Wiedergelesen III: „Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können“ – Die Aktualität von Günther AndersGünther Anders

Wiedergelesen III: „Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können“ – Die Aktualität von Günther Anders

[von Leo Ensel] (Anmerkung der Redaktion): Vieles in der heutigen Konfrontation zwischen dem Westen und Russland und dem neuen Wettrüsten erinnert dramatisch an die Zeit des (ersten) Kalten Krieges. Bereits damals erschienen Bücher zur atomaren Situation, zur Psychologie des Friedens und zu einer Technik, die uns Menschen immer rasanter über den Kopf wächst, die immer noch ‚Klassiker‘ sind und die zu lesen sich auch heute lohnt. Das Rad muss durchaus nicht zum hundertsten Male neu erfunden werden!

Unter der Rubrik „Wiedergelesen“ veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen Besprechungen von Büchern, die jetzt wieder brandaktuell sind. Heute geht es um das Werk des luzidesten Philosophen des Atomzeitalters, Günther Anders (1902-1992).

Hiroshima als Weltzustand

„Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatage, hat ein neues Zeitalter begonnen. Das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze in ein Hiroshima verwandeln können. Seit diesem Tage sind wir modo negativo allmächtig geworden. Aber da wir in jedem Augenblick ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig. Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, dieses Zeitalter ist das letzte: Denn seine differentia specifica: die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst.“

Diese Sätze stammen aus den – sehr zu Unrecht in Vergessenheit geratenen – „Thesen zum Atomzeitalter“ des Philosophen Günther Anders. Sie sind genau 65 Jahre alt. Sätze, wie in Stein gemeißelt für die allernächste Zukunft, die uns noch bemessen ist.

Wer sie sich genauer ansieht, der versteht sofort: Hier haben wir es mit einem äußerst scharfsinnigen dialektischen Denker zu tun, der zudem in der Lage war, nein: alles dafür tat, seine Gedanken, seine intellektuellen Funde so knapp, so klar und so präzise, aber auch so verständlich wie möglich auf den Punkt zu bringen. Dass diese sechseinhalb Jahrzehnte alten Reflexionen heute wieder beklemmend aktuell sind, ist allerdings nicht nur dem messerscharfen Verstand ihres Autors, sondern zugleich der katastrophalen Weltlage geschuldet, in der wir uns nun über 30 Jahre nach der wirklichen Zeitenwende, dem märchenhaften Ende des (ersten) Kalten Krieges, bei dem damals kein einziger Schuss fiel, wiederfinden.

Der ‚bekannteste unbekannte Philosoph‘

Günther Anders, 1902 unter dem Namen Günther Stern als Sohn des bedeutenden Persönlichkeitspsychologen William Stern in Breslau geboren, war ein Denker vom intellektuellen Format eines Theodor W. Adorno oder Ernst Bloch – Philosophenkollegen, mit denen er über Jahrzehnte in (selten spannungsfreiem) Kontakt stand. Er studierte bei Ernst Cassirer, Martin Heidegger – von dem er sich schnell distanzierte, um sich ein Leben lang an ihm abzuarbeiten – und Edmund Husserl, bei dem er 1923 an der Universität Freiburg promovierte. Zeitweise mit Hannah Arendt verheiratet, floh Anders 1933 vor den Nazis; zuerst nach Paris, später, 1936, in die USA, wo er sich als Emigrant mit vielen ‚odd jobs‘ durchschlug. In den Jahren seines Exils, aber auch später in seiner zweiten Lebenshälfte in Wien notierte der „Gelegenheitsphilosoph“ – als den Anders sich selbst (nicht etwa aus Bescheidenheit, sondern selbstbewusst im Anschluss an den „Gelegenheitsdichter“ Goethe) bezeichnete – seine zahllosen Einfälle in philosophische Tagebücher, aus denen nach seiner Rückkehr nach Europa Anfang der Fünziger Jahre unter Anderem sein Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ (Band I und II) entstand. Eine akademische Karriere hat Anders, um als Philosoph und Schriftsteller unabhängig zu bleiben, stets abgelehnt – mit der Folge, dass eine intensivere wissenschaftliche Rezeption und Diskussion des vielschichtigen Gesamtwerks dieses ‚bekanntesten unbekannten Philosophen‘ erst vergleichsweise spät, Ende der Achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, kurz vor Anders‘ Tod einsetzte.

Eine Philosophie der Technik

Anders‘ Gesamtwerk ist, abgesehen von zahlreichen (kultur)-philosophischen Schriften, eine „Philosophie der Technik“, genauer, wie er selbst im Vorwort des zweiten Bands seiner „Antiquiertheit des Menschen“ schrieb: eine philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie. „Unter ‚Technokratie‘ verstehe ich dabei nicht die Herrschaft von Technokraten (so als wäre es eine Gruppe von Spezialisten, die heute die Politik dominierten), sondern die Tatsache, dass die Welt, in der wir heute leben, eine technische ist – was so weit geht, dass wir nicht mehr sagen dürfen, in unserer geschichtlichen Situation gebe es u.a. auch Technik, vielmehr sagen müssen: in dem ‚Technik‘ genannten Weltzustand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die Technik ist nun selbst zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir nur noch ‚mitgeschichtlich‘ sind.“

Die Veränderungen, die sowohl die Menschen als Individuen als auch die Menschheit als Ganze durch dieses Faktum durchgemacht haben und weiterhin durchmachen – genauer: die „Rückprägung der ‚menschlichen Natur‘“ durch die von ihm selbst geschaffenen technischen Geräte –, war in tausend Variationen das Lebensthema von Günther Anders. Und aus dieser Perspektive erscheint auch die Analyse der atomaren Situation, für die Anders zu recht berühmt geworden ist und die man heute mit seinem Namen als erstes verbindet, eher als ein Spezifikum dieses „‚Technik‘ genannten Weltzustands“.

„Wir sind größer und kleiner als wir selbst“

„Zu groß“, „Apokalypseblindheit“, das „Überschwellige“, „wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können“, „wir sind größer und kleiner als wir selbst“, die „Antiquiertheit des Menschen“ – immer wieder und aus zahllosen Blickwinkeln hat Anders versucht, seine zentrale Diagnose des heutigen Menschen vor dem Hintergrund des von diesem selbst geschaffenen und ihm, wie weiland Goethes „Zauberlehrling“, rasant über den Kopf wachsenden Technologieuniversums – und damit auch die Wurzel unserer möglichen, nein: wahrscheinlichen Selbstauslöschung – auf den Punkt zu bringen: das durch die Entwicklung der menschgemachten Technik immer weitere Auseinanderklaffen der menschlichen Vermögen.

Günther Anders 1956: Betrauern können wir einen geliebten Toten. Vorstellen können wir uns vielleicht zehn Tote. Maximal. Umbringen können wir mit den heutigen Mitteln Hunderttausende auf einen Streich. Vor dem Gedanken der Apokalypse schließlich streikt die Seele! Der Gedanke bleibt nur ein Wort.“

Mit anderen Worten: Als Herstellende – genauer: als ‚Hersteller der Zerstörung‘, sprich: ‚Destructores‘ – haben wir göttliche Allmacht erlangt, als Vorstellende sind wir Zwerge. Oder (alles, wie gesagt, Variationen desselben Grundgedankens): Wir kommen unserer ‚negativen Allmacht‘ nicht mehr hinterher; wir sind größer und kleiner als wir selbst; wir (besser kann man es nicht formulieren) können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können! In diesem Sinne – und völlig konträr zu der Gottvater um Vergebung für seine Häscher flehenden Bitte des sterbenden Jesus am Kreuz – „wissen wir nicht, was wir tun“.

Makabre Abschaffung der Feindschaft

In diesem, wie er es nannte, „prometheischen Gefälle“ – und nicht etwa in einer anthropologisch fundierten ‚Bösartigheit des Menschen‘ – sah Günther Anders die Wurzel unseres möglichen Unterganges. ‚Anders formuliert‘: Wir heutigen Menschen sind nicht etwa boshafter als unsere wahrhaftig nicht immer friedlichen Vorfahren. Vielmehr haben die von uns selbst fabrizierten Untergangsgeräte eine so abgrundtief böse Grundsituation geschaffen, dass für das schlimmstmögliche Verbrechen – die Selbstausrottung der Menschheit, nein: die Vernichtung allen Lebens auf diesem Planeten, kurz: für den „Globozid“ – boshafte Menschen gar nicht mehr nötig sind!

Günther Anders im Jahre 1959: „Der eventuelle Atomkrieg wird der hassloseste Krieg sein, der je geführt worden ist: Der Schlagende wird seinen Feind deshalb nicht hassen, weil er ihn nicht sehen wird; der Getroffene den Schlagenden deshalb nicht, weil kein Schläger auffindbar sein wird. Es gibt nichts Makabreres als diese (mit positiver Menschenliebe überhaupt nicht verwandte) Friedlichkeit.“ Anders nannte dies die „makabre Abschaffung der Feindschaft“.

Arbeitsteilung ist Gewissensteilung

Feindselig, gar ‚boshaft‘, müssen auch wir Hersteller der finalen Untergangsgeräte gar nicht sein, denn wir alle stellen ja ‚nur‘ ein Geräteteil für ein Geräteteil für ein Geräteteil her … – die Iteration tendiert ad Infinitum –, sprich: Wir sind als Zahnrädchen in ein gigantisches Getriebe eingebunden, dessen Endeffekt wir nicht überschauen – gar nicht überschauen wollen! Wir handeln im strengen Sinne also nicht, wir machen – frei nach dem Motto „Was ich nicht kann, geht mich nichts an“ – blind für das Endziel einfach mit. Gewissenhaftigkeit – sprich: die korrekte Erledigung der uns als Zahnrädchen übertragenen Aufgaben – ersetzt Gewissen, nämlich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Endziel der uns einbindenden Maschinerie überhaupt ethisch verantwortbar ist.

Sollte zum Schluss doch etwas schief gelaufen sein, waren es alle und damit – keiner! Es gilt also das paradoxe Gesetz: Je mehr Menschen involviert sind, desto leichter kann das Inferno eintreten. Arbeitsteilung befördert das Inferno.

„Stelle dir vor!“ – oder: Verantwortung im Atomzeitalter

Kommen wir nochmal zurück zur berühmten Bitte Jesu am Kreuz. Dass wir nicht wissen, gar nicht wissen wollen, was wir tun, das kann für uns Heutige nicht etwa, wie damals auf Golgotha, als Entschuldigung für unser ‚Handeln‘ gelten – umgekehrt besteht nach Günther Anders genau darin unsere heutige Schuld!

Seine Konsequenz für den „‚Technik‘ genannten Weltzustand“: Wenn die Wirklichkeit so phantastisch, so über-sinnlich geworden ist, dass sie mit unseren Sinnen nicht mehr zu erfassen ist, dann bleibt uns nur noch eine Möglichkeit, sie vielleicht doch noch ansatzweise einzuholen – die Phantasie! Entsprechend lautet der heute fällige kategorische Imperativ laut Günther Anders: „Stelle dir vor! Der Endeffekt deines (Mit)-Tuns kann – Massenmord sein!“

Warum die Gedanken von Günther Anders heute wieder erschreckend aktuell sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Und eine Wiederbeschäftigung mit seinem Gesamtwerk lohnt sich nicht etwa nur, sie ist zwingend, um die aktuelle Situation überhaupt verstehen zu können. Lassen wir daher dem großen Philosophen des Atomzeitalters, Marx paraphrasierend, das letzte Wort:

„Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns.“

(Dem interessierten Anfänger in Sachen Günther Anders sei als Erstes der kleine Band „Die atomare Drohung“ empfohlen, der eine Reihe wichtiger Schriften des Autors zur atomaren Situation – u.a. die hier mehrfach zitierten „Thesen zum Atomzeitalter“ – enthält. Wer sich mit dem nach wie vor sehr lesenswerten Hauptwerk, der „Antiquiertheit des Menschen“ intensiver beschäftigen will, sollte nicht mit dem ersten Band, sondern mit dem leichter zugänglichen Band II beginnen. Der Essay „Die Bombe oder die Wurzeln unserer Apokalypseblindheit“ aus dem ersten Band ist des ungeachtet nach wie vor ein unumgänglicher Standardtext. – Alle Werke von Günther Anders sind im Verlag C.H. Beck erschienen.)

Erstveröffentlichung globalbridge.ch

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