Zu Putins Position zur NATO und der Ukraine in der  jährlichen großen PressekonferenzSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Zu Putins Position zur NATO und der Ukraine in der jährlichen großen Pressekonferenz

[Eberhard Schneider] Am 23. Dezember 2021 führte der russische Präsident Wladimir Putin seine jährliche Pressekonferenz durch.[1] Sie fand nach strengen Corona-Regeln unweit des Kreml im großen Manegesaal vor über 500 eingeladenen russischen und internationalen Journalisten statt, dauerte über vier Stunden und wurde von den föderalen Fernsehsendern und vielen Rundfunkstationen live übertragen, die rund 40 Fragen mussten vorher eingereicht werden.

Diesmal spielte die Außenpolitik eine große Rolle. So fragte der Korrespondent von Sky News Putin: „Können Sie bedingungslos garantieren, dass Sie die Ukraine oder einen anderen souveränen Staat nicht wirklich angreifen, oder hängt das vom Verlauf der Verhandlungen ab?“ Putin antwortet: „Unser Handeln wird nicht vom Verlauf der Verhandlungen abhängen, sondern von der bedingungslosen Gewährleistung der Sicherheit Russlands heute und aus historischer Perspektive. Diesbezüglich haben wir deutlich gemacht, dass die weitere Ostbewegung der NATO inakzeptabel ist… Und Sie verlangen von mir irgendeine Art von Garantien. Sie müssen uns eine Garantie geben – Sie! Und sofort, jetzt.“ Putin warf dem Westen vor, Russland „einfach eklatant getäuscht“ zu haben, denn er habe in den 90er Jahren zugesagt, die NATO „keinen Zentimeter östlich“ auszudehnen.

Doch das hat der Westen niemals zugesagt. So antwortete der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow in seinem Interview am 16. Oktober 2014 auf die Frage der NATO-Ausdehnung in Richtung Osten: „Das Thema ‚NATO-Erweiterung‘ wurde überhaupt nicht diskutiert und in diesen Jahren auch nicht zur Sprache gebracht. Ich sage dies mit voller Verantwortung. Kein einziges osteuropäisches Land hat das Thema angesprochen, auch nicht nach dem Ende des Warschauer Pakts im Jahr 1991. Auch westliche Führer brachten es nicht zur Sprache. Ein weiteres Thema, das wir angesprochen haben, wurde diskutiert: sicherzustellen, dass die militärischen Strukturen der NATO nicht vordringen und dass nach der deutschen Wiedervereinigung keine zusätzlichen Streitkräfte des Bündnisses auf dem Territorium der damaligen DDR stationiert werden. Die in Ihrer Frage erwähnte Aussage von Baker [damaliger amerikanischer Außenminister] wurde in diesem Zusammenhang gemacht. Kohl [damaliger deutscher Bundeskanzler] und Genscher [damaliger deutscher Vizekanzler und Außenminister] haben darüber gesprochen. Alles, was getan werden konnte und musste, um diese politische Verpflichtung zu festigen, wurde getan. Und erfüllt. In der endgültigen Regelung mit Deutschland hieß es, dass im Osten des Landes keine neuen militärischen Strukturen geschaffen würden; es würden keine zusätzlichen Truppen stationiert; dort würden keine Massenvernichtungswaffen platziert. Es wurde all die Jahre beobachtet. Stellen Sie Gorbatschow und die damaligen sowjetischen Behörden also nicht als naive Menschen dar, die vom Westen um den Finger gewickelt wurden. Wenn es Naivität gab, war es später, als das Problem auftauchte. Russland hatte zunächst keine Einwände.“[2]

Der Wunsch osteuropäischer Länder, in die NATO aufgenommen zu werden, wurde nach der Staatsdumawahl am 7. Dezember 1993 stärker, denn bei dieser ersten Parlamentswahl auf der Grundlage der neuen Verfassung, die am selben Tag mit einem Referendum gebilligt worden war, erhielt die nationalistisch-populistische „Liberal-demokratische Partei Russlands“ des Wladimir Schirinowskij 22,92 % der Stimmen, das war das beste Ergebnis aller Parteien.[3] Die Osteuropäer befürchteten wohl mittelfristig im Falle der Erholung der russischen Wirtschaft und Rüstungsindustrie Expansionsbestrebungen einer nationalistischen Führung im Kreml.

Im Jahr 1994 hatte – laut Aussage von Horst Teltschik, dem Außenpolitikberater von Bundeskanzler Helmut Kohl – der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton seinem russischen Kollegen Boris Jelzin sowohl mündlich als auch schriftlich in einem Brief angeboten, dass Russland Mitglied der Atlantischen Allianz werden sollte. Der russische Präsident habe ihm geantwortet, dass der Zeitpunkt für eine solche Entscheidung für Russland noch zu früh sei.[4] Auf einer Pressekonferenz der NATO-Ratstagung in Lissabon im November 2010, zu der auch der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedew eingeladen worden war, wies dieser die Frage eines Journalisten, ob Russland eines Tages der NATO beitreten werde, nicht entrüstet zurück, sondern antwortete, dass dies möglich sein könnte, wenn aus der NATO eine politische Organisation geworden sei.

Die NATO ist ein Bündnis demokratischer Staaten, das der Verteidigung dient, nicht der Aggression. Aus der Theorie der internationalen Beziehungen ist bekannt, dass demokratische Systeme nicht aggressiv sind, weil deren Entscheidungsprozesse mehrstufig, komplex und langwierig sind, was Aggressionen behindert. In der praktischen Politik nutzt das nicht viel, denn Befürchtungen, auch wenn sie unbegründet sind, müssen ernst genommen werden, da sie als real wahrgenommen werden.

Der NATO-Beitritt der Ukraine, um den es vor allem Putin geht, ist nicht nur nicht aktuell – die Ukraine ist nicht einmal Mitglied des Membeship Action Plans, welcher der Vorbereitung eines NATO-Beitritts dient -, sondern auch nicht vorstellbar, solange Kiew nicht auf die Krim und auf die von den Separatisten in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk besetzten Territorien für immer verzichtet, – das ist nicht zu erwarten.

In einem langen Artikel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ hatte Putin am 12. Juli 2021 sein Ukrainebild dargelegt[5]: Die Ukraine sei und war nie ein unabhängiger Staat, sondern ein unveräußerlicher Teil Russlands, was schon der Name „Ukraine“ ausdrücke, „das am Rande Gelegene“, dem es an einer ausgeprägten ethnischen Identität, Kultur, Religion und Sprache mangele. Territorial gesehen habe die jetzt unabhängige Ukraine keine historische Grundlage und sei zusammengestückelt aus Gebieten des Zarenreichs und der Sowjetunion. Die Ukraine habe immer gediehen, wenn sie zu Russland gehörte, und gelitten, wenn sie nicht dazugehört habe. Die Unabhängigkeit der Ukraine sei immer von Feinden Russlands inspiriert und gefördert worden, die sie als Waffe gegen Russland eingesetzt hätten.[6]

In diesem Zusammenhang sei auf meine Oktober-Kolumne „Russische Ukraine-Politik“ verwiesen, in der ich unter Berufung auf Dmitrij Trenin, Oberst a.D. der sowjetischen Armee und Direktor der Denkfabrik Carnegie Moskau[7], dargelegt hatte, dass die Russische Föderation ein vollwertiges Russland ist, das keine weitere territoriale Expansion benötigt, insbesondere durch die Ukraine. Lange vor der Unterstellung der Ukraine durch den Kosaken Bogdan Chmelnyzkyj 1654 unter die Hoheit des russischen Zaren Alexej Michajlowitsch war Russland zu einer Macht geworden. Diese „Wiedervereinigung“ hat wenig Einfluss auf die internationale Position des Russischen Reiches gehabt. Russlands „einzigartige stabile geopolitische Position“ ist das Ergebnis der Entwicklung Sibiriens und des Zugangs zum Pazifischen Ozean. Nowgorod gilt zu Recht als Wiege der russischen Staatlichkeit und als Ort, von dem die erste herrschende Dynastie stammt, nicht Kiew.

Putin dürfte wohl kaum annehmen können, dass die USA und die NATO die gewünschte Sicherheitsgarantie geben werden, denn das würde bedeuten, dass die Ukraine in wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Fragen nicht souverän, sondern fremdbestimmt ist. Auf der anderen Seite kann der russische Präsident nicht alle halben Jahre rund 100.000 Soldaten an die russische Westgrenze zur Ukraine hin- und zurückverlegen, zum ersten Mal im April 2021, um ein Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden am 16. Juni 2021 in Genf zu erreichen, zum zweiten Mal im Dezember 2021. Putin hat sich meines Erachtens in eine Falle begeben, denn die Kosten eines möglichen Krieges zwischen Russland und der Ukraine würden die Vorteile für Russland bei weitem überwiegen. Ein solcher Krieg birgt erhebliche Risiken für die Wirtschaft, die politische Stabilität und die Außenpolitik Russlands.[8]

[1]              http://kremlin.ru/events/president/news/67438

[2] https://www.rbth.com/international/2014/10/16/mikhail_gorbachev_i_am_against_all_walls_40673.html

[3]              Der Autor dieser Zeilen beobachtete damals diese Wahl und auch das Verfassungsreferendum im Auftrag des „Office for Democratic Institutions and Human Rights““ der OSZE.

[4]              Teltschik, Horst, Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. München 2019, S. 114

[5]              http://kremlin.ru/events/president/news/66181

[6]              https://carnegieendowment.org/2021/11/12/ukraine-putin-s-unfinished-business-pub-85771

[7]              https://carnegie.ru/commentary/85272

[8]              Vgl. dazu meine Dezember-Kolumne „Wird Russland die Ukraine militärisch angreifen?“

COMMENTS

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    Mathias Dungs 2 Jahren

    Ich verstehe nicht, warum die Ukraine nicht militärisch neutral bleiben kann, analog zu Finnland, Österreich oder Jugoslawien nach den 2. Weltkrieg. Diese Länder waren nicht in der NATO , haben sich wirtschaftlich aber westlich entwickelt und sind später sogar zum Teil in die EU eingetreten. Im Gegenzug muss Russland auf Militärische Einflussnahme verzichten. Dem Donbas könnte man (ähnlich wie Südtirol) eine gewisse Autonomie zugestehen. Er verbleibt aber in der Ukraine. So wird dem Sicherheitsbedürfnisse Russlands Rechnung getragen und die Ukraine könnte sich frei entwickeln.
    Damals hat man diese neutralen Pufferstaaten noch für vollkommen normal grhalten, also warum heute nicht?

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    Johannes Lerchner 2 Jahren

    Dass eine NATO-Osterweiterung über die damalige DDR hinaus Anfang 1990 noch kein Thema war, widerspricht den Fakten. In einem Beitrag von M. E. Sarotte in Foreign Affairs vom November/Dezember 2021 (Containment Beyond the Cold War, https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2021-10-19/containment-beyond-cold-war?utm_medium=newsletters&utm_source=fabackstory&utm_content=20221226&utm_campaign=FA%20Backstory_122621_The%20Backstory:%20The%20Collapse%20of%20the%20Soviet%20Union&utm_term=fa-backstory-2019) wird dargestellt, dass bereits am 2. Februar 1990 in einem Gespräch des US-Außenministeriums mit westdeutschen Diplomaten die Frage diskutiert wurde, was die NATO über die Linie des Kalten Krieges hinaus tun könnte, wie z.B. „die Ausweitung ihrer territorialen Abdeckung auf . . . Osteuropa.“ Freigegebene Dokumente belegen (https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early), dass insbesondere Baker sehr wohl mit dieser Frage beschäftigt war. Außerdem positionierte sich Genscher im Beisein von Baker ganz klar gegen eine NATO-Erweiterung nach Osteuropa (https://www.youtube.com/watch?v=IwgLljPrPeY). Offensichtlich hat das Thema zu der Zeit doch eine Rolle gespielt.

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    Horst Beger 2 Jahren

    Ziel der NATO war und ist es, „Amerika in Europa zu halten, Russland draußen zu halten und Deutschland klein zu halten“, wie es der erste NATO- Generalsekretär formuliert hat. Deshalb ist die Behauptung von Dr. Schneider, „die NATO sei ein Bündnis, das der Verteidigung dient“ (gegen wen?) mehr als durchsichtig. Auch die Behauptung, „der NATO-Beitritt der Ukraine sei nicht aktuell“ widerspricht der jahrzehnte alten Forderung Amerikas, die Ukraine (und Georgien) in die NATO aufzunehmen, auch wenn das aus formellen Gründen derzeit noch nicht möglich ist, aber umgangen wird, in dem die Ukraine von den USA mit Waffen beliefert (gegen wen?) und finanziert wird, und die bellizistischen Transatlantiker Deutschlands und des Westens sich den Forderungen Amerikas mehr und mehr anschließen.

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