Kommentar von Prof. Alexander Rahr. Der Bundesverteidigungsminister lässt nicht locker. Er wird nicht müde, der Bevölkerung einzutrichtern, dass Deutschland und die NATO kurz vor einem Krieg mit Russland stünden. Dabei widersprechen Boris Pistorius führende russische Politiker: Russland habe gar keine Absicht, die NATO anzugreifen. Auch aus den USA und anderen NATO-Staaten kommen keine Kriegsankündigungen. Trotzdem sind die Äusserungen von Pistorius bitterernst; so hat in den vergangenen 80 Jahren kein deutscher Verteidigungsminister gesprochen.
Die Kriegstüchtigkeit-Rhetorik untergräbt vollkommen die jahrzehntelangen Bemühungen um Völkerverständigung, Aussöhnung und Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges. Der Ukraine-Krieg ist schlimm, aber er darf nicht dazu führen, dass die gesamten Friedensbemühungen vergangener Generationen über Bord geworfen werden.
Vielleicht glaubt Pistorius, dass Russland die verlorene sowjetische Hemisphäre wirklich zurückerobern möchte. Eine solche Lageeinschätzung wäre jedoch unseriös, damit wäre Pistorius den Polen und Balten auf den Leim gegangen, die Deutschland in ihren eigenen Krieg mit Russland hineinziehen wollen. In Wirklichkeit hat Russland keine Absichten das Sowjetimperium wieder aufzurichten, die Ostflanke der NATO hat nichts zu befürchten. Wenn der Ukraine-Krieg endet, enden auch die kriegerischen Provokationen Russlands und deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine.
Vladimir Putin will die slawische Union neu begründen – so wie sie 1991 beim Zerfall der Sowjetunion geplant war. Russland will mit seinen historischen Kerngebieten in der Ostukraine und Belarus vereint werden. Am Ende des Krieges wird es höchstwahrscheinlich zur Teilung der Ukraine kommen, 20% des heutigen ukrainischen Territoriums wird an Russland gehen, die Restukraine bekommt ihren Platz in der Europäischen Union.
Dennoch werden Deutschland und die EU-Länder „kriegstüchtig“ gemacht, auf einen direkten Waffengang mit Russland vorbereitet, und das, obwohl in breiten westlichen Bevölkerungsschichten ein Krieg mit Russland mental gar nicht präsent ist. Warum macht Pistorius solche verbalen Kampfankündigungen?
Einer der Gründe mag darin liegen, dass in Deutschland ernsthaft befürchtet wird, dass als Antwort auf eine Taurus-Raketen-Lieferung an Kiew, Moskau mit einem Militärschlag gegen eine Rüstungsfabrik in Europa reagieren könnte. Dann müsste der Artikel 5 der NATO greifen. Was das in der Praxis bedeutet, kann sich noch keiner vorstellen.
Vielleicht wollen sich westliche Politiker auch mit einer Niederlage der Ukraine niemals abfinden und gedenken, im Falle einer ukrainischen Abnutzung auf dem Schlachtfeld, die europäische Sicherheitsarchitektur mit NATO-Armeen wieder herzustellen?
Ein konventioneller Krieg Russland – NATO ist höchst unwahrscheinlich. Im worst-case-Szenarium wird mit Atombomben gekämpft, ganze Städte und Landstriche in Europa (und Russland) würden ausgelöscht werden. Ahnt Pistorius, dass ein Krieg mit Russland genau diese Ausmasse annehmen würde, oder wird er von seinem Generalstab zu optimistisch informiert?
Die wahre Beurteilung der aktuellen Lage ist die, dass die Kriegsparteien unverzüglich an den Verhandlungstisch gehören. Die Gefallenenzahlen an der Front sind zu hoch. Ökonomisch beschädigen sich die Kontrahenten auf viele Jahre. An einer Aufteilung der Ukraine führt kein Weg vorbei. Danach wird dieses zerstörte Land jahrelang Gelder für den Wiederaufbau benötigen, nur Deutschland und die finanzkräftigen EU-Staaten wären in der Lage, einen solchen ambitionierten Wiederaufbau zu stemmen.
Um wieder aufzubauen, müssen die Kriegshandlungen endlich gestoppt werden. Dass Russland dazu nicht bereit wäre, stimmt nicht. Russlands Wirtschaft leidet inzwischen an den westlichen Sanktionen. Moskau ist aber nicht bereit, auf seine sicherheitspolitischen Forderungen nach einer Entmilitarisierung der Ukraine und nach einem Ausschluss einer NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine zu verzichten.
Wenn Europa denkt, dass die Ukraine über neue Kriegsaufrüstung sein Territorium im Osten zurückgewinnen kann, irrt es. Wann wird uns, den Europäern klar, dass wir uns mit dieser Niederlage der Ukraine abfinden müssen – so bitter es ist. Zuvor mussten wir uns mit dem Verlust von Afghanistan und dem Scheitern des arabischen Frühlings in Nordafrika abfinden. Wir werden uns mit der asiatischen Führungsmacht China einigen – jedenfalls keinen neuen Rohstoffkrieg anfangen, der uns ruiniert. Und wir müssen die neue Friedensordnung einer polyzentristischen Welt akzeptieren lernen. Wir alle müssen in der neuen Realität anfangen zu leben und den Frieden neu gestalten – wie einst die Entspannungspolitiker.
Historiker, die die aktuelle Zeit später beschreiben werden, sollten zu dem Schluss kommen, dass 2022-25 die Menschheit gerade noch haarscharf an einem Atomkrieg vorbeigeschlittert ist. Wer überbringt diese Botschaft an Pistorius?
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