WAS DENKT PUTIN?

WAS DENKT PUTIN?

Es gibt zwei schreckliche Krankheiten in Russland: „Hirniger Patriotismus“ und „Hirniger Liberalismus“. Die Träger dieser Viren kommunizieren kaum miteinander und ziehen es vor, in verschiedene Kliniken zu gehen. Obwohl sie, um ehrlich zu sein, mit den gleichen Medikamenten behandelt werden sollten. So scherzen die russischen Intellektuellen heute. Obwohl ja gesagt werden muss, dass die meisten Intellektuellen ebenfalls infiziert sind, aber sie sehen das selbst nicht so.

Es wird jetzt aber zunehmend über die Verbreitung einer dritten Krankheit namens „Anarchismus“ gesprochen. Anhänger des berühmten russischen Anarchisten Peter Kropotkin sind dabei im Allgemeinen allerdings sehr wenige. Nicht wenige Leute, die sich hinter dem Begriff „Anarchisnus“ verstecken, wollen einfach nur den Zusammenbruch des eigenen Staates. Ein klassischer Anhänger Kropotkins zu sein, ist ja schwierig. Schließlich war Pjotr Alexejewitsch ein bedeutender Wissenschaftler und Geograph, ein Reisender, ein Entdecker Sibiriens und des Fernen Ostens, und er brachte seinem Land viel Nützliches. Sein Ziel war der ein „staatenloser Kommunismus“ – ein freier und selbstbestimmter Zusammenschluss von Gemeinschaften ohne Vorgesetzte, war eine kollektive Verteilung von Ressourcen in bewusster kollektiver Aktivität. Aber den pseudo-Anarchisten von heute geht es, wie ich es sehe, überhaupt nicht um irgendwelche Aktivität, sondern um gewöhnliche Zerstörung.

Warum habe ich die Anarchisten von heute erwähnt? Weil die Streitigkeiten über die von Putin vorgeschlagenen Verfassungsänderungen andauern.  Dabei geht es nicht einmal um rechtliche Nuancen. Der Punkt ist, dass jeder diese Vorschläge aus Sicht seiner eigenen Werte wahrnimmt: Patrioten wollen einen starken Staat, den Vorrang der staatlichen Interessen vor den Interessen des Einzelnen. Die Liberalen glauben umgekehrt, dass die Interessen des Einzelnen über allem stehen, auch über den Gesetzen, was das Land nicht zur Anarchie, aber in echtes Chaos und in Desintegration  bringen würde. Naja, und die primitivsten Aussagen laufen darauf hinaus, dass Putin erstens Geld wolle und zweitens versuche, für immer an der Macht zu bleiben. Diese Leute gehen zu Kundgebungen und versuchen, alle davon zu überzeugen, dass Putin ein Dieb sei.

In meinen Gesprächen mit Liberalen habe ich mehrmals eine einfache Frage gestellt: War der berühmte Reformer der 90er Jahre, Jegor Gaidar zum Beispiel ein Dieb? Alle antworten, nein, war er nicht. Aber wieso nicht? – darauf gibt es keine Antwort. Obwohl die Antwort einfach ist: Für Gaidar stand die Idee an erster Stelle. Er war Verfechter der Idee, den sowjetischen Staat zu zerstören und die Wirtschaft mit allen Mitteln, auch den härtesten, in einen Markt zu verwandeln.  Und das hat er getan. Als großer Reformer in der Geschichte in Erinnerung zu bleiben, ist wertvoller als jedes Geld. Auch Lenin dachte nicht an Geld. Er dachte über die Weltrevolution nach. Und woran denkt Putin?

Russland ist ein sehr komplexes, vielschichtiges Land, in dem etwa 180 Völker leben. Fast alle sind Ureinwohner und wohnen auf ihrem historischen Territorium. Die Gefahr der Desintegration ist also immer aktuell. Das haben wir auch im vergangenen XX. Jahrhundert immer wieder erlebt. Der Weltkrieg und die Schwäche Kaiser Nikolaus II. führten 1917 nicht nur zum Bürgerkrieg, sondern auch zur fast vollständigen Zerstörung des Staates. Atomisierung des Landes. Danach wurde der Staat durch die harten diktatorischen Methoden Lenins und Stalins wiederhergestellt. Im Jahr 1991 wiederholte sich die Geschichte. Die Degradierung des offiziellen totalitären Staates und die Schwäche seines Führers Gorbatschow führten erneut zur Auflösung, die ein Jahrzehnt lang andauerte. Als Boris Jelzin an die Macht kam, verlor das Land eine große Zahl russischer Heimatgebiete und Städte, wurden Kriege am Rande des Landes geführt, die Zehntausende von Menschenleben forderten.  Zwanzig Millionen Russen wurden Ausländer, obwohl sie da lebten, wo sie zuhause waren.  Gar nicht davon zu sprechen, dass Russland faktisch vom westlichen Kapital kolonisiert wurde.

Worüber denkt Putin also nach? Es ist der Putin, der an die Macht kam, voller liberaler Ideen und in der Hoffnung, dass Russland unter den westlichen Zivilisationen gleichberechtigt in der Welt sein könnte. Aber sehr bald stellte sich heraus, dass Russland nicht gleichberechtigt sein würde, einfach weil seine  „westlichen Partner“ es nicht so sehen, Russland aber nicht klein sein und den Interessen anderer gehorchen kann. Das ist nicht Russlands Geschichte, nicht  seine Traditionen, nicht  seine Mentalität. Folglich stand Putin vor der Aufgabe, nicht nur die Staatlichkeit in vollem Umfang wiederherzustellen, sondern auch Russland wieder stark und unabhängig zu machen. Andernfalls könnte es nicht existieren.

Aus meiner subjektiven Sicht versucht Putin heute, mit Hilfe der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen schmerzlos oder fast schmerzlos einen Weg zwischen Scylla und Charybdis zu finden. Mit anderen Worten, die Interessen des Einzelnen mit denen des Staates zu verbinden. Damit das von ihm geschaffene System auch nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt funktioniert. Damit sich die traditionelle russische Geschichte nicht wiederholt, in der jeder neue Herrscher den vorherigen widerlegt und von vorne anfängt.

Ob es gelingt oder nicht, darüber will ich nicht spekulieren. Aber ich habe keine Zweifel, dass auch Putin ein Mann der Ideen ist.

Jefim Bershin

Übersetzung: Kai Ehlers

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