, dass man um des Friedens willen auch mit Diktatoren redet. Ihre Totengräber, die schneidigen Demokratieapostel im Maßanzug, meinen das nicht nötig zu haben. Sie führen einen Religionskrieg unter dem Banner ihrer heiligen westlichen Werte: In hoc signo vinces.

Wie in allen Religionskriegen geht es nicht nur um Heiliges, sondern auch um Macht. Das ist der Charakter der westlich-russischen Konfrontation: nach außen ein Krieg um universale Werte; im Kern ein Revierkampf zwischen den USA, die sich in Eurasien zurückgedrängt fühlen, und dem Rivalen Russland.

Das Instrumentarium ist uralt. Handelssanktionen gab es schon beim Kampf der Päpste in Avignon und Rom vor 600 Jahren. Sie sind Beugestrafen wie die Exkommunikation. Was ist der Abbruch der Dialogformate, der Ausschluss der „Putinversteher“ aus der Gemeinschaft anderes?

Das Gefährliche an diesem Krieg ist, dass er als hybrider Krieg im 21. Jahrhundert über lange Zeit und ohne großen materiellen Aufwand oder Schaden geführt werden kann. Cyberwar, Propaganda, Fake News und Destabilisierung kratzen nur an der Oberfläche; Handel und Wandel schreiten fort. In Wirklichkeit warten beide Seiten darauf, dass der Gegner sich von selbst erledigt. Derweil kriecht das Gift des Krieges immer tiefer in die Seelen hinein. Und irgendwann kommt doch die Chance der Eskalation. Dann dürfen sich all jene bewähren, die mutig „Freiheit vor Friede“ rufen, solange keine Bombe fällt.

Am Ende steht kein Sieg, sondern ein neuer Friede. Ziemlich sicher wird er so beschaffen sein wie der Westfälische 1648: Cuius regio, eius religio – wes der Fürst, des der Glaub. Jede Gesellschaft, jede Zivilisation, jede Kultur bestimmt ihre eigenen Werte am Ende selbst. Spätestens dann wird es heißen: Das hätte man auch früher wissen können.

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