Ahnungslos in den KampfFasbender, Dr Thomas © russland.news

Ahnungslos in den Kampf

Schwarz, dunkelschwarz, immer schwärzer ballen sich die Bedrohungsszenarien seitens Russlands am Frühlingshimmel. Nervengiftanschläge in England, Giftgasangriffe durch Putin-Klienten in Syrien. Der Russe auf der Krim, in der Ostukraine, an der baltischen Front, in Syrien. Gibt es etwas Böses, das ihm nicht zuzutrauen ist?

Der Westen steigert den Druck. Nach dem Skripal-Anschlag werden über 150 russische Diplomaten ausgewiesen. Der britische Außenminister bezichtigt Putin persönlich, die Tat beauftragt zu haben. Der Druck auf Präsident Trump, sich von Russland auch durch Taten zu distanzieren, wächst mit jedem Tag. Gefühlte drei Thinktank-Artikel je Woche erinnern daran, dass nur eine harte westliche Hand die Sicherheit der Polen und Balten garantiert. Die EU warnt: Das Straßennetz muss dringend überholt werden; Panzer können nicht schnell genug nach Osten vorrücken und eine russische Invasion aufhalten. Die USA, durch keinen konkreten Anlass motiviert, sanktionieren weitere 38 russische Geschäftsleute, Regierungsbeamte und Unternehmen. Alles innerhalb weniger Wochen.

Rückblende 2002. Bereits im April jenes Jahres, unmittelbar nach dem Abschluss der Anti-Taliban-Offensive in Afghanistan, hatte das Pentagon den Einmarsch im Irak beschlossen. Dennoch taten die USA so, als falle die Entscheidung erst nach dem Zustandekommen einer hinreichenden Koalition der Hilfswilligen. Monatelang geisterten Satellitenaufnahmen mit den Chemiegasfabriken in der Wüste und mit den Tanklastern, die Senfgas, Sarin und Tabun beförderten, durch die Medien. Dass alles gelogen war und der Irak bereits zehn Jahre lang keine Chemiewaffen mehr besaß, wussten außerhalb Washingtons nur Tony Blair und das britische MI6. Immerhin zwei europäische Führer waren schlau genug, an dem Lügenkonstrukt zu zweifeln: Gerhard Schröder und Jacques Chirac. Der Zorn aus Washington verfolgt beide bis heute.

Auffallend in der historischen Parallele sind die gegen den Gegner vorgebrachten Argumente. Für den Irak war der Besitz von Chemiewaffen 2003, viele Jahre nach dem Krieg gegen den Iran, nicht mehr von Interesse. Entsprechend lautete das Argument: Der Irak besitzt Massenvernichtungswaffen, weil ihm dies aufgrund des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen im Krieg gegen den Iran vor 1988 zuzutrauen ist. Der Plausibilitätsschluss auf Basis eines nachvollziehbaren Interesses wird durch einen Analogieschluss ersetzt:  A hat Ähnlichkeit mit B; B hat die Eigenschaft C; also hat auch A die Eigenschaft C.

Auch gegen Russland wird ausschließlich der Analogieschluss ins Feld geführt. Plausibilitäten spielen gar keine Rolle mehr. Weil der Kreml die Krim annektiert und die Ostukraine okkupiert hat, traut man ihm auch den Einmarsch ins Baltikum, nach Polen, Rumänien, in den Kaukasus zu. Weil der Kreml in Syrien die Freunde des Westens bekämpft, ist er an allen Fronten eine Gefahr. Weil der Kreml die modernen westlichen Werte nicht anerkennt, kann man ihm auch ohne Beweise Giftmorde, Unterwanderungen, Destabilisierungen und allfällige Hackereien anlasten.

Einmal unterstellt, es gebe den Beschluss, Russland durch ein Stakkato immer heftigerer Sanktionen so lange in die Ecke zu drängen, bis irgendein letzter Schritt eine destabilisierende Reaktion auslöst – was könnte das Ziel sein? Die in zwei Monaten beginnende Fußball-WM doch noch zu torpedieren? Oder, weit darüber hinaus, mit dem „System Putin“ lieber heute als morgen Schluss zu machen aus der Sorge heraus, es könnte in den kommenden sechs Jahren eher noch weiter erstarken?

In der Online-Ausgabe des Magazins „The Eureopean“ beginnt ein Beitrag des Kiew-Beraters Andreas Umland mit drei Sätzen, deren Weltfremdheit ein solches Ausmaß besitzt, dass es Filterblasen geben muss, in denen man genau an so etwas glaubt:

Nach dem unweigerlichen Zusammenbruch des so genannten „Putinsystems“ wird Russland nach einer Wiederaufnahme seines vorputinschen Kurses engere Beziehungen zum Westen anstreben. Dann wird sich eine neue Chance ergeben, eine schrittweise Integration Russlands in westliche Strukturen ökonomischer Zusammenarbeit und internationaler Sicherheit zu beginnen. Die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher Stagnation und fundamentaler Transition an der Spitze der Moskauer Machtpyramide machen die Ablösung des jetzigen charismatischen Führers Russlands durch eine ausreichend akzeptable, starke und perspektivreiche Alternativfigur (ohne sinnvolle demokratische Wahlen) zu einer schwierigen Aufgabe.

Der folgende Text liest sich wie die argumentative Vorlage für eine neue Runde Regime-Change-Strategie inklusive EU-Assoziierung und NATO-Beitrittsperspektive. Schließlich weiß der Autor genau: „Einen solchen nicht einfachen Weg einzuschlagen und konsequent zu gehen, wird es der Ermunterung, Motivation und Unterstützung von außen bedürfen.“ Ermunterung, Motivation und Unterstützung. So kann man es auch nennen. Es sind die feuchten Träume spätgeborener Großeuropäer: Moskau an der warmen Brust von Mutter Washington. Der russische Bär ruhiggestellt und gezähmt im westlichen Lager. Wenn Derartiges in Kiewer Korridoren phantasiert wird, dann auch in Washington. Und das sollte uns beunruhigen.

Die Westeuropäer, auch wenn sie sich noch so transatlantisch geben, verfügen immer noch über genügend Realismus, den Fuß im Zweifel nicht über den Rubikon zu setzen. Der große Nachbar ist einfach zu nah. Aus der Pentagon-Perspektive sieht das schon anders aus. Dort dreht man an den Stellschrauben der Supermacht, George Soros finanziert die geistigen Stormtroopers, die EU exekutiert die Etappe, und das Ding fliegt.

Vor allem fliegt es den Europäern um die Ohren. Aber das ist deren Problem. Vorderhand geht es darum, Russland als Störenfried auszuschalten. Genau an dem Punkt setzt die Logik an, die zur Eskalation führen wird.

Die USA suchen den Rückzug aus dem westlichen Eurasien; sie müssen ihre Ressourcen bündeln, während der globale Schwerpunkt zum Pazifik wandert. Sie haben gar keine Wahl. Doch wer folgt ihnen nach und kümmert sich um die verlassenen Räume? Europa ist schwach; es bewahrt im besten Fall sich selbst vor dem Auseinanderbrechen. Seitens China drohen weder Gefahr noch Hoffnung. Bleibt Russland, und Russland ist anders. Es hat keinen angestammten Platz, ist überall und nirgends, heute im Orient, morgen in Osteuropa, übermorgen am Pazifik. Es verfolgt eigene Designs, ist unvorhersagbar, zudem ein ewiger Rivale um die Gunst vieler Mittel- und Osteuropäer.

Die Beschneidung der russischen Einflussmöglichkeiten wird zur notwendigen geostrategischen Bedingung des „Pivot to Asia“ der US-Politik.

Blättern wir in George Friedmans geostrategischer Projektion Die nächsten 100 Jahre (2009): „Die Vereinigten Staaten brauchen keinen Krieg zu gewinnen. Sie müssen nur die andere Seite oder Koalition aus dem Gleichgewicht bringen und sie daran hindern, zu einer Bedrohung zu werden.“ Den „russischen Kollaps“ prognostiziert Friedman für die frühen 2020er. Und der werde „Eurasien als Ganzes ins Chaos reißen“.

Den USA kann’s recht sein.

Das Rätsel ist, warum deutsche Politiker, Politologen und Journalisten bei dieser Höllenfahrt ins Chaos mit Inbrunst als Heizer in der Lokomotive sitzen. Ist es, weil wir Deutsche, wenn es um Russland ging, noch jedes Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben? Oder weil wir, pathologisch auf das Über-Ich USA fixiert, den Russen sowieso alles Böse zutrauen? Das erleichtert vieles. Über einen Feind, dem man alles zutraut, braucht man eigentlich gar nichts zu wissen. Gegen den zieht man auch ahnungslos in den Kampf.

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