[von Michael Schütz]
1.) Es gibt nur zwei Grundemotionen, von denen sich alle anderen Emotionen ableiten lassen: Liebe und Angst.
Während wir durch unsere Existenz schleudern, können wir immer wieder einmal kurz innehalten und uns die Frage stellen: Ist das, was ich da gerade mache, Liebe oder ist es Angst?
Mehr Raketen auf Russland abfeuern, an die reinigenden Kraft eines Atomkriegs glauben: ist das Liebe oder ist es Angst?
2.) Zur Anfang Dezember erfolgten Wiedereröffnung der vor fünf Jahren havarierten Kathedrale Notre Dame in Paris gab sich eine illustre Schar an europäischen Staats- und Regierungschef ein Stelldichein und sogar der (nächste) Onkel aus Amerika machte seine Aufwartung.
Ein bemerkenswerter Vorgang.
Notre Dame, unsere (liebe) Frau zu Paris, zu deutsch die Gottesmutter, symbolisiert zwei Grundpfeiler Europas: Das Christentum und zugleich einen Höhepunkt europäischer Bau- und Ingenieurskunst, sowie eines damit verbundenen gemeinsamen kulturellen Bewusstseins.
Inmitten einer Welle aus Wokeness sowie Geschichts- und Kulturvergessenheit erhebt sich diese Kathedrale wie ein Phönix aus der Asche und wird so zu einem Bekenntnis zu Europa und zu seinen kulturellen Grundlagen.
3.) Papst Johannes Paul II. rief zur Eröffnung seines Pontifikats am 22. Oktober 1978 den Menschen auf dem Petersplatz in Rom (und an den Fernsehgeräten) zu: Habt keine Angst – Fürchtet Euch nicht!
Damit hat er eine Grundidee des Christentums zum Ausdruck gebracht, unter die er sein Pontifikat insgesamt gestellt hatte.
Der Fall des eisernen Vorhangs und damit die Hoffnung auf eine friedliche Neugestaltung Europas wird nicht zuletzt auch seinem Wirken und diesem seinem Ausruf „Fürchtet Euch nicht“ zugeschrieben.
Später bemerkte Johannes Paul II. dazu unter anderem: „Der Mensch, der auch nach dem Niedergang des Kommunismus nicht aufgehört hat, sich zu fürchten, und in Wahrheit viele Gründe für diese Furcht hat, braucht diese Worte. Die Nationen, die nach dem Niedergang des kommunistischen Reiches wiedererstanden sind, bedürfen dieser Worte, und auch die, die dieser Erfahrung von außen her beigewohnt haben. Die Völker und Nationen der ganzen Welt brauchen sie.“ (Die Schwelle der Hoffnung überschreiten; 1994)
Johannes Paul II. deutet damit an, dass dieses spirituelle „Fürchtet euch nicht“ nicht nur eine gesellschaftliche und politische, sondern auch eine geopolitische Dimension besitzt.
4.) Wir haben gerade die Weihnachtszeit hinter uns gelassen, zuerst westliches, dann östliches Weihnachtsfest. Vom Prinzip her feiern wir zu Weihnachten die Geburt Jesu Christi als Sohn Gottes in einem Stall in Bethlehem vor mehr als zweitausend Jahren. Dieses Ereignis läuft unter einem Motto: eine Engelsschar ruft – so die Überlieferung – Hirten, die auf einem Feld lagern, zu: „Fürchtet Euch nicht“.
Damit verbunden wird den Hirten von den Engeln Frieden zugesprochen.
Beim Weihnachtsfest geht es um einen Perspektivwechsel, darum, zu erkennen was tatsächlich ist: Das Existenzprinzip Liebe ist und bleibt mit den Menschen verbunden.
Die Narrative der Angst sind damit hinfällig.
5.) Die Welt, wie wir sie bisher gekannt haben, fliegt uns gerade um die Ohren. Die alten Ordnungen lösen sich auf. Stabile Verhältnisse scheinen nicht in Sicht zu sein.
Eine in den westlichen Ländern auf Angst dressierte Gesellschaft lebt geradezu in einem neurotischen Zwang zu kämpfen und zerstört damit seine sozialen, kulturellen und politischen Grundlagen und möglicherweise sogar seine existenziellen Fundamente.
In einem solchen Moment kann uns das „Fürchtet Euch nicht“ eine neue Perspektive eröffnen, in der Europa, so wie schon in dem kurzen Zeitfenster von 1989, auf eine neue, 2000 Jahre alte Grundlage gestellt wird: Frieden durch die Befreiung von Angst.
6.) Die Auflösung der alten Ordnung in Europa hat nicht erst gestern begonnen, sondern läuft schon eine ganze Weile, zum Beispiel greifbar geworden an dem Umsturz 2014 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg in Zentraleuropa.
Der Westen hat den Fehler gemacht, Russland direkt in diesen Konflikt hineinzuziehen und ihm damit eine größere Rolle zu spielen ermöglicht, als es ohnehin der Fall gewesen wäre.
Russland wird bei der Neuordnung Europas eine gewichtige Rolle spielen.
7.) Eine friedliche und erfolgreiche Neugestaltung unseres Kontinents wird nur dann auf Dauer eine Chance haben, wenn es auf der Grundlage eines „Fürchtet Euch nicht“ erfolgen kann.
Russland verfügt nicht nur über Bodenschätze, sondern nach wie vor über soviel spirituelle Reserven (nicht nur christliche), dass davon ein bedeutender Impuls für den Kontinent ausgehen kann. Und: diese spirituellen Reserven stehen nicht auf den Sanktionslisten der EU!
Der westliche Teil des Kontinents hat sich im Dezember mit der Wiedereröffnung von Notre Dame seiner christlichen Grundlagen erinnert. Von dort ist es (auch zeitlich) nur mehr ein Schritt, zur Weihnachtsbotschaft und ihrem „Fürchtet Euch nicht“.
Wenn sich Russland und das westliche Europa auf dieser Basis treffen, wird das ungeahnte Entwicklungsperspektiven eröffnen.
COMMENTS
1.) Die Frage, ob das „Abfeuern von Raketen auf Russland und, an die reinigende Kraft eines Atomkrieges glauben, Liebe oder Angst (Aggression) ist“, lässt der Autor offen, von Feindesliebe ganz zu schweigen.
2.) Behauptet er, die Sanierung von Notre Dame, zu deren Feier Russland nicht eingeladen war, symbolisiere „das christliche Europa“, das spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg untergegangene (christliche) Abendland.
3.) Erklärt er, der polnische Papst Johannes Paul II. habe mit seinem Aufruf „Fürchtet Euch nicht“ zu „dem Fall des eisernen Vorhanges“ beigetragen, obwohl dieser durch die NATO nur nach Osten verschoben wurde.
Wenn sich das christliche Russland und das untergegangene (christliche) Abendland auf dieser Basis treffen, wonach es nicht aussieht, würde das tatsächlich „ungeahnte Entwicklungsperspektiven eröffnen“.