Alte Linien und ein neues Debakel

Alte Linien und ein neues Debakel

[[von Dr. Gerhard Mersmann]] Das wahrhaft Schöne an unserer Zeit ist der Umstand, dass man sich täglich die Augen reiben muss. Um sich zu vergewissern, ob das, was zu sehen oder zu hören ist, den tatsächlichen Ereignissen entspricht oder nicht. Bei dem Wust an so furchtbar titulierten Fake News ist immer die Recherche gefragt. Und zwar auf allen Seiten! Wer sich auf der sicheren, der einzigen Wahrheit verbürgten wähnt, hat das Spiel bereits verloren. Aber das einmal nur ganz am Rande. Für die Verbohrten. Auf allen Seiten! Aber lassen wir das.

Heute Morgen erhielt ich eine Email mit einem Attachment, das mich nicht nur erfreute, sondern tatsächlich dazu veranlasste, zweimal hinzuschauen respektive zu hören. Es war die Neujahrsbotschaft der us-amerikanischen Botschafterin in Moskau, Lynn Tracy. Sie wünschte sich und den Russen, dass der so wichtige Austausch in allen gesellschaftlichen Bereichen am Leben bleibe und ausgebaut werde. Sie erzählte, dass sie selbst ein Kind des Kalten Krieges sei und wüsste, wie wichtig menschliche Kontakte seien, um in politisch schwierigen Zeiten, die mit ernsthaften Konflikten beladen sind, am gegenseitigen Verständnis zu arbeiten und die Sichtweisen der anderen Seite kennenzulernen. Der Dialog von Amerikanern und Russen aus allen Gesellschaftsschichten sei eine wichtige Voraussetzung dafür.

Als ich mir die Botschaft anhörte, klang es für mich fast so, wie die Interaktion von Alliierten. Und wenn ich mir dazu die Parolen aus dem Auswärtigen Amt dieser Republik ansehe, dann erinnern mich diese an die alten, kriegerischen Konfrontationslinien. Ich erspare mir die Formulierung, so weit seien wir wieder gekommen. Die Stimme jedenfalls, die mit der Kenntnis der Vergangenheit und über die Notwendigkeit der Verständigung spricht, ist zumindest im offiziellen Teil des Gesellschaftslebens erloschen und wird dominiert von Ressentiments aus der untersten Schublade. Es scheint, als führten alte Linien zu einem neuen Debakel.

Die Argumentation, dass Demokratie das sei, was bei freien, gleichen und geheimen Wahlen via Ergebnis zu Amt und Würden gelangt, ist, bei den verzweifelten Versuchen einer Regierungsbildung aufgrund größerer Parteienvarianz so nicht mehr zu halten. Und die These, dass das, was letztendlich an Koalitionen zustande kommt, das Ergebnis notwendiger Kompromisse sei, hat sich a) bei der Ampel als nicht stabil genug entpuppt und ist b) ein doppelt scheußliches Testat, wenn man sich den militaristischen, bellizistischen, kolonialistischen und imperialistischen Eifer ansieht, mit der die Bundesrepublik Deutschland seit der Besetzung des Außenamtes in der jetzigen Form in die Welt hinaus agiert. Ich benutze die Formulierung sonst nicht, aber als Beobachter aus dem eigenen Land bleibt nur noch das Fremdschämen.

Letzteres gilt auch für das Auftreten der Unperson in Syrien. Gerade weil die Warnungen vor einem durch Terrorismus groß gewordenen Ensemble mehr als berechtigt sind und die geplante, unwürdige, aber misslungene Umarmung aufzeigt, dass im jetzigen Stadium der Werteanspruch und die vermeintlichen geopolitischen Notwendigkeiten sich diametral entgegenstehen, war der Besuch der Außenministerin dort wieder ein Lehrstück. Eines dafür, wie man glaubt, mit doppelten Standards über die Runden zu kommen, wie man sich vorstellt, dass die eigenen Sitten allen anderen überlegen sind und wie man es mit Bravour bewerkstelligt, sich selbst aus dem Spiel zu nehmen und zu isolieren, weil man in seiner sektenhaften Halsstarrigkeit in einer multikulturellen Welt mit divergierenden Interessen zum Scheitern verurteilt ist. Wenn das der Konsens ist, der aus dem Prozess demokratischer Usancen entstanden ist, dann ist jemand dabei, alles zu ruinieren, was dieses System zu bieten hat.

COMMENTS

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    Stefan 2 Wochen

    Hat der Artikelautor eine Namen?

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    Horst Beger 3 Wochen

    Auf die Frage, was Demokratie ist, hat Friedrich Schiller in seinem „russischen“ Dramenfragment „Demetrius“ geantwortet:
    „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn.
    Verstand ist stets bei wen´gen nur gewesen.
    Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat?…

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      Horst Beger 2 Wochen

      Die Antworten Schillers aus seinem „Demetrius“ Fragment beziehen auf den polnischen Sejm und nicht auf die russische Duma und fahren fort:
      „Man muss die Stimmen wägen und nicht zählen.
      Der Staat muss untergehen früh oder spät,
      Wo Mehrheit herrscht und Unverstand entscheidet.“

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